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ihr Talent zur Schriftstellerin, ihre Artikel erscheinen unter seinem Autorenkürzel. Jules hatte den Verleger davon überzeugt, Aurore auf die Probe zu stellen.

      Sie ist viel zu aufgeregt von den Ereignissen des Tages, um es sich auf dem Diwan gemütlich zu machen, und beginnt sogleich einen Brief an ihren Geliebten, in dem sie ihm von Eindrücken der Reise und ihrer faszinierenden Gastgeberin berichtet. Aurore beschreibt den wundervollen Ausblick durch die Fenster des zweitens Stockwerks auf das Schloss von Angers, das majestätisch über seinen beeindruckenden Burggräben ruht, Symbol einer vergessenen Ära. In der Ferne fließt die Maine breit und gemächlich durch das grüne Tal, dem bevorstehenden Sonnenuntergang entgegen. Noch sind die Tage lang in diesem trockenen, heißen August des Jahres 1831. Aurore denkt an ihre Großmutter, mit der sie vor langer Zeit an die Loire gereist und durch Angers gekommen war. Ihre Oma war damals schon über siebzig gewesen, das Alter schien jedoch kaum Spuren an ihr zu hinterlassen. Doch dann hatte sich alles schlagartig geändert, bis sie am zweiten Weihnachtsfeiertag vor zehn Jahren verstarb. Aurores Bewunderung für diese freigeistige, kultivierte Frau war maßlos gewesen. Die alte Dame hatte ihre Leidenschaft für die Philosophen, deren ausgewählte Schriften sie dem jungen Mädchen zugänglich gemacht hatte, an ihre Enkelin weitergegeben: Voltaire! Buffon! Rousseau!

      Ist es schwieriger, den Menschen, den wir am meisten lieben, seiner Geistesgegenwärtigkeit beraubt zu sehen oder den Augenblick, in dem er uns für immer mit einem friedlichen Lächeln entschwindet, zu akzeptieren? Heiße Tränen benetzen Aurores blasse Wangen bei den bitteren Erinnerungen an den Tod ihrer geliebten Großmutter. Niemals würde sie die Worte vergessen, die diese ausgesprochen hatte, bevor sie lächelnd diese Welt verließ: „Du verlierst deine beste Freundin“.

      * * *

      Die große Standuhr zeigt kurz nach neun Uhr an, als die Bedienstete anklopft.

      „Madame lässt sich entschuldigen, sie ist sehr müde. Sie hieß mich, Ihnen dieses bescheidene Abendessen zu bringen. Ich hoffe, es schmeckt Ihnen. Ich habe auch soeben heißes Wasser im Badezimmer vorbereitet. Madame erwartet Sie morgen früh zur von Ihnen gewünschten Stunde.“

      „Wann pflegt Ihre Herrin denn aufzustehen?“ erkundigt sich die junge Frau, die sich den Gewohnheiten der Gastgeberin anpassen möchte.

      „Schon um sieben ist Madame jeden Morgen auf den Beinen, sogar sonntags.“

      „Dann bin ich um halb acht unten. Ich danke Ihnen.“

      „Einverstanden, Mademoiselle. Gute Nacht.“

      Aurore kostet von den dicken Scheiben geräucherter Wurst. Das Brot war aufgewärmt worden, es ist herrlich knusprig. Der Ziegenkäse passt zum Rotwein, den sie sich aus einer eleganten Karaffe einschenkt. Dann zündet sie sich eine ihrer schmalen Zigaretten an, die sie in Gegenwart der betagten Dame nicht gewagt hatte, hervorzuholen. Sie öffnet ein Fenster und blickt auf den Fluss, der sich durch das grüne Tal in die Ferne schlängelt und dessen träge Wasser die letzten Strahlen der untergehenden Sonne kupfern widerspiegeln.

      Sie geht zu Bett und schlägt im Schein der großen Kerzen das Werk eines neuen Autoren auf, dessen Name in Paris seit Herausgabe seines ersten Romans in aller Munde ist. Von der ersten Seite an ist sie fasziniert vom eleganten Stil eines gewissen Honoré Balzac und taucht erneut in die Geschichte der Aufständischen im Westen ein. „Der letzte Chouan oder die Bretagne“ ist der Titel des Buches, das zwei Jahre zuvor erschienen war. Aber die Müdigkeit, die sich durch die lange Reise in Aurores Glieder geschlichen hatte, überfällt sie und sie löscht das Licht am Ende des ersten Kapitels. Am nächsten Morgen, nach einem tiefen und erholsamen Schlaf, erwacht sie erstaunt in der ungewohnten Umgebung auf und benötigt einen Augenblick, bis sie sich daran erinnert, unter welchen Umständen sie in dieses fremde Zimmer gelangt war.

