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Mathematik oder die Sprache.

      Benjamin kannte August HalmHalm, August, den Verfasser des Buches, ja, er liebte ihn, könnte man fast sagen, denn auch er zählte zum Lehrerkollegium von Haubinda, wo er ihn nicht nur in Musik, sondern auch in Literatur unterrichtet und in die fantastische Welt von E.T.A. HoffmannHoffmann, E.T.A. eingeführt hatte, dem er selbst merkwürdig ähnlich sah:

      Das war ein kleiner putziger Mann von unvergesslichem Ausdruck in den ernsten Augen, mit der spiegelndsten Glatze, die ich je sah und um die ein halboffener Kranz scharf geringelten, dunklen Lockenhaars stand. […] Dieser August HalmHalm, August kam in die Kapelle, um uns Geschichten von E.T.A. HoffmannHoffmann, E.T.A. vorzulesen. […] Ich weiß nicht mehr, was er las; es kommt auch nicht darauf an. […] Er kennzeichnete HoffmannsHoffmann, E.T.A. Dichtungen, seine Vorliebe für das Bizarre, Schrullige, Geisterhafte, Unerklärliche […]. Dann aber schloss er mit dem Satze, den ich bis heute nicht vergessen habe: »Wozu einer solche Geschichten schreibt, werde ich euch später einmal erzählen.«[199]

      Verhältnisse und Verwirrungen

      Nach den Klavierübungen ging Benjamin mit Dora in deren Zimmer. Es scheint, dass dabei nichts weiter geschah, als dass sie über »WynekenWyneken, Gustav, objektiven Geist und Religion« sprachen. Dora vertraute ihm an, manchmal sehr unruhig zu sein und nachts schlecht schlafen zu können, wahrscheinlich wegen ihrer unglücklichen Ehe mit PollakPollak, Max. Benjamin schrieb an BlumenthalBlumenthal, Herbert, dass sie sich in diesen Tagen »gegenseitig vieles klar gemacht« hätten.[200] Das wurde oft als der Beginn einer Liebesbeziehung gewertet. Aber »sich etwas klar zu machen« hieß in diesen Kreisen nicht zwingend: sich zu gestehen, dass man sich liebte. Es kann auch bedeutet haben, dass sie sich »Klarheit« über die Verhältnisse im Sprechsaal verschafft haben, in dem es zu dieser Zeit ziemlich hoch herging.

      Die Malerin Käthe KollwitzKollwitz, Käthe, deren Söhne PeterKollwitz, Peter und HansKollwitz, Hans ebenfalls dazugehörten, spricht in ihrem Tagebuch von »peinlichen Zusammenkünften und Aussprachen«. Jeder sei gegen jeden gewesen. Es seien viele böse Briefe hin- und hergegangen, entsetzlich »gestelzt und geschraubt«, nicht in natürlicher Sprache, sondern wie »mit Zungen« geschrieben.

      Noch kann ich nicht glauben, dass dieser Enthusiasmus vorhalten wird. Dazu ist die Ausdrucksweise zu pathetisch, etwas deklamatorisch […]. Die freideutsche Jugendbewegung muss vielleicht den Mund so voll nehmen, weil es ihr an Taten gebrechen muss. Die Freiheitskämpfer, die 48er, die Sozialdemokraten […] hatten Worte in Taten umzusetzen. Die freideutsche Jugend kann für ihr Endziel nicht viel tun, […] also hüllt sie sich in stolze Worte.[201]

      Was Benjamin über diese Spannungen hinweghalf, war seine Beziehung zu Grete RadtRadt, Grete, seiner Freundin, die er das »einzig Schöpferische« in dieser »unglaublich zerrissenen« Zeit nannte. Sie sei der »einzige Mensch«, der ihn »in der Totalität« sehe und erfasse. Hätte er sie nicht: er könne »das Zerflatternde dieser Tage kaum ertragen«.[202] Das alles spricht gegen eine gleichzeitige Beziehung zu Dora, auch wenn Benjamin emotional sehr vielseitig war und sich manchmal dabei ertappte, von drei bis vier Frauen gleichzeitig zu träumen.[203]

      Grete RadtRadt, Grete war die Schwester seines Freundes Fritz RadtRadt, Fritz, Tochter eines Sanitätsrates aus Berlin, auch sie etwas älter als er und anders als Dora sehr selbstbewusst. Im März 1914 schrieb sie im Anfang:

