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durchfuhr ihn ein Schmerz, wie er ihn noch nie verspürt hatte. Er genügte, um ihn außer Gefecht zu setzen, um ihn kurz innehalten, nach links taumeln und wie ein gefällter Baum zusammenbrechen zu lassen. Aber er reichte nicht aus, um ihn zu töten. Denn Schultz war ein Mann, der gelernt hatte, wieder aufzustehen. Das hatte ihm sein Vater, von Beruf Kraftfahrer, regelrecht eingebläut.

      Aufstehen, selbst wenn du denkst, es geht nicht mehr. Auch wenn es sinnlos, um nicht zu sagen unmöglich erscheint.

      Aufstehen, selbst wenn eine der beiden Kugeln, die dich treffen, in der Lunge steckt.

      Und so, unbemerkt von seinen Begleitern, allen voran dem NVA-Gefreiten Maier, rappelt sich Schulz auf, schwankend, nach Luft hechelnd und kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Eine schier übermenschliche Anstrengung, die ihm, nicht weiter verwunderlich, nur zum Teil gelingt.

      Denn plötzlich, ohne dies zu bemerken, ist Kamerad Maier zur Stelle, die entsicherte Kalaschnikow in der Hand und wie alle anderen, die hinter ihm ins Freie drängten, nur von einem Wunsch beseelt: die Grenzverletzer, auf die sie es abgesehen hatten, an der Flucht zu hindern.

      Ein Unterfangen, das indes misslingt. Und das, obwohl Soldat Maier Dauerfeuer schießt, obwohl ein Feuerstoß nach dem anderen zwischen den Hofwänden widerhallt. Sämtliche Fluchthelfer, auch Zobel, können sich retten, in letzter Sekunde und dank des Tunnels, durch den sie wieder in den Westen gelangen.

      Sie haben überlebt, können ihr Glück kaum fassen.

      Nicht so Egon Schultz, der nicht nur kein Glück, sondern ausgesprochenes Pech gehabt hat. Von insgesamt 10 Kugeln getroffen, bricht er unweit der Hoftür zusammen.

      Wobei der Großteil, nämlich acht, aus der Waffe seines Kameraden stammt.

      Ein Umstand, über den nichts, nicht einmal die leiseste Andeutung, an die Öffentlichkeit dringen durfte. Dafür würden die Verantwortlichen, allen voran die Stasi, sorgen.

      2

      RIAS-Reportage über den Fluchttunnel │05. 10. 1964

      RIAS: Wie haben sich die letzten … Minuten abgespielt, die ja die entscheidenden sind?

      Fluchthelfer: Es ist gut gelaufen, bis eben am fraglichen Abend – in der fraglichen Nacht – als Flüchtlinge getarnt zwei Männer erschienen, die vorgaben, noch einen anderen Mann holen zu wollen oder holen zu müssen. Wir waren aber nicht sicher, ob es nun Flüchtlinge waren oder keine Flüchtlinge. Wir hatten eben das Ultimatum gestellt, innerhalb von fünf Minuten zurückzukommen mit diesen neuen Flüchtlingen. Nach fünf Minuten kamen diese Männer mit dem dritten angekündigten Mann zurück. Diese drei Leute traten dann in den Hof und forderten uns mit entsicherter Maschinenpistole auf mitzukommen. In der darauf folgenden Schrecksekunde blieben wir natürlich starr stehen, dann rannten wir über den Hof. Die Vopos eröffneten sofort – ohne jede Warnung – und ohne jeglichen Aufruf das Feuer. Ich schätze, dass etwa 100, 150 oder – ich weiß nicht, wie viel – Schüsse auf uns abgegeben worden sind in einem Hof, der nicht größer ist als vielleicht sechs Meter auf drei Meter.

      RIAS: Das war aber auch der Schlussstrich unter die ganze Aktion. Wahrscheinlich hätten Sie noch weitermachen können, nicht?

      Fluchthelfer: Wir hätten noch weitermachen können, wir hätten es zumindest versucht, aber das war, wie gesagt, der Schlussstrich, und wir mussten daraufhin natürlich sofort die ganze Aktion abblasen.

