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aber für wenige Euro mit Vollpension um die ganze Welt fliegen konnte, ließen sich fremde Gesichter immer seltener in der Gegend sehen. Die zahlreichen Pensionen und die privaten Zimmervermietungen rentierten sich nicht mehr und stellten den Betrieb ein. Mit dem Zug wollte schon gleich gar niemand mehr anreisen, und so bangten die Himmelreicher, wie die Dorfbewohner sich selbst nannten, stets um ihre Bahnstrecke. Es gab schon längst keinen Schalterbeamten oder gar Bahnhofsvorsteher mehr. Nur noch einen Ticketautomaten, den man selbst bedienen und dabei hoffen musste, dass er auch funktionierte. Die täglichen Halte waren auf einmal abends, einmal morgens eingedampft worden. Nicht mehr lange, dann würde man vermutlich auch diese streichen.

      Rosi war etwas zu früh dran, denn sie kalkulierte immer ein paar Minuten mehr ein für den Weg. Man wusste ja nie, wem man noch für eine anregende Unterhaltung unterwegs begegnete.

      Doch heute war niemand weit und breit zu sehen, der Rosi die Wartezeit vertrieben hätte. So widmete sie sich dem Aushangkasten mit den neuesten Meldungen aus dem Dorf. Hier wurde angekündigt, wann der Mülltag war oder ob jemand eine Aushilfe suchte. Belanglose Meldungen im Trubel der hektischen Welt, doch für das Dorf Himmelreich besser als jede Tageszeitung. Immer brandaktuell.

      „Na, schauen wir mal nach, was so ansteht die nächsten Tage“, sagte Rosi in breitem Bayrisch zu sich selbst.

      Eine Brille brauchte sie zum Glück nicht, was sie auf den fast täglichen Genuss von Karotten zurückführte, falls jemand sie diesbezüglich lobte. Interessiert studierte sie den Aushang der örtlichen Trachtengruppe, die auf ihre öffentlichen Auftritte und Proben in den bevorstehenden Frühlingsmonaten hinwies. Einmal wöchentlich traf man sich im Gemeindehaus und schuhplattelte, was das Zeug hielt. Vielleicht konnte sie zur Abwechslung der täglichen Routine mal dort vorbei gehen. Es war immer unterhaltsam, die jungen Menschen bei der jahrhundertealten Tradition der alpenländischen Tänze zu sehen. Die kostbaren Dirndlkleider und die großen Hüte, die in dieser Region zur Tracht der Damen gehörten, wurden zwar nur bei den offiziellen Terminen und nicht im Training getragen, aber schön anzusehen waren die rhythmischen Bewegungen der Formationstänzer allemal.

      Der nächste Zettel informierte über die Zeiten des Gottesdienstes. Den brauchte Rosi nicht, da sie sonntags immer die Predigt besuchte. Man hatte zwar auch hier Abstriche machen müssen, denn der Pfarrer betreute mittlerweile mehrere Ortschaften, aber man hatte immerhin mit Pater Karol einen dauerhaften Seelsorger im Ort. Der polnischstämmige Mann hatte sich nach seiner Versetzung in den kargen Landstrich fernab der Vorzüge einer städtischen Gemeinde zwar erst akklimatisieren müssen, wurde nun aber hoch geschätzt. Er hatte trotz seiner rudimentären Vorkenntnisse in Nullkommanichts Deutsch gelernt. Bei seinen Besuchen in der Erzdiözese schmunzelte man zwar immer über den starken bayrischen Dialekt, den ihm der Umgang mit seinen Himmelreichern und den Bürgern der umliegenden Ortschaften eingebracht hatte, aber es war ein liebevolles Schmunzeln.

      Unser bayrischer Pole, so nannten ihn die Gläubigen im Dorf anerkennend.

      Der dritte Aushang jedoch ließ Rosi ihre Stirn in tiefe Falten legen.

      Sennerin gesucht stand da in großen Lettern in einer nicht ganz arbeitsrechtlich korrekten Form, die eine geschlechtsneutrale Formulierung voraussetzte.

Ärger auf der Alm

      Im Spätherbst waren nämlich tiefschwarze Gewitterwolken über der schönen Brennbachalm aufgezogen. Das beliebte Ausflugsziel war stets ab den ersten warmen Frühlingstagen bewirtschaftet. Senner Peter hatte in einem beispiellosen Wutanfall gekündigt. Die Auseinandersetzung mit den unverschämten Wanderern, die ihn als Dienstleister aller Art missbrauchten, hatten bei ihm eine Art Almkoller ausgelöst.

      Wütend warf er seine Schürze, die er trug, wenn er frisch gemolkene Ziegenmilch und kleine Gerichte wie eine selbstgemachte Brotzeit serviert hatte, seinem Dienstherren Sepp Kerner vor die Füße. So zornentbrannt war der grauhaarige Mann gewesen, dass er in einem Rutsch von der Alm auf den Hof der Kerners marschiert war. Sepp Kerner hatte sich gerade mit einer frisch gestopften Pfeife und einer Tasse Kaffee vor die von den letzten Sonnenstrahlen des Tages erhellte Fassade gesetzt, um etwas durchzuatmen. Doch statt des beruhigenden Anblicks des kleinen Kräutergartens vor der Eingangstür bot sich ihm nun das wutverzerrte Gesicht des Senners, der sich die Schürze von den Hüften zerrte. So erregt war Peter, dass er den Knoten des weiß-roten Ungetüms nicht richtig lösen konnte, was ihn aber noch wütender machte.

