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noch ganz schön viel Zeit.

      Oldenburg

      In meiner Kindheit erbte ich die meisten Kleidungsstücke von meinem drei Jahre älteren Bruder Eckhard. Das fand ich toll, weil ich lieber ein Junge sein wollte. Mein absolutes Lieblingsstück war seine speckige Lederhose. Die Jungs in der Nachbarschaft machten die spannendsten Spiele: Cowboy, Indianer, Ritter und Straßenbande. Puppenspiele mit den Nachbarmädchen lösen bei mir nur ein müdes Gähnen aus. Meine Mutter nähte bunte Bordüren und Wollfransen an alte Hosenbeine und fertigte eine Indianerhaube mit Federn an. Arnulf, mein 11 Jahre älterer Bruder pinselte mit Wasserfarben eine Kriegsbemalung auf meinen Oberkörper, schnitzte ein Tomahawk und Klein Adlerauge war geboren. Später schlug ich mich dann auf die Seite der Bleichgesichter und wünschte mir zu Weihnachten eine Cowboyausrüstung mit Hut, Pistole und Sherif-Stern. Von da an herrschte Recht und Ordnung in unserer Straße. Bald darauf war die Ritterzeit angesagt. Mit den Nachbarjungen schnitt ich mir aus riesigen Pappkartons Helme und Brustpanzer, auf die ich akribisch Nieten und Schweißnähte pinselte. Furchtlos drosch ich mit meinem selbstgebauten Holzschwert drauf los - mit dem Ergebnis, dass meine Ritterrunde Reißaus nahm. Wir kehrten zu den friedlicheren Indianerspielen zurück und rauchten Friedenspfeife mit Wiesengras bis uns schlecht wurde. Als ich mir mit 11 Jahren Boxhandschuhe wünschte, streikten meine Eltern. Sie befürchteten, ihre Tochter würde dann womöglich KO geschlagene Jungs im Nachbargarten auszählen. Stattdessen nähte meine Mutter mir lieber ein hübsches Indianerkostüm. Ich war enttäuscht, denn es sah mir zu sehr nach Squaw aus, anstatt nach einem Krieger. Mit 13 bekam ich meine Menstruation und Klein Adlerauge verdrückte sich still und heimlich in die ewigen Jagdgründe.

      Noch vor meinem Interesse für die Fotografie, trat ich dem Oldenburger Schwimmverein bei. Unsere Nachbarin Uta Frommater war Deutsche Meisterin im Brustschwimmen, Europa-Meisterin und Kandidatin für die Olympischen Sommerspiele 1968 in Mexico City. Ihr Trainer Frank sah auch in mir ein Nachwuchstalent und nahm mich unter seine Fittiche. Schon bald zog ich mit Uta meine Trainingsbahnen. Es dauerte nicht lange, da hatte ich meine erste Medaille als Bezirksmeisterin um den Hals hängen und bereits ein Jahr später wurde ich 3. Deutsche Meisterin in 100 Meter Freistil. Bei 50 Metern konnte ich sogar mit den Jungs mithalten, doch diese Wettkampfdisziplin gab es leider noch nicht, denn auf dieser Distanz schwamm ich Bestzeiten. Weil mein Kraulstil so perfekt aussah wurde der Deutscher-Schwimm-Verband aufmerksam. Der DSV drehte einen Schulungsfilm mit mir – über Wasser und unter Wasser. Und die Reporterlegende Harry Valerien interviewte Uta und mich am Beckenrand. In der Nord-West-Zeitung stand geschrieben:

      „Oldenburger Nachwuchstalent schwimmt in Frommaters Kielwasser!“

      Sogar der Trainer von Mark Spitz zeigte Interesse an Uta und wollte sie nach Kalifornien holen. Aber Uta trainierte lieber in heimischen Bahnen weiter. Hätte er doch nur mich gefragt! Meine Wasserkarriere schlug weiterhin keine hohen Wellen, denn mein Schwimmehrgeiz bezog sich eher auf das Herumreisen von einem Wettkampf zum nächsten. Uetrecht, Berlin, Grenoble, München und Nizza. Dort traf ich bekannte Schwimmer wie Werner Lampe, Heike Hustede und Walter Kusch. Ich trainierte mit Weltmeistern und Olympiasiegern. Einmal verpasste ich vor lauter Reden drei Lautsprecheransagen um an den Start zu gehen. Als alle bereits auf den Startblöcken standen kam mir der Gedanke, dass ich wohl gemeint war! Im Laufen zog ich meinen Trainingsanzug aus und stand in letzter Sekunde doch noch auf dem Startblock – mit Socken! Immerhin wurde ich zweite. Wenn ich zu lange unter der Dusche stand, schimpfte mein Trainer Frank jedes Mal und rief laut in die Kabine.

      “Almut, du sollst nicht 1000 Meter duschen, du sollst t r a i n i e r e n!”

      Frank sah mich schon mit Uta nach Mexico City reisen, aber bei den olympischen Auswahlkämpfen ging meine Leistung baden. Damit beendete ich meine Schwimmkariere.

