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Fernbedienung und kommt direkt zum Adagio. Als Kind dachte sie, dieser zweite Satz sei die Musik des Paradieses. Sie legte die CD ein, die sie zu Weihnachten von ihrer Mutter geschenkt bekommen hatte, und schaute aus dem Fenster ihres kleinen Schlafzimmers auf die Quellwolken, die sich gewaltig über der Donau auftürmten, und war davon überzeugt, dass man bei der Pforte jenseits dieser Himalaja-Berge mit dieser Musik willkommen geheißen wird. Es war vorstellbar, es ergab sogar Sinn, es gab in dieser Musik keine Traurigkeit, höchstens die leichte Melancholie einer unsagbaren Schönheit. Ein Pendant zu Wagner. Denn für die kleine Anja begann musikalisch betrachtet die Hölle, sobald es sich der Vater am Wochenende im Wohnzimmer gemütlich machte und eine drei- bis fünfstündige Oper anhörte. In ihrer Kindheitswahrnehmung hatte sich Anja sogar eingebildet, dass der Hausmeister, der angeblich zu seinen Nächsten und vor allem den Hausbewohnern nicht besonders gütig gewesen und unerwartet einem Schlaganfall erlegen war, als Strafe nach Bayreuth geschickt worden sei und das Gebrüll von Wotan, Fricka, Brünnhilde und Co. in einer Endlossschleife ertragen musste.

      Hingegen ist Schubert wohl das beste Beruhigungsmittel, kann manchmal noch besser als ein Xanor wirken. Sicherheitshalber will Anja nicht auf das Paradies warten und fühlt sich bald glücklich wie sonst nur Gott in Frankreich. Allmählich vergisst sie den Nachmittag, die Demonstranten vor der Uni, die U-Bahn, ganz allmählich vergisst sie sogar den Raum, in dem sie liegt. Es gibt nur mehr diese Musik, die zwei Geigen, die einzige Bratsche und die zwei Celli, die Fäden verweben und ein Kissen aus harmonischen Klängen bereiten, auf welchem Anja ihr Haupt ruhen lässt, ein musikalisches Glück, das nur mit Rostropovitchs Pizzicati gezählt zu sein scheint.

      Denn sogar im Paradies kann man gestört werden. Schuberts Edengarten wird plötzlich laut von ihrem Handyklingelton übertönt. Anja fährt hoch, schaut kurz auf das Display, Petra!, hebt ab. Die Freundin sei ganz in der Nähe, sitze am Margaretenplatz, sie möchte Anja das Buch zurückgeben, fragt, ob sie nur kurz bei ihr vorbeischauen könne. Aber ja.

      Ein paar Minuten später bricht die Freundin wie ein Orkan über Anja herein. Petra spricht gleich von der gestrigen Demo, wie toll es gewesen sei, ein wirklicher Erfolg. Anja legt das Buch Die Vielfalt in Kafkas Leben und Werk auf ihren Schreibtisch, denkt, Petra wurde tatsächlich von den Uni-Ereignissen angesteckt, sie spricht anders als sonst, verwendet die gleiche euphorische Sprache wie Antoine.

      „Möchtest du etwas trinken?“, fragt Anja, versucht dabei die Diskussion über die Demo und die Uni-Proteste abzubrechen, den Kühlschrank öffnend. „Cola, Bier oder Multivitamin?“

      „Cola, mit Strohhalm bitte, falls du einen hast“, wählt Petra und lässt dabei ihren schrägen Eckzahn erscheinen, einen kleinen ästhetischen Makel, der aber ihrem Gesicht einen zusätzlichen Reiz verleiht. „Wirklich schade, dass du gestern nicht dabei warst. War echt aufregend! Aber was hast du denn da draußen? Wahnsinn!“, sagt sie plötzlich und stürzt auf den Balkon.

      Anja folgt ihr mit Glas inklusive Strohhalm.

      „Eine Badewanne“, antwortet sie ganz lapidar, als habe jeder solch ein Objekt auf seinem Balkon stehen.

      „Wo hast du sie gefunden?“, fragt Petra neugierig.

      „Sie war eigentlich schon immer im Haus, nur im Keller versteckt, wohl ein Abschiedsgeschenk von den Vormietern. Ich habe sie beim Frühjahrsputz mit Antoine entdeckt, hinter leeren Kartons, Brettern und kaputten Bettgestellen lag der Schatz. Sie war braun von Schmutz, ein verrosteter Eimer und eine kaputte Mikrowelle lagen drin. Aber Antoine war begeistert und fühlte sich ähnlich wie Carter bei der Entdeckung des Grabes von Tutenchamun. Dann haben wir die Ärmel hochgekrempelt und sie nach oben getragen. Das war mit Abstand das Schwierigste“, sagt Anja. „Und da ich im Bad nicht genug Platz habe, haben wir gedacht, wir lassen sie halt auf dem Balkon, das stört niemanden.“

      „Sie ist wirklich wunderschön, vor allem die Löwenpranken gefallen mir total“, stellt Petra fest und schlürft laut Cola.