      „Mach deinen Mist in Zukunft allein!“, brüllte Peter.

      Sepp zog verwundert die linke Augenbraue nach oben und nahm schnell einen Schluck Kaffee. Vielleicht kam er sonst nicht mehr dazu. So wütend, wie der Senner war, musste man damit rechnen, dass er alles kurz und klein schlagen würde.

      „Nun setz dich doch erst mal, und wir besprechen alles in Ruhe. Was ist denn passiert? Hat wieder einer deiner Gäste nicht ordentlich gegrüßt oder kein Trinkgeld gegeben?“, bemühte Sepp sich um einen sachlichen Ton und deutete bereitwillig auf den freien Platz neben sich auf der Holzbank.

      „Deinen Sarkasmus kannst du dir sonstwohin stecken. Du glaubst nicht, was mir eben passiert ist. Kommen da zwei Senioren daher gewackelt, kurz bevor ich geschlossen hätte. Ich denke mir, ach, die machst du noch, kann ja kein großer Aufwand sein. Frage also höflich, was sie wollen, und sie bestellen zwei Becher Milch.“

      Sepp nickte und konnte das Problem noch nicht wirklich erkennen. Bis jetzt klang alles nach Routine auf der Alm.

      „Dann geht es ans Zahlen. Zücken die Deppen doch wirklich eine Kreditkarte. Glaubst du das? Kann man sich so was in seinen kühnsten Träumen vorstellen? Eine Kreditkarte auf der Alm! Keinen Pfennig Bargeld in der Tasche, und mich dann noch anblaffen, wie rückständig wir hier seien!“, brüllte Peter und zerrte immer noch an der albernen Schürze herum, die ihm mittlerweile fast in den Kniekehlen hing.

      Sepp verzichtete um des lieben Friedens willen auf den Hinweis, dass es längst Euro und Cent hieß und Pfennige schon länger nicht mehr im Umlauf waren. Beschwichtigend hob er die Hände.

      „Da hast du natürlich ausgerechnet zum Feierabend zwei besonders schwierige Exemplare erwischt. Aber die Saison ist bald zu Ende, und der Skibetrieb beginnt. Damit hast du ja nichts zu tun, denn mein Sohn Paul engagiert für den Betrieb als Skihütte immer extra Servicepersonal aus Österreich. Du kannst dich die nächsten Monate ganz entspannt in dein Haus in Himmelreich zurückziehen und dann im Frühjahr neu angreifen mit frischem Elan.“

      Doch das erzürnte den leicht reizbaren Senner nur noch mehr.

      „Im Leben nicht mehr! Du kannst dir im nächsten Jahr einen anderen Doofen suchen. Ich bin raus. Da melde ich mich lieber arbeitslos, als nochmal den ganzen Tag auf der Alm zu sitzen und mich quälen zu lassen.“

      Großbauer Sepp hatte den Zorn, der sich wie ätzender Geifer aus dem Mund des Mannes ergoss, wie ein wahrer Philosoph an sich abperlen lassen.

      „Der beruhigt sich schon wieder“, war stets seine ruhige Antwort auf besorgte Nachfragen seines Sohnes, wer denn nun im Frühjahr die Bewirtschaftung der Brennbachalm übernehmen sollte.

      Zum Gelderwerb brauchte man die paar Kröten aus dem Verkauf von frischer Milch und ein paar Getränken nicht. In einem guten Winter, und das hieß in diesem Fall möglichst schneereich und kalt, war der familieneigene Skilift gut besucht. Dieses Gewerbe leitete bereits seit einigen Jahren Paul Kerner, der Juniorchef, der sich dort im Kleinen bewähren sollte, um dann mit einigen Erfahrungen im Gepäck das gesamte landwirtschaftliche Imperium mit allen Nebensträngen wie Alm, Skilift und Hofverkauf übernehmen sollte.

      Als erste Idee hatte Paul die im Sommer so friedliche Alm im Winter zu einer gutgehenden Skihütte umfunktioniert. Wo im Sommer Ziegen und ein paar Kühe ihre Runden drehten und allenfalls noch das eintönige Läuten einer Kuhglocke zu hören war, schallten in den Wintermonaten moderne Klänge und heiße Rhythmen von den Holzwänden. Mit einer jungen Thekenmannschaft zog Paul die gut zahlende Kundschaft direkt aus dem Skilift in die Après-Ski-Location. Dort wurden dann statt Milch exotische Cocktails mit klangvollen Namen serviert. Der absolute Renner zum Beispiel waren der Gipfelstürmer mit reichlich Wodka und der Heididrink mit einer kräftigen Färbung in Pink.

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