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kreischenden Bremsen kam der Wagen zum Halten. Steffi und Bodo Kabut, ein junges Ehepaar so um die Mitte der Zwanzig, befanden sich auf der Heimfahrt aus dem Urlaub. Da sie schon seit acht Stunden unterwegs waren und erst in der nächsten größeren Stadt eine Pause einlegen wollten, hielt Steffi ihren Mann durch Erzählen einigermaßen munter. Bodo fuhr die auf der Landstraße erlaubten fünfzig Stundenkilometer Geschwindigkeit. Nur einen Augenblick war er nicht aufmerksam und übersah so wohl das Straßenschild, das auf die scharfe Biegung der Straße hinwies. So konnte es geschehen, daß sein Tempo für diese scharfe Kurve zu hoch war. Er dachte gerade noch, Gott sei Dank kommt mir kein Wagen entgegen, da schrie Steffi auch schon entsetzt auf: »Bodo, um Gottes willen, da auf der Straße, da sind Kinder!«

      Bodo Kabut trat voll auf die Bremse, spürte den harten Schlag, erst danach stand der Wagen. Bevor er reagieren konnte, riß seine Frau schon die Beifahrertür auf und sprang aus dem Wagen auf die Fahrbahn. Mit entsetzt aufgerissenen Augen starrte sie auf das leblose Bündel, das unweit von ihr neben die Fahrbahn geschleudert worden war. Nur einige Sekunden später beugte sie sich über ein lebloses Mädchen, legte ihr Ohr auf seine Brust. Ihre Stimme überschlug sich, als sie rief: »Bodo, Bodo, komm schnell, das Kind lebt noch!«

      Der junge Mann kam eilig hinzu und kniete im nächsten Moment neben den beiden.

      Behutsam trugen sie das besinnungslose Mädchen zum Wagen und betteten es auf dem Rücksitz. Anschließend sahen sie sich noch einmal genau um. Ungefähr zwei Meter hinter dem Wagen fand Bodo das zweite Mädchen und rief seine Frau zu sich.

      Entsetzt entfuhr es Steffi Kabut: »Um Himmels willen, Bodo. Das Kind hier ist ja höchstens vier oder fünf Jahre alt. In was sind wir da nur hineingeraten?«

      »Ich weiß es nicht, aber die Kleine scheint nicht schwer verletzt zu sein. Kannst du sie bis zur Kinderklinik in Ögela auf deinem Schoß halten?«

      »Sicher kann ich das, Bodo. Komm, wir müssen uns beeilen. Den Unfall können wir bestimmt von der Klinik aus melden. Wichtig sind jetzt die beiden Mädchen.«

      Ein paar Minuten später hatte Bodo Kabut seinen Wagen gewendet und fuhr den Weg zurück nach Ögela und von dort aus in die Richtung der Kinderklinik Birkenhain.

      *

      Während Schwester Regine das verunglückte Kind behutsam entkleidete, zog der junge Arzt eine Spritze auf, um der Patientin ein Herz- und Kreislauf stützendes Mittel zu injizieren. Er war gerade damit fertig, als Dr. Hanna Martens den Raum betrat. Mit knappen Worten informierte Dr. Michael Küsters sie und schloß: »Ich habe schon alles in die Wege geleitet, damit das Operationsteam bereit ist. Wie gesagt, es sieht ziemlich böse aus.«

      Hanna nickte mit ernstem Gesicht und wandte sich dem Mädchen auf dem Untersuchungstisch zu. Dabei sagte sie: »Kümmern Sie sich inzwischen um die Kleine. Stellen Sie fest, welche Verletzungen vorliegen.«

      In den nächsten Minuten wurde schweigend gearbeitet. Michael Küsters konnte bis auf einige harmlose Abschürfungen keinerlei Verletzungen bei dem jüngeren Mädchen feststellen. Bis auf die tiefe Bewußtlosigkeit waren alle Reflexe normal. Nachdem er auch bei diesem kleinen Mädchen einige Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatte, ließ er die Kleine von Schwester Regines Kollegin auf der Krankenstation abholen.

      Als Hanna ein paar Augenblicke später mit dem Ehepaar Kabut aus dem Wartezimmer trat und sich verabschiedete, kam ihr Bruder mit eiligen Schritten näher. Er sah in das ernste Gesicht Hannas und sagte: »Ich habe deine Mitteilung gelesen, da bin ich. Was ist passiert?«

      »Gott sei Dank, daß du doch früher hier sein konntest, Kay. Eine böse Sache. Komm, wir müssen in den OP. Ich werde dir auf dem Weg dorthin das Wichtigste erklären. Es wird wohl eine lange Nacht werden.«

      Nur wenig später begann im Operationssaal der Kinderklinik Birkenhain der Kampf um das Leben eines kleinen Mädchens.

