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entgehen lassen, einen Serienkiller zu jagen?

      „Wie viel Bedenkzeit habe ich?“, fragte sie.

      „Ich gebe Ihnen eine Stunde Bedenkzeit. Mehr nicht. Ich brauche jetzt jemanden dran an dem Fall. Ich dachte, Sie und DeMarco könnten das gut übernehmen. Also, eine Stunde… je eher, desto besser.“

      Bevor sie „Okay“ oder „Danke“ sagen konnte, hatte Duran schon aufgelegt. Normalerweise war er freundlich und warmherzig, konnte aber sehr ungemütlich werden, wenn man nicht nach seiner Pfeife tanzte.

      So leise sie konnte, ging sie zum Bett herüber und setzte sich auf die Kante. Sie beobachtete Michelle beim Schlafen, beobachtete, wie der Atem langsam und methodisch ihren Brustkorb hob und senkte. Sie konnte sich genau daran erinnern, als Melissa noch so klein gewesen war und konnte sie sich nicht erklären, wo bloß die Zeit geblieben war. Und darum ging es; sie hatte auf Grund ihres Jobs so viel Zeit als Mutter verpasst. Trotzdem verspürte sie eine starke Bindung zu ihrem Job. Vor allem jetzt, da sie dort draußen sein konnte, auf der Jagd nach einem Killer.

      Was wäre sie für eine Person, wenn sie dieses Angebot ablehnte und Duran deshalb auf einen anderen Agenten zurückgreifen müsste, der womöglich nicht die gleichen Fähigkeiten mitbrächte wie sie selbst?

      Aber was für eine Mutter und Großmutter wäre sie, wenn sie jetzt Melissa anriefe mit der Bitte, sie möge ihre Tochter doch bitte früher abholen als vereinbart, weil das FBI sie wieder angerufen hatte?

      Noch weitere fünf Minuten starrte Kate Michelle an, legte sich sogar neben sie und legte ihr die Hand auf die Brust, um ihre Atmung zu spüren. Und das kleine Wesen zu sehen, das noch nichts über die Grausamkeiten wusste, die existierten, machte die Entscheidung viel leichter für Kate.

      Mit dem ersten finsteren Gesichtsausdruck des Tages griff sich Kate ihr Handy und rief Melissa an.

      ***

      Einmal, als Melissa ungefähr sechzehn Jahre alt war, hatte sie spätabends, als Kate und Michael schon schliefen, einen Jungen in ihr Zimmer geschmuggelt. Kate erwachte durch ein Geräusch (was sie später dafür gehalten hatte, dass jemandes Knie gegen die Wand schlug) und ging nach oben, um nachzuschauen. Als sie Melissas Tür aufmachte und ihre Tochter oben ohne mit einem Jungen im Bett vorfand, schmiss sie ihn vom Bett und schrie ihn an, dass er verschwinden solle.

      Die Wut in Melissas Augen damals war vergleichsweise gering gegen das, was sie jetzt sah, als sie nun Michelle gegen 21:30 Uhr in den Kindersitz schnallte – knapp eine Stunde, nachdem Duran Kate hinsichtlich des Falls in Roanoke angerufen hatte

      „Das ist voll daneben, Mama“, meinte sie.

      „Lissa, es tut mir leid. Aber was zum Teufel sollte ich denn machen?“

      „Also, soweit ich informiert bin, bleiben die Leute in Rente, wenn sie erstmal in Rente gegangen sind. Vielleicht probierst du es mal damit!“

      „So einfach ist das nicht“, entgegnete Kate.

      „Nee, ist klar, Mama“, sagte Melissa. „Mit dir war noch nie etwas einfach.“

      „Das ist nicht fair…“

      „Glaube nur nicht, dass ich sauer bin, weil du mir meinen einen freien Abend zum relaxen verkürzt. Darum geht es nicht. So egoistisch bin ich nicht. Im Gegensatz zu anderen Leuten. Ich bin sauer, weil dir dein Job – mit dem du vor über einem Jahr hättest durch sein sollen – immer noch wichtiger ist als deine Familie… nach Dad…“

      „Lissa, lass uns jetzt nicht davon anfangen.“

      Mit einer Zartheit, die sich weder in ihrer Stimme noch in ihrer Haltung wieder spiegelte, nahm Melissa den Kindersitz.

