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etwas Erbarmungswürdiges!« Ein tiefer Seufzer folgte.

      »Gritli!« Denise von Schoenecker streckte die Arme aus. »Kommst du zu mir?«

      Das Mädchen sah sie aus verweinten Augen an. Anja Frey hatte recht, es war ein besonders liebes Geschöpf. Das weißblonde Haar war über der Stirn zu einer Ponyfrisur geschnitten und fiel an den Seiten beinah bis auf die Schultern. Es umrahmte ein allerliebstes Gesicht mit einem kleinen Mund, einer Stupsnase und großen blauen Augen.

      Noch immer schmiegte sich Gritli an die Schwester, doch sie sah von ihr zu Denise von Schoenecker. Mit einem Blick, als wolle sie sagen: soll ich schon wieder zu jemandem anderen gehen?

      Jetzt zuckte es um den Mund, die Lippen öffneten sich: »Mutti!« Gritli schluckte. »Ich will zu meiner Mutti!«

      Die Tote muss also doch ihre Mutter gewesen sein, dachte Denise genauso wie die Schwester und der Polizeimeister.

      »Komm mit mir, Gritli. Ich bringe dich zu vielen Kindern. Du kannst mit ihnen spielen. Sie warten schon auf dich. Wir fahren mit dem Auto.«

      Jetzt schüttelte das Mädchen den Kopf. »Uns nimmt kein Auto mit. Wir haben so oft gewinkt. Mutti konnte schon nicht mehr gehen, und meine Beine waren so müde.« Gritli streckte ein Bein aus. »Und jetzt ist mein Bein kaputt.«

      Die Schwester lächelte und tätschelte das Kind. »Dein Bein ist nicht kaputt, Gritli. Wir haben es nur ein bisschen verpflastern müssen.«

      Gritli nickte. »Ja, weil es so geblutet hat. Und der Arm auch.« Nun schienen ihr diese Verletzungen interessant zu werden.

      Die Schwester nutzte die Gelegenheit und drückte Gritli auf Denise von Schoeneckers Arm.

      Denise redete auf das Mädchen ein, damit es gar nicht zum Nachdenken kam darüber, dass es zum Wagen getragen wurde. Als sie das Kind auf den Beifahrersitz drückte und bat: »Bleib bitte schön still sitzen, Gritli«, sah sich die Kleine mit großen Augen um.

      Sie muss doch schon etwas älter sein als zwei, dachte Denise von Schoenecker. Aber sie wollte jetzt nicht versuchen, von dem Kind etwas zu erfahren. Es sollte zunächst zur Ruhe kommen.

      Knapp vor Sophienlust sagte Gritli: »Ich habe mit Mutti auch eine große Reise gemacht. Im Zug. Aber dann hatten wir kein Geld mehr zum Weiterfahren.« Das Mädchen zuckte die Schultern.

      »Wohin wolltet ihr denn fahren?«, wagte Denise nun doch zu fragen.

      »Ich weiß nicht. Mutti hat nur gesagt, irgendwohin, wo es mir sehr gut gehen wird. Und wo sie sich über mich freuen werden.« Diesen letzten Satz sagte Gritli mit besonderer Betonung, als sei er ihr oft eingeredet worden.

      Denise bog jetzt nach Sophienlust ein. Schon vom Tor her sah sie die Kinder auf der Freitreppe stehen. Sie mochten wohl inzwischen wissen, dass das kleine verunglückte Mädchen kommen sollte. Nirgends sprach sich etwas so schnell herum wie im Kinderheim.

      »Sind das die Kinder, mit denen ich spielen kann?«, fragte Gritli und drückte sich die Nase an der Scheibe der Wagentür platt. »Aber die sind ja gar nicht so klein wie ich. Große Kinder wollen nicht gern mit mir spielen.«

      Denise stieg aus und öffnete dem Kind die Tür. »Unsere großen Kinder werden aber gern mit dir spielen, Gritli. Außerdem sind bei uns auch einige kleinere Kinder. Komm!« Sie reichte Gritli die Hand und führte sie zur Treppe.

      »Oh, wie lieb sie ist! So klein noch! Das arme Mädchen!«, schwirrte es verhalten durcheinander. Aber die Kinder von Sophienlust zeigten, dass sie ihre Neugierde bändigen konnten. Sie stellten keine Fragen an Denise von Schoenecker, sondern folgten ihr nur ins Haus.

      Schwester Regine übernahm Gritli, nachdem sie mit Denise einige Worte gewechselt hatte. Jeder wusste, dass es Schwester Regine ganz besonders verstand, neuen Kindern auf Sophienlust die Scheu zu nehmen. »Meinst du nicht, dass ich dich erst einmal ganz schön waschen sollte, Gritli? Baden kannst du ja nicht mit deinen Pflastern.«

      »Ich habe Hunger«, sagte Gritli und sah Schwester Regine bittend an. »Und ich bin so müde. Mutti und ich haben nicht geschlafen. Wir sind immer gegangen und gegangen. Dabei war es so finster. Als es dann wieder hell wurde, war Mutti so müde.«

      Schwester Regine ließ das Kind sprechen. Nicht nur aus der Hoffnung heraus, dass sie dadurch etwas erfahren konnte, sondern auch, weil Gritli allem Anschein nach den Wunsch hatte, von dem zu erzählen, was sie erlebt hatte.

