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Papa al­les, al­les – die schlech­ten Men­schen …

      Ach – die Angst – die Angst!

      Aga­the läuft in ih­rem Zim­mer her­um – im­mer hin und her – hin und her. Sie ist al­lein.

      Eu­ge­nie hat für eine Stun­de von ihr Ab­schied ge­nom­men, sie soll sich aufs Bett le­gen und ru­hen un­ter­des­sen. Eu­ge­nie fährt mit dem Dok­tor spa­zie­ren in sei­nem of­fe­nen Wa­gen, den er selbst kut­schiert. Wie sie da oben thron­te – den schel­misch-lau­ern­den Zug um den Mund, das schwar­ze Hüt­chen auf dem blon­den Haar – aus al­len Fens­tern blick­te man ihr nach. Mit ihm fah­ren war die höchs­te Ehre, die der Dok­tor zu ver­ge­ben hat­te. Auf die Stra­ße ka­men die Da­men ge­lau­fen und mach­ten nei­di­sche Glos­sen. Aber Frau Eu­ge­nie ver­gibt sich nichts. Zwi­schen ihr und dem Dok­tor sitzt Wölf­chen in sei­ner stram­men, mi­li­tä­ri­schen Hal­tung mit der klei­nen Sol­da­ten­müt­ze.

      Und tri­um­phie­rend hat­te sie rings um­her ge­grüßt und ge­winkt, wäh­rend der Dok­tor an den Zü­geln zog und die Pfer­de lus­tig aus­grei­fen ließ.

      Die Heuch­le­rin … die Heuch­le­rin Aga­the lach­te in der Ein­sam­keit, ball­te die Hän­de und schüt­tel­te sie dro­hend.

      Mich hat man nicht mit­ge­nom­men, vor mir fürch­ten sie sich wohl – aber der klei­ne Jun­ge, was küm­mern sie sich um den?

      Wenn sie drau­ßen sind, wo kei­ner sie mehr sieht, da küs­sen sie sich – der Dok­tor und – Eu­ge­nie ha ha ha – und Wal­ter küsst sie auch und Wölf­chen – alle küs­sen sich. Mar­tin und die Kell­ne­rin und der Com­mis – alle, alle … pfui! Wa­rum kom­men sie zu ihr ins Zim­mer – das ist so bos­haft.

      Sie hält sich die Au­gen zu. Sie darf das nicht se­hen. Sie ist doch ein an­stän­di­ges Mäd­chen.

      Nein – nein – nicht mit Fin­gern auf mich zei­gen! Habt doch Er­bar­men. Schont doch we­nigs­tens mei­nen lie­ben Papa …

      Als Eu­ge­nie heim­kam, sah sie die Ja­lou­si­en bei ih­rer Schwä­ge­rin noch ge­schlos­sen. Aus der fri­schen, hel­len Herbst­luft trat sie fröh­lich er­regt in das halb­dunkle Zim­mer.

      »– Mäd­chen – was ist Dir?«

      In der Ecke zwi­schen der Wand und dem Ofen stand ein ge­stick­ter Lehn­stuhl. Hier kau­er­te Aga­the, die Knie hoch­ge­zo­gen, die spit­zen Schul­tern vor­ge­streckt, die Ell­bo­gen an sich ge­presst – das gel­be, hohl­äu­gi­ge Ge­sicht mit ei­nem un­be­greif­li­chen Aus­druck von Ent­set­zen vor sich ins Lee­re star­rend.

      »Mein Him­mel – fehlt Dir et­was?«

      Eu­ge­nie er­griff sie am Arm und schüt­tel­te sie.

      »Du siehst ja aus, dass man sich fürch­ten könn­te.«

      Aga­the starr­te ihr schwei­gend, dro­hend in die Au­gen.

      »Höre, Du«, rief die jun­ge Frau Heid­ling, »ich schi­cke zum Dok­tor …«

      Ein gel­len­der Schrei – ein wil­der Lärm und der Ruf: Zu Hil­fe! Hil­fe …!

      Die Zim­mer­nach­barn, Kell­ner und Wir­tin stürz­ten in wir­rem Durchein­an­der her­bei.

      Aga­the hat­te ihre Schwä­ge­rin zu Bo­den ge­wor­fen, knie­te auf ihr und such­te sie zu wür­gen. Sie lach­te, sie schrie und stieß irre Wor­te aus.

      Mit bru­ta­ler Ge­walt muss­te die To­ben­de ge­hal­ten – der zar­te Mäd­chen­kör­per ge­bän­digt und ge­fes­selt wer­den.

      *

      Bis tief in die Nacht hin­ein sa­ßen und stan­den vor dem Kur­haus die Da­men zu­sam­men und be­spra­chen das Ge­sche­he­ne.

      Ein jun­ges Mäd­chen hat­te den Ver­stand ver­lo­ren – es war nichts gar so Sel­te­nes in dem Ba­de­or­te. Man zähl­te die Fäl­le der leg­ten Jah­re. Und man flüs­ter­te schau­dernd und zeig­te sich die­se und jene, die wohl auch nicht weit da­von wa­ren.