      „Und schau. Da haben wir ein Schlauchsystem eingebaut. Wenn du die Wanne ausleeren willst, musst du nur den Schlauch in den Eimer legen, und das Wasser rinnt ab, es geht ganz leicht, da sie leicht erhöht ist. Willst du es probieren? Probier mal mit der Hand, das Wasser ist schon ganz warm.“

      „Leider habe ich meinen Bikini nicht dabei“, lacht Petra und lässt sich in den daneben stehenden Liegestuhl fallen. Bald ertönt ihr Smartphone, ihr Freund. Anja kann vom Telefongespräch spüren, dass die Freundin nicht länger bei ihr bleiben wird, und ist irgendwie erleichtert. Nicht, dass sie Petra nicht mag, im Gegenteil, sie schreibt ihre Diplomarbeit sogar auch über Kafka, wie Anja, aber jetzt ist nicht gerade der günstigste Moment für ein gemütliches Beisammensein.

      „Wenn du Lust hast, kannst du morgen Abend zu mir kommen. Lukas ist nicht da, ich habe auch eine Überraschung für dich, ich rufe dich noch an! So, jetzt muss ich aber los, er wartet schon bei der U-Bahnstation“, schließt Petra ab, küsst Anja auf die Wange, verschwindet genauso schnell wie sie hereingestürmt war.

      Petra weg, Handy auf lautlos, wieder die Couch, wieder Schubert, von vorne, aber diesmal fährt Anja wirklich ins Paradies und schläft ein. Als sie wieder aufwacht, ist die CD zu Ende und das Zimmer schon dämmrig. Zwei Anrufe in Abwesenheit, Antoine. Anja bereitet sich kurz mental vor und ruft zurück. Erst beim zweiten Versuch hebt er ab.

      Am anderen Ende der Leitung hört sie die genervte Stimme ihres Freundes nur sehr schlecht, denn hinter ihm läuft die Versammlung mit Schreien und Pfiffen, Anja bittet ihn immer wieder um Wiederholung des Gesagten, entschuldigt sich, sagt, sie sei eingeschlafen und erst jetzt aufgewacht, was ja auch stimmt, er sagt vorwurfsvoll, sie hätte den Wecker stellen sollen, sagt, man könne auf sie überhaupt nicht zählen, fragt sie, warum sie politisch so desinteressiert sei, ob ihr etwa alles egal sei … Anja rechtfertigt sich, behauptet, die Proteste seien absolut berechtigt, keine Frage – es reicht aber nicht, um Antoine zu überzeugen.

      „Spielen gleich die beleidigte Leberwurst, diese Franzosen“, denkt Anja, nachdem Antoine aufgelegt hat, schreibt dem Freund dennoch bald eine SMS, um sich noch mal für das Sitzenlassen zu entschuldigen.

      Ein glitzerndes Durcheinander von Balkonen, Dachterrassen, Giebeln, Schüssel- oder sonstigen Antennen. Über diesem städtischen Chaos blitzen die Rauchfänge aus rostfreiem Metall, die nebeneinander wie Orgelpfeifen aussehen. Wien ist nicht umsonst die Stadt der Musiker, selbst die Schornsteine erwecken den Eindruck, musizieren zu wollen. Anja streut Salz aus dem Toten Meer in die Badewanne. Der Himmel färbt sich mit orangefarbenen bis violetten Tönen, während sich die Sonne hinter dem Haus des Meeres verabschiedet und dabei die riesige Inschrift in Blockbuchstaben auf dem Gebäude unterstreicht:

      SMASHED TO PIECES

      Eine weitere Provokation. So hat sich Anja am Nachmittag in der U-Bahn gefühlt, von der Psyche in alle Stücke bis auf das Knochenmark zerschmettert. Jetzt fühlt sie sich allerdings erstaunlich wohl, sie kann es sich nicht erklären, aber in diesem Moment fühlt es sich an, als liege die Attacke sehr weit zurück, als wäre das Ganze vor langer Zeit passiert und kaum mehr wahr. Bald schiebt sich die Dunkelheit über das Dächermeer. Es blinken die Lichter eines Flugzeugs, das sich im Sinkflug auf Schwechat befindet. Anja zieht sich aus und steigt in die Wanne. Ist das angenehm! Bald weht eine abendliche Brise und lässt die Pappeln im Hof rauschen. Kurz darauf kommen vom dritten Stock vis-à-vis Nachbargeräusche herauf und mischen sich mit dem Rauschen der Pappeln. Anja richtet sich auf, Wassertropfen perlen auf ihren Nacken, hinter dem dünnen Vorhang bewegen sich Körperschatten, das weibliche Stöhnen hallt im Hof wider, monoton, mechanisch, automatisch, als hätte man eine Münze in eine Musikbox geworfen, immer wieder von tieferem Geröchel oder von lauten Wortfetzen begleitet, denn Sex ist ja auch Kommunikation. Anja schaut auf den Vorhang. Das Visuelle und das Akustische stimmen wie beim chinesischen Schattentheater perfekt überein. Das Stöhnen wird immer lauter, das Fleischknallen immer heftiger, yeah, Stille.

      Anja legt sich wieder hin, schlägt die Beine übereinander und schließt kurz die Augen. Durch ihre Bewegung bewegt sich auch das Wasser, und Anja glaubt einen Augenblick lang Meeresluft zu atmen, es riecht nach Salz, beinahe nach Tang, in regelmäßigen Abständen rauschen die Pappeln und klingen

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