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Lärm um sie herum verstummte plötzlich und wurde ersetzt durch ein Erdbeben, das loses Felsgestein von der Decke fallen ließ. Sie öffnete ihre Augen. Zum ersten Mal sah sie so etwas wie Leben in Charlys Augen. Sie sah auch, dass er nicht länger ein fünfjähriges Kind war, sondern ein erwachsener Mann. Seine Kleidung war dreckig und seine Figur mager, aber als er anfing zu rennen und sie mit sich zog, dankte sie seinen langen dünnen Beinen, die sie schneller von ihren Verfolgern wegtrugen als die kurzen Schritte eines Kindes.

      Sie wusste nicht, wohin sie rannten, alles, was sie sah, war eine endlose, blutende Wand, doch Charly schien sich nicht darum zu kümmern, sondern lief einfach weiter. Und trotzdem, wie in jedem Albtraum, waren die Monster nur knapp hinter ihnen. Sie spürte ihren Atem im Nacken, hörte, wie sie nach ihrem Kleid schnappten. Sie hatte nicht vergessen, weshalb sie Albträume hasste. Schweiß rann ihre Stirn und ihren Rücken hinunter. Sie ahnte, dass ihr Körper sich in der realen Welt gerade unruhig von einer Seite zur anderen wälzte. Ihr Atem ging stoßweise, und obwohl sie wusste, dass nicht sie rannte, sondern Charly, spürte sie seine Anstrengung, als wäre es ihre eigene. Sie spürte den harten Stein unter ihren bloßen Füßen und verkniff sich einen Schrei, als etwas eine ihrer Sohlen aufschnitt.

      Das Schnauben hinter ihr wurde unterbrochen von höllischem Kreischen und drohenden Rufen. Sie alle schienen die Stimme des rotbekleideten Anführers zu haben. Sie spürte, wie ihre Muskeln aufgaben, wie ihr Körper ermüdete, bereit, sich den Bestien zu überlassen. Doch ihr Geist war noch nicht so weit, sie durfte jetzt noch nicht aufwachen. Sie hatte noch etwas zu erledigen.

      „Charly, warum träumst du ausgerechnet von diesem Moment? Was ist passiert, weshalb zeigt dir dein Unterbewusstsein das?“, rief sie ihm fragend zu.

      Er hatte sie nicht gehört, er rannte einfach weiter. Weiter und weiter, die endlose Wand entlang.

      „Charly!“

      Sie sah keine andere Möglichkeit, zog an seiner Hand und riss ihn zu sich zurück. Er stockte, stolperte und blieb stehen. Mit ihm schien auch die Zeit stehen zu bleiben. Sie wagte nicht, sich umzudrehen, doch das Schnaufen und Schnappen ihrer Verfolger war verstummt. Sie drehte Charly zu sich herum. Sie bemerkte erneut, wie schrecklich mager er war.

      „Charly, bitte! Sag mir, warum du das hier träumst.“

      Er sah sie nur kurz an, doch er hatte verstanden. Er sah zuerst auf den Boden, dann hob er fast ängstlich seinen Kopf und begegnete ihrem Blick.

      „Ich … Ich habe ihn gesehen. Er … Er ist zurück. Er ist wirklich zurück!“

      Panik lag in seiner Stimme. Sie beeilte sich, ihre Hände beruhigend auf seine Schultern zu legen, die nun deutlich höher lagen als die ihren.

      „Wo? Wo ist der Junge? Wo bist du, Charly?“

      Und in einem von Intuition geleiteten Moment griff sie weiter nach oben und hielt Charlys Kopf zwischen ihren Händen. Sie spürte, wie ihr drittes Auge brannte, doch sie hinderte es nicht daran, sein Bewusstsein zu betreten.

      Schließlich senkte sie ihren Blick und entfernte ihre Hände wieder. „Danke, Charly.“ Heißer Atem schlug erneut gegen ihren Nacken. Rasch liefen sie weiter.

Kapitel 2

      Mit einem Schrei schlug Medusa die Augen auf und fand sich in ihrem Bett wieder, während die Schatten des Albtraumes sich langsam zurückzogen. Die Sonne war eben aufgegangen, doch die dicken Vorhänge ließen nur einen dünnen Spalt frei, durch den das Morgenlicht drang. Medusa fuhr sich über die Stirn und bekam gerade noch mit, wie sich ihr drittes Auge schloss, erschöpft von der ereignisvollen Nacht. Sie spürte auch den Schweiß, der es vom Traum herüber in die Realität geschafft hatte. Fluchend stieß sie ihre viel zu warme Decke weg. Sie sah gerade noch die Reste eines schlanken, schwarzen Tattoos unter ihrem Nachthemd verschwinden. Ihre Kennzeichnung hatte sich bis zu ihrer Brust ausgebreitet, sie hatte ihre Kräfte beinahe zu lange verwendet. In Zukunft müsste sie besser aufpassen. Sie wollte lieber nicht wissen, was passieren würde, sollte ihre mysteriöse Tätowierung sich über ihren gesamten Körper ziehen.