      Wer zum ersten Mal im akademischen Sprechsaal war, konnte keinen erfreulichen Eindruck davon empfangen. Ich will hier nicht von den mehr zufälligen und privaten Missklängen reden. Was aber die Sache bedrohte: es hatte den Schein, als wenn die Jugendbewegung unfruchtbar würde, an sich selbst erstickte […]. Sie reflektiert nur sich, indem sie über sich reflektiert. Sie wird bequem und wird Fett ansetzen. […] Man ringt nicht mehr mit der Sprache um neuen Ausdruck, man begnügt sich, Schlagwörter herauszustoßen […]. Ganz unhaltbar scheint mir vollends die Stellung des Sprechsaals zur Umwelt zu sein: man findet sich mit ihr ab, indem man sie leugnet – zwar bequem, aber doch recht, recht unjugendlich.[204]

      Damit hatte sie den Finger auf einen wunden Punkt gelegt, denn nahezu nichts, was sich außerhalb der Jugendkulturbewegung abspielte, wurde im Anfang thematisiert: weder die Demonstrationen gegen die steigenden Lebensmittelpreise, noch der Balkankrieg, der kurz davor stand, sich zu einem europäischen Krieg auszuweiten, noch die Verhaftung von Rosa LuxemburgLuxemburg, Rosa, die sich öffentlich gegen die Kriegshetze stellte, um nur wenige Beispiele zu nennen.

      Benjamin pflegte Grete RadtRadt, Grete teure Geschenke zu machen: einen »Carton Cigaretten cordon rouge, ganz lange, herrliche«, denn sie rauchte; einen japanischen Farbholzschnitt, denn sie war sehr anspruchsvoll; einen Aschenbecher; einen Schmuckkasten; schönen Korallenschmuck, den er nach eigenen Entwürfen bearbeiten ließ.[205] Er besuchte sie in München, wo sie studierte, fuhr mit ihr an den Tegernsee, ging mit ihr in die Alte Pinakothek, trank Champagner mit ihr und zog schließlich in ihre Nähe, obwohl ihm die Münchener Universität gar nicht gefiel und die Stadt erst recht nicht, weil sie ihm nicht bohème genug war.

      Ganz einfach war die Beziehung sicherlich nicht, denn auch Benjamin konnte bei aller Noblesse eine sehr herablassende Haltung gegenüber Frauen an den Tag legen. Im Juli 1913 schrieb er an Herbert BlumenthalBlumenthal, Herbert, er habe auf der Rückfahrt von Freiburg ein Fräulein Seligson im Abteil angetroffen, das »ganz unangenehm burschikos« gewesen sei. »Es ist doch Tatsache, dass nur wenige junge Mädchen mit Geist unbefangen sein können.«[206] In einem Text über die »Metaphysik der Jugend« ging er noch einen Schritt weiter und fragte sich:

      Wie kam es, dass Frauen sprachen? Denn die Sprache entseelt sie. Die Frauen empfangen keine Laute von ihr und keine Erlösung. Die Worte wehen über die Frauen hin, […] aber das Wehen ist plump und tonlos, sie werden geschwätzig. Ihr Schweigen thront aber über ihrem Reden. Die Sprache trägt die Seele der Frauen nicht, denn sie vertrauen ihr nichts […]. Die Worte fingern an ihnen herum, und irgendeine Fertigkeit antwortet ihnen geschwind. […] Die Sprache der Frauen blieb ungeschaffen. Sprechende Frauen sind von einer wahnwitzigen Sprache besessen.[207]

      Grete RadtRadt, Grete war ganz bestimmt nicht »geschwätzig«, sondern sprach und schrieb sehr gut, wie ihre spätere Dissertation über »Berliner Pflegekinder« zeigt, in der sie – inzwischen zur Nationalökonomie übergewechselt – mit der größten Sachlichkeit auf Miss- und Notstände in den Pflegefamilien hinweist und mehr Hilfe, besonders für uneheliche Mütter, fordert:

      Die Beziehung zu den Eltern, besonders aber zur Mutter, ist das erste Gemeinschaftserlebnis des Kindes. Für sein ganzes Leben wird es entscheidend sein, ob diese erste Beziehung ihm das Erlebnis der Liebe und des Vertrauens oder das der Gleichgültigkeit und des Misstrauens vermittelt. […] Unermesslich ist die seelische Einsamkeit des Kindes, das immer wieder unter andere Menschen kommt und vielleicht niemanden hat, der von Anfang an mit ihm verbunden ist. […] So verwüstend wirkt der häufige Pflegewechsel, dass ein nicht kleiner Teil von Pflegekindern als psychopathisch oder debil schließlich in eine Anstalt

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