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komme!«, rief Matthew und kletterte, so schnell er konnte, runter. Während er sich mit der einen Hand am Gestänge festhielt, streckte er die andere so weit wie möglich zu Christin hinab. »Nimm meine Hand!«, rief er. »Ich zieh dich hoch.«

      »Bist du irre?«, rief Christin zurück. »Ich lass doch nicht los!«

      »Sie hat recht, das geht so nicht«, sagte Patrick. »Wir müssen sie packen.«

      »Und wie, du Idiot?«, fragte Matthew. »Was war das überhaupt? Fühlte sich an, als würde das ganze verdammte Riesenrad aus den Angeln gehoben …«

      »Ist doch jetzt egal«, sagte Patrick. »Wir müssen Christin helfen. Schnell!« Er hangelte sich nach unten.

      »Was hast du vor?«, rief ihm Matthew nach, doch Patrick antwortete nicht. Er hatte einen Plan. Ob er funktionieren würde, wusste er nicht. Aber es war keine Zeit zum Nachdenken.

      »Halt durch«, sagte er zu Christin, als er an ihr vorbei nach unten kletterte.

      »Ich kann nicht mehr«, ächzte sie erschöpft. »Meine Hände rutschen ab.«

      »Nur noch ein paar Sekunden«, bat Patrick und hangelte sich über eine der Streben auf das Dach der Gondel darunter. Christin hing rund vier Meter über ihm. Wenn sie losließ, würde er sie auf dem ovalen Dach vermutlich nicht halten können. Aber wenn er die Luke auf der Gondeloberseite irgendwie aufbekam, konnte sie sich in die Kabine fallen lassen. Ein Sprung aus einer solchen Höhe tat wahrscheinlich weh, war aber immer noch besser als der Tod.

      Patrick zog sein Taschenmesser hervor und machte sich an den Schrauben zu schaffen.

      »Das klappt doch nie«, rief Matthew von oben und streckte seine Hand aus. »Gib mir deine Hand, Christin!«

      Aber das Mädchen war mit ihren Kräften am Ende. »Ich kann nicht mehr …«

      In diesem Augenblick vibrierte das Gestänge, als würde das London Eye von einem Riesen geschüttelt. Im selben Moment hatte Patrick zwei Schrauben gelöst. »Nur noch eine«, rief er und zögerte. Das Dach der Gondel wurde warm. Warm und weich, als würde es schmelzen. Patrick spürte, wie er mit den Füßen einsank. Gleichzeitig glaubte er, eine Art tiefes Brummen oder Summen zu hören. Doch ehe er darauf reagieren konnte, schrie Christin wie am Spieß – und dann ging alles ganz schnell.

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      Matthew rutschte vom Gestänge und riss Christin mit sich in die Tiefe. Beide zusammen prallten mit ungehemmter Wucht zu Patrick aufs Kabinendach, das wie Kaugummi nachgab und riss. Sie stürzten in die Gondel und knallten auf den Boden. Gleichzeitig zerfetzten mit peitschenden Geräuschen die langen Stahlseile, die das London Eye am Boden sicherten. Das dreieckige Haltegerüst, an dem das Riesenrad mit seiner Nabe befestigt war, begann sich langsam zu neigen und mit einem gewaltigen Krachen klatschte das London Eye in das Wasser der Themse.

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      Mind the gap«, warnte die elektronische Stimme. Aber Rebecca hatte auch gar nicht vor, mit dem Fuß in die Lücke zwischen Bahnsteig und Metrowaggon zu rutschen. Außerdem hatte sie den Warnhinweis, der in fast allen Londoner U-Bahn-Stationen bei jeder Zugeinfahrt gegeben wurde, schon so oft gehört, dass sie ihn gar nicht mehr richtig wahrnahm. Im Moment galt ihre gesamte Aufmerksamkeit der Rolltreppe am Ende des Bahnsteigs, wo ihr Bruder Jonathan auftauchen sollte – jedenfalls hatte er das versprochen, als er noch mal schnell in den Kiosk gesprintet war, um ein paar Chewing Gums abzugreifen. Rebecca war schon mal vorausgegangen und nun stand sie hier, am Bahnsteig der Station Canada Water, und wartete.

      »Mist«, fluchte sie leise. Wieso musste Joe auch ausgerechnet jetzt sein blödes Kaugummi kaufen. Hätte er doch am Flughafen machen können. Aber nein, es musste ja unbedingt hier sein. Nur Canada Water hat Frutti Di Mare, hatte er mit hochgezogenen Augenbrauen behauptet. Und was anderes kau ich nicht.