      Medusa tastete nach ihrer Halskette, die lange Schnur lag dünn zwischen ihren Fingern. An ihrem Ende befand sich ein hölzerner Ring aus Weide, in dem ein Gewebe aus Schnur ruhte. Drei braune Federn von unterschiedlicher Länge waren auf der Unterseite des Traumfängers befestigt. Gedankenverloren strich sie über diese und dachte zurück an ihren Traum. Wichtiger noch, sie dachte zurück an den gestrigen Tag.

      Das war nicht die erste Nacht, in der Medusa diesen Traum gehabt hatte, es war nicht das erste Mal, dass sie Charly begegnete. Zum ersten Mal war sie vor vier Nächten in seinen Traum gezogen worden. Zuerst hatte sie es nicht ernst genommen. Es war nur ein Traum, Charly einfach ein verstörter junger Mann. Doch dann hatte der Traum sich wiederholt, und trotz ihres Amulettes war sie auch in der zweiten Nacht schreiend aufgewacht. Der Traumfänger sollte ihren Geist vor bösen Träumen bewahren, doch sein Traum war stärker, verlangte ihre Aufmerksamkeit. Es schien, als ob Charlys Unterbewusstsein seinen Traum und seine Angst in die Welt hinausschrie, in der Hoffnung, dass jemand wie Medusa ihn hören würde. Sie hasste es, dass sie ihn nicht einfach abblocken konnte.

      Seufzend stand sie auf und machte sich auf den Weg in ihr kleines Badezimmer. Dort fand sie eine Tasse und die Überreste der afrikanischen Traumwurzel, die sie einige Stunden vor dem Einschlafen genommen hatte. Sie hatte gehofft, dass dies ihr dabei helfen würden, ein besseres Bild von der Situation zu bekommen, vielleicht sogar Kontrolle über den Traum und seinen Träumer. Es hatte fast funktioniert, Charly hatte sie immerhin wahrgenommen und ihr geantwortet, sie hatte sogar in seine Erinnerungen schauen können.

      Er ist zurück. So sehr sie auch wünschte, das Gegenteil wäre der Fall, so wusste sie doch genau, von wem er geredet hatte. Der Anführer dieser verrückten Sekte, der Mann, der so klar zu erkennen war. Wahrscheinlich hatte der Anblick ebendieses Gesichtes den Albtraum in Charlys Unterbewusstsein ausgelöst. Sie konnte allerdings nur spekulieren, was die genaue Ursache war.

      Er war also zurück. Medusa war sich sicher, dass er erneut versuchen würde, Heka heraufzubeschwören. Heka schien eine Gottheit zu sein, doch war Medusa sich nicht sicher, was sie sich darunter vorstellen sollte. Dieser Mann hatte Heka Dämon, Herr und Mutter genannt. Medusa schüttelte ihren Kopf, ihre zerzausten Haare flogen durch die Luft. Was auch immer Heka war, es konnte nichts Gutes sein.

      Endlich hob sie ihren Blick und sah sich selbst in ihrem alten und bereits etwas trüben Spiegel an. Auf ihrer Stirn prangte eine auffällige Narbe, doch ihre Kennzeichnung, das schwarze Tattoo, das unter ihrem Auge erschien, sobald sie ihre Magie verwendete, war nicht zu sehen. Ihre schwarzen Augen waren noch etwas geschwollen. Sie sah die Müdigkeit, die sie empfand, auf ihrem schmalen Gesicht widergespiegelt. Geistesabwesend hob sie ihre Haarbürste hoch und fuhr sich ein paar Mal durch ihr nun wieder glattes, seidiges Haar. Ihre Tante hatte gesagt, dass sie das Haar von ihrem Vater hatte und die Augen ihrer Mutter. Medusa hasste diesen Vergleich, das einzig Gute, was sie an diesen Merkmalen fand, war, dass beide schwarz waren.

      Mit einem Knall landete die Bürste auf ihrem Waschbecken. Medusa biss sich schuldbewusst auf die Lippe. Sie hasste jede Erinnerung an diese beiden Menschen, die sie zur Welt gebracht hatten. Ihre Eltern hatten einen Blick auf diese seltsame Kreatur mit ihrem unheimlichen dritten Auge geworfen und hatten nichts mehr von ihr wissen wollen. Maya, die Schwester ihrer Mutter, hatte ihr nie erzählt, wie alt Medusa war, als ihre Eltern sie allein in ihrer Wiege liegen gelassen hatten und aus dem Haus, vielleicht sogar gleich aus dem Land geflohen waren. Medusa wusste nur, dass Maya sie zu sich genommen hatte. Keiner von ihnen hatte je die Narbe auf ihrer Stirn angesprochen. Medusa hatte sich davor gehütet, ihr Auge vor ihrer Tante zu öffnen. Ryo E?don und Helen Aetós hatten ihre eigene Tochter verloren und allein zurückgelassen, weil sie den Anblick dieses Monsters, das sie geboren hatten, nicht länger ertragen konnten.

      Medusa spritzte sich eine Handvoll eiskaltes Wasser ins Gesicht. Es gab keinen Grund, plötzlich alte Wunden wieder aufzureißen. Der Albtraum musste sie mehr mitgenommen haben, als sie gedacht hatte. Genervt und entschlossen, keinen zweiten Gedanken an ihre leiblichen Eltern zu verschwenden, putzte sie sich energisch die Zähne. Als sie ausspuckte, sah sie rote Flecken inmitten der weißen Zahnpasta.

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