      Fotografische Gehversuche

      Wie eine aufblühende Blume im Zeitraffer baute sich das Bild langsam auf. Dunkle Striche und Punkte bildeten sich plötzlich auf dem weißen Blatt. Nach und nach fügten sich neue Graustrukturen und Bildteile hinzu. Dann erkannte ich das Gesicht meiner Mutter. Eckhard schwenkte die wuchtige Entwicklerschale aus Emaille mal links und mal rechts, das Fotopapier stieß klackend an die Ränder. Sein Kopf senkte sich Richtung Schale. Er nahm das Schwarzweiß-Foto aus dem Entwickler, hauchte es an und rieb einzelne Stellen mit den Fingern nach. Ich konnte seine Unzufriedenheit spüren.

      “Scheiße, die Lichter bauen sich nicht auf”, murmelte er wie im Selbstgespräch.

      Der Entwickler tropfte in die Schale, der Rubbeleffekt zeigte keinerlei Wirkung.

      “Das erzeugt Wärme”, erklärte er und rubbelte weiter auf dem Papier herum, „diese Stellen entwickeln sich jetzt stärker.“

      Jetzt spuckte er auf diese Stelle und rieb sie erneut. Mit der Entwicklerzange zog er das Foto durch ein Wasserbad, schwenkte es kurz darin herum und ließ es in ein streng riechendes Fixierbad gleiten. Die Metallzange ließ er auf dem Auge meiner Mutter liegen. Ein Fehler wie ich später lernte, weil das Metall die aufgeweichte Emulsion der Bildoberfläche verkratzen konnte. Ich fand das Bild gelungen und beim Betrachten des Fotos kam mir meine hübsche Mutter in den Sinn.

      Die sportliche Frau mit den großen blauen Augen hatte schöne Beine, wie meine Freunde immer bemerkten. Ihre mütterliche Nähe und unser liebevolles Miteinander vermittelten mir ein großes Geborgenheitsgefühl. Sie konnte gut zuhören, aber vor allem bestärkte sie mich, mir etwas zuzutrauen. Damit konnte sie alle ihre Adlerkinder beflügeln! Wenn sie wütend wurde, konnte sie auch richtig aus der Haut fahren. Sie wäre gerne Kindergärtnerin geworden und hätte ihren Führerschein gemacht, aber mein Vater ging nie darauf ein. In dieser Hinsicht war er konservativ und irgendwie ein Macho.

      Anfangs war die Schwarzweißfotografie mit dem Rotlicht in der Dunkelkammer ein Rätsel für mich, doch Vergrößerungsgerät, Chemikalien, Papiersorten und Entwicklungstechnik fand ich faszinierend. Fotos entwickeln, das wollte ich auch lernen. Immer öfter stand ich in dieser winzigen, zur Dunkelkammer umfunktionierten Toilette und sah Eckhard beim Vergrößern zu. Das Rotlicht empfand ich anfangs beklemmend, weil alles nicht so deutlich erkenntlich war wie bei Tageslicht. Aber mit der Zeit gewöhnten sich meine Augen daran.

      “Gegen Rotlicht ist das Fotopapier unempfindlich, das nennt man orthochromatisches Material”, verriet mir Eckhard.

      Als wir beim nächsten Mal in der Dunkelkammer standen fragte ich Eckhard, ob er wüsste wie Unempfindlichkeit für Farbfilme hieß. Überrascht sah er mich an.

      “Ist mir egal, Farbfotos entwickle ich sowieso nicht, viel zu aufwendig, viel zu teuer und man braucht mehr Platz.”

      Er fragte mich auch nicht weiter danach. Ich konnte mir jedoch nicht verkneifen was ich im Fotomagazin meines Bruders Arnulf gelesen hatte.

      “Panchromatisches Material heißt das”, preschte ich mit meinem jugendlichen Halbwissen hervor.

      “Ja und? Was nützt mir das?” blaffte er zurück.

      Dieses Verhaltensmuster zog sich wie ein roter Faden durch unser buntes Geschwisterleben. Es gab nichts, worüber wir nicht stritten. Einmal zankten wir uns am Mittagstisch so heftig, dass ich mit Messer und Gabel auf ihn los ging. Vor Schreck ließ er sich mit seinem Stuhl rückwärts fallen. Einmal legte er mich sogar übers Knie und versohlte mir den Hintern. Die Demonstration seiner körperlichen Überlegenheit verursachte ohnmächtige Wut in mir. Jahrzehntelang schwelten Konflikte, nie wurde offen thematisiert was uns gegeneinander so aufbrachte. Ich konnte Eckhard beneiden, zwischendurch bewundern und danach hassen, um dann heimlich vor Wut seine Briefmarkensammlung durchzureißen, oder ihm meinen Pisspott ins Gesicht zu kippen. Unsere Beziehung schwankte immer zwischen Gunst und Rivalität, Liebe und Hass. Vielleicht resultierte unser Verhältnis von meinem Schockerlebnis am Wilhelmshavener Baggersee. Gerade hatte ich meinen Freischwimmer absolviert und war erstmals im tiefen Wasser als Eckhard mich untertauchte. In dem glasklaren See konnte ich seinen Körper vor mir sehen. Vor Verzweiflung kniff ich ihm in den Bauch, ohne Wirkung. Ich hatte Todesangst, doch Eckhard zeigte sich gnädig.

      Die Dunkelkammertechnik begeisterte mich, deshalb lernte ich schnell und wollte so viel wie möglich über die Fotografie wissen. Doch alles gehörte Eckhard, das Vergrößerungsgerät, Entwickler,

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