      Das war natürlich Quatsch. Jeder Kiosk in London führte diese Sorte. Der Grund, wieso Joe die Kaugummis unbedingt hier kaufen wollte, hieß Carol, hatte lange blonde Haare und war die Tochter der Kioskbesitzerin. Allerdings war sie zwei Jahre älter als Joe und würde sich allein schon deshalb niemals mit einem Dreizehnjährigen einlassen. Aber das schien Joe nicht zu interessieren. Seit er sie gesehen hatte, war sein Kaugummiverbrauch sprunghaft angestiegen. Manchmal ging er sogar mehrmals täglich in den Kiosk.

      »Stand clear of the closing doors«, verlangte die elektronische Stimme.

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      Rebecca tat das genaue Gegenteil und setzte einen Fuß in den weißblauen Wagen der East London Line. In wenigen Sekunden würden sich die orangefarbenen Türen schließen und die Tube würde abfahren, ob ihr Bruder drin war oder nicht. Wo blieb er nur so lange?

      Plötzlich tauchte Joe auf. Er schlenderte die Treppe runter, als hätte er alle Zeit der Welt.

      »Joe!«, rief Rebecca, so laut sie konnte. Ihr Bruder hob erschrocken den Kopf. Rebecca winkte hektisch, gleichzeitig kündigte das monotone Piepen neben ihr die Schließung der Türen an. Erst jetzt schien Joe zu begreifen, was da vor sich ging. Wie von der Tarantel gestochen sprintete er los und sprang in den Wagen – gerade noch rechtzeitig, bevor sich die Türen schlossen und der Zug abfuhr.

      »Was machst du denn?«, schimpfte Rebecca, als Joe sich neben ihr auf einen Sitz fallen ließen. »Wegen dir kommen wir noch zu spät zum Flughafen. Was soll Alexander denken, wenn seine beiden besten Freunde nicht da sind, wenn er landet?«

      »Hab’s doch geschafft«, nuschelte Joe entschuldigend und schob sich einen Streifen Frutti in den Mund. »Außerdem dauert es ’ne ganze Weile, bis Alex und Einstein ausgestiegen sind und ihr Gepäck geholt haben.«

      »Hoffentlich«, murrte Rebecca und sah zum Fenster hinaus. Seit ihr Bruder für diese Blondine schwärmte, war er manchmal total neben der Spur.

      »Wann landet der Flieger aus Äthiopien denn?«, fragte Joe. Rebecca warf einen Blick auf ihre Uhr. »In einer halben Stunde.«

      Joe lehnte sich zurück. »Dann haben wir noch massig Zeit. Die Zugfahrt dauert ja nur zwanzig Minuten.«

      »Wenn nichts Unvorhergesehenes dazwischenkommt«, sagte Rebecca und zeigte auf den Bildschirm, der vor ihnen von der Decke herabhing. Helikopteraufnahmen zeigten das in der Themse liegende London Eye, während ein Reporter das Unglück kommentierte.

      »Ein ganz schönes Riesenteil«, sagte Joe. »Und was für ein Hammer, dass diese drei Typen das überlebt haben.«

      Auf dem Bildschirm waren drei Jugendliche zu sehen, die nass und in Decken gehüllt von Feuerwehrleuten zu einem Rettungswagen geführt wurden.

      »Was haben die da bloß gemacht?«, fragte sich Joe.

      »Dad meinte, die wollten aufs Eye klettern und sich gegenseitig fotografieren«, sagte Rebecca.

      Joe schüttelte den Kopf. »Wie bekloppt kann man denn sein?«

      »Bringt aber ’ne Menge Klicks.«

      »Was nützen dir Klicks, wenn du tot bist?« Gedankenversunken sah Joe aus dem Fenster. »Aber komisch ist das schon.«

      »Was ist komisch?«, fragte Rebecca.

      »Na ja, wenn nur das Riesenrad umgekippt wäre, würde ich ja noch sagen: Pech gehabt! So was kann passieren. Aber da sind ja noch die ganzen anderen Vorfälle: die South Bank University, Blackfriars Bridge, die British Library.«

      Joe hatte recht: In den vergangenen Wochen war es immer wieder zu spektakulären Einstürzen großer Bauten oder Teilen davon gekommen. Offiziell sprachen die Behörden von Baumängeln. Aber hinter vorgehaltener Hand war die Rede von gezielten Attacken, weshalb die Polizeipräsenz in London massiv ausgeweitet worden war.

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