      (Quelle: www.chronik-der-mauer.de)

      MYTHOS UND WAHRHEIT

      ›Der Unteroffizier war von Zobels Kugel im Oberkörper getroffen und an der Lunge verletzt worden. Tödlich aber waren die Kugeln von Volker M., die den verwundeten Egon Schultz trafen, als er sich gerade wieder aufrichtete.‹

      (DIE WELT, 30. 11. 2011)

      *

      ›Am 5. Oktober 1964, gegen 0.15 Uhr, wurde Unteroffizier Egon Schultz bei der Ausübung seines Dienstes an der Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik zum NATO-Stützpunkt Westberlin von Westberliner Agenten durch gezielte Schüsse meuchlings ermordet. Die Mörder drangen durch einen von Westberlin vorgetriebenen Agententunnel, der mit Billigung und aktiver Unterstützung der Westberliner Polizei angelegt wurde, im Abschnitt Strelitzer Straße in das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik ein, um im Auftrag Westberliner Spionageorganisationen Personen illegal, unter Verletzung der Staatsgrenze zu schleusen.‹

      (Neues Deutschland, 6. 10. 1964)

      POST MORTEM (I)

      IN DIESEM HAUSFLUR

      WURDE AM 5. OKTOBER 1963

      UNTEROFFIZIER

      EGON SCHULTZ

      GEBOREN AM 4. JANUAR 1943

      BEI DER AUSÜBUNG

      SEINES DIENSTES ZUM SCHUTZ

      DER STAATSGRENZE DER

      DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN

      REPUBLIK

      DURCH WESTBERLINER AGENTEN

      MEUCHLINGS ERMORDET

      *

      Im Hof dieses Hauses endete ein von

      West-Berlin aus gegrabener 145 Meter langer Tunnel,

      durch den 57 Männern, Frauen und Kindern

      in den Nächten des 3. und 4. Oktober 1964

      die Flucht in den Westen gelang. Nach Verrat

      der Fluchtaktion an das Ministerium für

      Staatssicherheit der DDR kam es auf dem Hof

      zu einem Schusswechsel zwischen Grenzsoldaten und Fluchthelfern. Dabei kam der

      Unteroffizier der Grenztruppen der

      Nationalen Volksarmee

      *

      Egon Schultz

      *4. Januar 1943 in Groß-Jestin (Kreis Kolberg)

      am 5. Oktober ums Leben. Egon Schultz

      wurde in der DDR als Held idealisiert, die

      Fluchthelfer galten als Agenten und Mörder.

      Erst nach dem Fall der Mauer stellte sich heraus,

      dass die tödlichen Schüsse aus der Waffe

      eines Kameraden abgegeben wurden. Dieser

      Sachverhalt war den DDR-Verantwortlichen

      von Anfang an bekannt.

      (Gedenktafeln am Haus Strelitzer Straße 55 in Berlin-Mitte)

      ERSTES KAPITEL

      (Berlin, Freitag, 9. Oktober 1964)

      3

      Ost-Berlin (Stadtbezirk Mitte), Institut für Rechtsmedizin der Humboldt-Universität in der Hannoverschen Straße 6 │07:30 h

      »Der Obduktionsbefund?«, entrüstete sich die Endvierzigerin, bebrillt, kurz angebunden und mit einer Turmfrisur, bei der jedes Haar an der richtigen Stelle saß. »Da muss ich aber erst den Herrn Professor fragen!«

      Ihr Gesprächspartner reagierte mit einem müden Lächeln. »Bei aller Freundschaft –«, antwortete er in dem für ihn typischen, teils spöttischen, zuweilen aber auch harschen Ton, wobei er das letzte der drei Wörter besonders betonte, »das wird, denke ich, nicht nötig sein.«

      Die Sekretärin, die dem Klischee der altjüngerferlichen Vorzimmerdame perfekt entsprach, gab sich unbeeindruckt. »Was hier nötig ist und was nicht, junger Mann, entscheide immer noch ich.«

      »Besten

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