      *

      Mit drei Minuten Verspätung lief der Eilzug, der aus Amsterdam kam, im Lüneburger Hauptbahnhof ein. Unter den Reisenden, die den Zug verließen, befand sich auch ein junger Mann. Es war der neunundzwanzigjährige Achim Degersen. Das Gesicht des Mannes war blaß und eingefallen. Das rechte Bein zog er nach. Mit leicht gebeugten Schultern ging er zum Gepäckschalter und nahm seine Koffer in Empfang. Anschließend sah er im Aushang nach, wann der nächste Zug nach Celle ging. Er hatte noch zehn Minuten Zeit. Sie reichten aus, um erneut sein schweres Gepäck aufzugeben. Alles allein zu tragen, dazu fühlte sich Achim Degersen noch nicht kräftig genug. Im letzten Augenblick überlegte er es sich anders und verließ den Bahnhof, um sich draußen auf den Vorplatz eine Taxe zu nehmen.

      Aufatmend ließ er sich in die Wagenpolster sinken und gab sein Fahrziel an.

      Achim Degersen hatte in den vergangenen Monaten sehr viel Zeit gehabt, über sein bisheriges Leben nachzudenken. Vor gut zwei Monaten hatte er einen schweren Arbeitsunfall erlitten, der ihm fast zwei Monate Krankenhausaufenthalt eingebracht hatte. Über einen Monat davon hatte er im Koma gelegen. Doch in der Zeit danach, bis zu seiner Entlassung aus dem Medicalcenter in Amsterdam, hatte er über sein Leben nachgedacht. Er hatte klar und überdeutlich erkannt, daß er so nicht weitermachen konnte. Die Schwiegermutter, und vor allen Dingen seine Kinder, sie brauchten ihn. Durch sein Vagabundenleben im Ausland konnte er die Vergangenheit auch nicht mehr ungeschehen machen. Er freute sich plötzlich auf das Heimkommen. Die Kinder, seine beiden kleinen Mädchen, wie würden sie reagieren, wenn er plötzlich wieder vor ihnen stand?

      Achim Degersen war so mit seinen Gedanken beschäftigt, daß er nicht bemerkte, daß die Taxe ihr Ziel erreicht hatte und mit sanftem Ruck hielt.

      »Wir sind da, mein Herr«, riß ihn die Stimme des Taxifahrers aus seinen Gedanken heraus.

      »Oh, entschuldigen Sie, ich war ganz in Gedanken. Was bin ich Ihnen schuldig?«

      Achim Degersen zahlte den geforderten Betrag und stieg aus. Er wartete noch ab, bis das Taxi abgefahren war, dann erst ging er mit langsamen Schritten auf die hübsche kleine Villa zu, die seit seiner Heirat auch seine Heimat und sein Zuhause geworden war, in der er bis zu Nicoles plötzlichem Tod gelebt hatte. Er wunderte sich zwar darüber, daß das Haus in tiefer Dunkelheit lag, denn soviel ihm bekannt war, blieb die Schwiegermutter an den Abenden immer sehr lange auf. Vielleicht hatte sie ihre Gewohnheiten inzwischen nur geändert. Eine ganze Weile betätigte er die Türklingel, doch niemand öffnete. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen eigenen Schlüssel hervorzusuchen, um ins Haus zu gelangen. Kurz darauf hatte er allen Grund, sich noch mehr zu wundern, denn das Haus stand leer. Aber wo waren die Schwiegermutter und die beiden Mädchen? Obwohl er sehr müde und erschöpft war und sein rechtes Bein schmerzte, verließ er noch einmal das Haus. Bei den Köhlers war schon alles dunkel, aber auf der anderen Seite drang aus einem der Fenster noch Licht nach draußen. Er läutete, und kurz darauf öffnete der alte Herr Andresen die Tür.

      »Sie, Herr Degersen… Wo kommen Sie denn her?« entfuhr es dem alten Herrn überrascht. »Sie waren ja lange nicht mehr daheim.«

      »Guten Abend, Herr Andresen. Entschuldigen Sie die späte Störung. Können Sie mir vielleicht sagen, ob meine Schwiegermutter mit den Kindern verreist ist, und wann sie eventuell zurückkommen?«

      »Sie wissen es also noch nicht, Herr Degersen?«

      »Was sollte ich denn wissen, Herr Andresen?«

      »Nun, soviel ich weiß, liegt Ihre Schwiegermutter in Celle im Krankenhaus. Dann war da jemand vom Jugendamt und hat die Kinder abgeholt. Frau Köhler wird Ihnen sicher mehr darüber sagen können, denn die beiden Mädchen waren für eine Nacht in ihrem Haus. Um diese Zeit werden Sie allerdings kaum noch etwas ausrichten können. Es geht ja immerhin schon auf dreiundzwanzig Uhr zu.«

      »Das ist mir klar, Herr Andresen. Vielen Dank für die Auskunft, und ich bitte um Entschuldigung für die späte Störung. Ich werde mich gleich morgen früh um meine Familie kümmern. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht.«

      Äußerlich sehr ruhig ging Achim Degersen in sein eigenes Haus zurück. Was er da von dem netten Nachbarn hatte hören müssen, hatte ihn schwer getroffen. Es war ein Schlag, den er erst einmal verkraften

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