      Als sie wenig später die Treppenstufen hinabgeht, hört sie leise Stimmen im Salon, dessen Türen offenstehen. Die beiden Frauen wenden sich zu ihr und die Haushälterin erhebt sich schnell von einem Stuhl, der ihr einen kurzen Moment der Ruhe geboten hatte. Celeste begrüßt sie erfreut: „Guten Morgen, Mademoiselle Aurore, haben Sie sich gut von Ihrer langen Reise erholt?“

      „Guten Morgen, meine Damen. Dieses Haus ist so ruhig und friedlich, ich habe wunderbar geschlafen. Ich möchte Ihnen für Ihre großzügige Gastfreundschaft danken.“

      „Setzen Sie sich schnell zu mir. Agnès hat uns Gebäck nach einem alten Rezept bereitet, es wird Ihnen sicher zum Kaffee schmecken.“ Aurore nimmt auf dem Sessel Platz, den die Hausangestellte an den Tisch geschoben hatte. Sie probiert eines der winzigen Croissants. Die Herrin des Hauses beobachtet sie und fragt: „Darf ich Sie bei Ihrem Vornamen nennen?“

      „Ja bitte, Madame.“

      „Celeste. Ohne Madame, das scheint mir sehr viel einfacher. Angesichts der knapp bemessenen Zeit, die wir dem Projekt Ihres Direktors widmen können, sollten wir die Förmlichkeiten beiseite legen, denke ich.

      Sie haben großes Glück, werte Aurore, diesen Posten gefunden zu haben. Viele Männer würden sich darum streiten, an einen solche Stelle zu kommen. Ich hatte zunächst Zweifel, die Sie mir hoffentlich verzeihen werden, als Monsieur de Latouche Sie erstmals erwähnte. Denn es ist zwar nicht ungewöhnlich für eine Frau, sich dem Schreiben zuzuwenden, und ich bin überzeugt, dass es unter den Damen genauso viel Talent zum Schreiben gibt wie unter den Herren, seien Sie dessen versichert. Aber dass ein renommierter Verleger vom Schlag Latouches Ihnen eine Mission von solchem Ausmaß anvertraut, schien mir angesichts Ihres jungen Alters, gelinde gesagt, etwas erstaunlich. Doch als ich erneut darüber nachdachte, habe ich meine Meinung geändert, denn Ihre Anstellung beim Figaro ist ein Beweis für Ihre Leidenschaft für das Schreiben. Offen gestanden war ich vor allem beunruhigt, was den Inhalt der künftigen Veröffentlichung angeht, denn ich möchte Ihnen die Wahrheit über mein Leben sagen, ohne…“, Celeste ringt kurz nach Worten, „…bestimmte Details zu verschweigen, die auf eine zart besaitete Seele schockierend wirken könnten. Deshalb hatte ich zunächst Zweifel an einer jungen Gesprächspartnerin. Hoffentlich fühlen Sie sich durch meine Offenheit nicht gekränkt?“

      „Aber nein, Mada…Celeste! Ich kann Sie nur zu gut verstehen. Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde mich bemühen, eine objektive Zuhörerin für Sie zu sein. Es geht mir vor allem darum, alles zu notieren, was mir wichtig erscheint. Zweifellos werde ich ab und an Fragen stellen müssen, um die Tatsachen besser zu verstehen.“

      „Wie ich bereits Ihrem Direktor erklärt habe, gibt es gewisse Bedingungen, die vom Verleger eingehalten werden müssen. Der Autor, dem ich meine Geschichte anvertraue, wird verpflichtet, alle Informationen wiederzugeben, die ich liefere, oder aber gar keine. Es geht mir darum, dass die Wahrheit ans Licht kommt - die ganze Wahrheit“, fügt Celeste bedeutungsvoll hinzu. „Dies ist in einer Klausel im Vertrag festgehalten, der zwischen Ihrem Dienstherrn und mir unterzeichnet wurde. Hat man Sie darüber informiert?“

      „Ich höre soeben zum ersten Mal davon, aber ich verbürge mich dafür, dass diese Klausel eingehalten wird.“

      „Ah, meine liebe Aurore, Sie sind voller Überraschungen. Ich bin nicht sicher, ob Sie im Namen eines ausgekochten Geschäftsmannes ein derartiges Engagement leisten sollten! Letztendlich hängt es von seiner Entscheidung ab, ob Ihre Kapitel genehmigt werden oder nicht. Doch Ihre Reaktion beweist, dass unser Vorhaben bei Ihnen in guten Händen ist, und ich weiß Ihre Loyalität sehr zu schätzen.“

      „Ich lege Ihnen das Manuskript vor, sobald es fertiggestellt ist. Das gibt Ihnen die Gelegenheit, meine Arbeit zu bewerten, bevor sie meinen Meister erreicht.“

      „Gut, Aurore. Vielleicht haben Sie Lust auf einen Spaziergang, ehe wir uns an die Arbeit machen? Dabei könnten Sie ihre Umgebung kennenlernen. Wir haben alles in unmittelbarer Nähe. Der Markt findet gleich vor der Haustüre statt und morgen früh werden Sie sicher in aller Frühe vom Lärm der Händler geweckt werden. Das Zentrum von Angers siedelt sich um die Geschäftsstraße an, durch die Sie angekommen sind. Die Handwerker und ihre Werkstätten liegen im unteren Bereich der Stadt, der leichter erreichbar ist. Man braucht nicht sehr lange, um das Einkaufsviertel zu besichtigen.“

      Aurore zögert. Sie möchte Celeste gegenüber nicht aufdringlich

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