      Schwester Regine holte ein Nachthemd. Sie wusch das Kind und legte es dann ins Bett. Es dauerte nicht lange, bis Gritli eingeschlafen war.

      Die anderen Kinder waren enttäuscht, dass Gritli nun bei hellichtem Tag schlief, aber dann trösteten sie sich damit, am frühen Nachmittag an den See zum Baden fahren zu können. Wenn sie nach Hause kommen würden, würde Gritli sicher wach sein.

      *

      Der junge Chirurg Dr. Helmut Brugger fuhr seinen Wagen in die Garage neben dem Einfamilienhaus in München-Harlaching. Dr. Brugger stieg etwas umständlich aus, so, als dränge es ihn nicht sonderlich, ins Haus zu kommen. Er sah sich im Garten um. Wie verwildert hier alles war, seitdem sich Ursula um nichts mehr kümmerte. Früher hatte sie darauf bestanden, den Garten selbst pflegen zu dürfen. Sie war ärgerlich gewesen, wenn ein Gärtner ihr einmal die schwereren Arbeiten abgenommen hatte. Und nun?

      Dr. Brugger schloss flüchtig die Augen. Nicht nur der Garten war verwildert, auch im Haus sah es nicht sonderlich ordentlich aus. Und Ursula selbst? Sie legte kaum noch Wert auf ihr Äußeres. Sie schien vergessen zu haben, dass sie erst dreißig Jahre alt war.

      Jetzt wurde ein Fenster geöffnet, eine nervöse Stimme rief: »Wann kommst du denn endlich ins Haus, Helmut?«

      Dr. Brugger sah zu dem Fenster empor und nickte. »Ich komme ja schon, Ursula.« Er ging auf die Haustür zu, doch er musste sie selbst aufschließen. Da war wieder diese Bitternis in ihm. Früher hatte ihm Ursula stets von innen geöffnet und ihn mit strahlendem Lachen begrüßt.

      Nun stand sie in der Diele und sah ihm vergrämt entgegen. Das lange blonde Haar sah stumpf und unordentlich aus, Ursulas Bewegungen waren eckig, ihre blauen Augen sahen ihn vorwurfsvoll an. »Mein Gott, bist du heute wieder spät gekommen, Helmut. Hast du denn vergessen, dass wir bei den Thamms eingeladen sind?«

      Noch einmal musterte Dr. Brugger seine Frau. Doch nun konnte er sich nicht enthalten, zu sagen: »Du siehst aber noch gar nicht so aus, als wärst du zum Ausgehen bereit.«

      Ursula fiel auf einen Stuhl in der Diele und presste die Fingerspitzen an die Schläfen. »Du weißt, dass ich mich nicht vorbereiten kann, solange du nicht hier bist. Ich muss ja immer damit rechnen, dass du überhaupt nicht kommst. Wozu soll ich mir dann die Mühe machen, mich herzurichten?«

      Helmut Brugger ging ins Wohnzimmer. Die Tür blieb hinter ihm offen. Dem großen stattlichen Mann war anzusehen, dass er sich jetzt hilflos fühlte. »Dass ich überhaupt nicht komme, damit musstest du wohl kaum rechnen, Ursula. Bitte, übertreibe doch nicht immer so. Wenn ich mich mal verspäte, solltest du dafür Verständnis haben. Ein Arzt kann nun einmal nicht so pünktlich Feierabend machen wie ein Maurer. Ich erinnere mich noch gut daran, dass du das früher begriffen hast.« Er strich sich durch das volle braune Haar, dann steckte er sich eine Zigarette an. Ihm war jetzt wirklich nicht danach zumute, auszugehen.

      Ursula war ihrem Mann ins Wohnzimmer gefolgt. Zerbrechlich zart stand sie vor ihm. »Ja, früher …«, sagte sie tonlos. Ihr Blick sah verloren aus, ihr schmales Gesicht war noch blasser geworden.

      In diesem Augenblick spürte Helmut Brugger wieder das unsägliche Mitleid mit seiner Frau in sich, das ihn so oft überfiel. Er ging zu ihr und zog sie an sich. »Ursula«, sagte er mit zärtlichem Ton in der Stimme, »warum kannst du nicht vergessen? Warum quälst du dich noch immer so sehr?« Er strich über ihr Haar, dann küsste er sie.

      Aber schon wehrte sich die junge Frau und machte sich aus seiner Umarmung frei. Dann lachte sie spitz. »Vergessen? Natürlich, du kannst es. Du denkst anscheinend gar nicht mehr an unsere kleine Dani. Für dich ist es so, als habe sie nie gelebt, als hätten wir nie ein Kind gehabt.«

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