      Teil­neh­mend dräng­te man sich um Eu­ge­nie. Sie trug einen Tülls­hawl über ei­ner ro­ten Schram­me am Hal­se und gab mit halb­lau­ter, mit­lei­dig-erns­ter Stim­me Aus­kunft.

      Zwei Wär­te­rin­nen hü­te­ten die Kran­ke. Es durf­te nie­mand zu ihr. Mor­gen soll­te sie trans­por­tiert wer­den.

      Nein – man wuss­te kei­nen Grund – ab­so­lut kei­nen!

      Eine un­glück­li­che Lie­be? Be­wah­re – in frü­he­ren Jah­ren – aber Aga­the war im­mer ein so ver­stän­di­ges Mäd­chen ge­we­sen … Gott – prü­de, zu­rück­hal­tend konn­te man sie eher nen­nen. Nicht wahr, Lis­beth? – Und sie bei­de hat­ten sich im­mer so gut ge­stan­den – sie wa­ren ja Freun­din­nen von Kind­heit her …

      Zu schau­er­lich – zu ent­setz­lich … flüs­ter­te sie Lis­beth Wend­ha­gen zu – die arme Aga­the be­schul­dig­te sich, Din­ge ge­tan zu ha­ben – vor dem Dok­tor und den Kran­ken­wär­te­rin­nen – es war ja ganz un­sin­nig – kein Wort da­von wahr! Sie hat­te ja nicht die kleins­te Back­fisch­lieb­schaft ge­habt … Und sie nann­te sich mit Na­men – brauch­te Aus­drücke, als ob ein bö­ser Geist aus ihr re­de­te. Eu­ge­nie be­griff es nicht, wo sie die ab­scheu­li­chen Wor­te nur ge­hört ha­ben konn­te.

      Je­ner Früh­lings­abend un­ter dem al­ten Ta­xus­baum, wo sie der klei­nen Spiel­ge­fähr­tin die von den Zi­gar­ren­ar­bei­tern und Dienst­bo­ten er­lausch­ten, un­rei­nen Ge­heim­nis­se ins Ohr ge­flüs­tert – den hat­te Frau Lieu­ten­ant Heid­ling längst ver­ges­sen.

      *

      Mit Bä­dern und Schlaf­mit­teln, mit Elek­tri­zi­tät und Mas­sa­ge, Hyp­no­se und Sug­ge­s­ti­on brach­te man Aga­the im Lau­fe von zwei Jah­ren in einen Zu­stand, in dem sie aus der Ab­ge­schie­den­heit meh­re­rer Sa­na­to­ri­en wie­der un­ter der mensch­li­chen Ge­sell­schaft er­schei­nen konn­te, ohne un­lieb­sa­mes Auf­se­hen zu er­re­gen.

      Sie wohnt bei ih­rem Va­ter und hat so­viel da­mit zu tun, die Vor­schrif­ten, wel­che die Ärz­te ihr mit­ge­ge­ben ha­ben, ge­treu­lich zu be­fol­gen, dass ihre Tage und ihre Ge­dan­ken so ziem­lich aus­ge­füllt sind. Re­gel­mä­ßig um drei Uhr sieht man sie ne­ben ih­rem Va­ter spa­zie­ren ge­hen, ein­fach und gut ge­klei­det – von wei­tem kann man sie im­mer noch für ein jun­ges Mäd­chen hal­ten. Weil die Ärz­te dem Re­gie­rungs­rat ge­sagt ha­ben, sei­ne Toch­ter brau­che nur ein we­nig geis­ti­ge An­re­gung, er­zählt er ihr, was er des Mor­gens in der Zei­tung ge­le­sen habe. Nach dem Kaf­fee be­gibt sich Papa ins Le­se­mu­se­um, abends spielt er Whist mit ein paar al­ten Her­ren, und Aga­the legt Pa­ti­ence.

      So le­ben sie still ne­ben­ein­an­der hin – vol­ler Rück­sich­ten und in­ner­lich sich fremd.

      Aga­thes Ge­dächt­nis hat ge­lit­ten – in ih­rer Ver­gan­gen­heit sind Ab­schnit­te, auf wel­che sie sich nicht mehr be­sin­nen kann. Ei­nem län­ge­ren Ge­spräch zu fol­gen, ist ihr nicht mög­lich. Sie hat sich eine Samm­lung von Hä­kel­mus­tern an­ge­legt und freut sich, wenn sie ein neu­es hin­zu­fü­gen kann. Die Zu­kunft macht ihr kei­ne Sor­ge mehr. Sie be­greift auch nicht, dass so vie­les sie frü­her auf­re­gen konn­te – jetzt lässt al­les, was nicht ihre Ge­sund­heit be­trifft, sie ganz gleich­gül­tig. Sie seufzt oft und ist trau­rig – zu­mal wenn die Son­ne hell scheint und die Blu­men blü­hen,

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