      „Ganz deiner Meinung. Lass uns das einfach seinlassen“, sagte Melissa, und dabei spuckte sie die Worte förmlich aus.

      Und damit ging sie zur Haustür hinaus, die sie hinter sich laut zuknallte.

      Kate wollte nach der Türklinke greifen, stoppte sich aber. Was sollte sie denn tun? Würde sie den Streit vor dem Haus weiterführen? Außerdem kannte sie Melissa sehr genau. Nach ein paar Tagen würde sie sich beruhigt haben und sich Kates Seite der Geschichte anhören. Vielleicht würde sie sogar Kates Entschuldigung annehmen.

      Wie eine Verräterin fühlte sie sich trotzdem, als sie nach ihrem Handy griff. Als sie Duran anrief, sagte er, dass er sowieso damit gerechnet hatte, dass sie den Fall übernehmen würde. Nach derzeitigem Stand hatte er jemanden von der Virginia State Police organisiert, der sich mit ihr und DeMarco morgen früh um 4:30 Uhr in Whip Springs traf. DeMarco hatte sich in Washington DC vor einer halben Stunden mit einem Wagen des FBI auf den Weg zu ihr gemacht. Sie sollte bei Kate ungefähr um Mitternacht ankommen. Kate wurde klar, dass sie Michelle leicht wie vereinbart bis 23 Uhr bei sich hätte behalten können und damit keine Konfrontation mit Michelle gehabt hätte. Aber darüber konnte sie jetzt nicht nachdenken.

      Das Tempo, in dem sich die Dinge entwickelten, hatte Kate ein wenig überrascht. Obwohl der letzte Fall, den sie übernommen hatte, auch scheinbar aus dem Nichts gekommen war, hatte er eine Art Struktur gehabt. Aber dass sie zum letzten Mal innerhalb nur einer Stunde solch einen Fall übernommen hatte, das war schon eine Weile her. Ihr war etwas mulmig zumute, aber sie war auch sehr aufgeregt – so sehr, dass sie sogar erst einmal Melissas Wut aus ihren Gedanken verbannen konnte.

      Dennoch durchfuhr sie ein stechender Gedanke, während sie die Tasche packte und auf DeMarco wartete. Dies war genau die Eigenschaft, die zwischen ihr und Melissa schon so viel Ärger heraufbeschworen hatte – nämlich die Eigenschaft, dass sie um des Jobs willen alles andere beiseite drängte.

      Aber auch diesen Gedanken schob sie jetzt mit Leichtigkeit beiseite.

      KAPITEL DREI

      Eines der vielen Dinge, die Kate während ihres letzten Falls über DeMarco gelernt hatte, war, dass sie pünktlich war. An diese Eigenschaft erinnerte sie sich, als es exakt um Mitternacht an der Tür klopfen hörte.

      Ich kann mich nicht an das letzte Mal erinnern, dass ich so spät noch Besuch bekommen habe, dachte sie. Im College vielleicht?

      Mit ihrer gepackten Tasche ging sie zur Tür. Aber als sie die Tür öffnete, sah sie, dass DeMarco keineswegs vorhatte, direkt wieder ins Auto zu steigen und zum Tatort zu rasen.

      „Auch wenn es unhöflich erscheinen mag, ich muss mal aufs Klo“, eröffnete ihr DeMarco. „Das war keine gute Idee, zwei Cola während der Fahrt runterzukippen, um wach zu bleiben.“

      Kate lächelte und trat zur Seite, um DeMarco vorbei zu lassen. Wenn man den Druck betrachtete, den Duran ihr gemacht hatte, erschien die Ruppigkeit der Situation als geradezu ungewollte Erleichterung. Auch gab es ihr ein Gefühl der Verbindung mit DeMarco, nachdem sie sich zuletzt vor fast zwei Monaten gesehen hatten; dass sie auf dem gleichen Level weitermachten, auf dem sie nach der Aufklärung des letzten Falls aufgehört hatten.

      Mit einem verschämten Lächeln im Gesicht erschien DeMarco einige Minuten später aus dem Bad.

      „Ach, und guten Morgen übrigens“, sagte Kate. Vielleicht lag es am Koffein, aber DeMarco schien zu dieser späten Stunde noch fit zu sein.

      „Ja, mir scheint, dass es morgens ist“, meinte sie, als sie auf die Uhr schaute.

      „Wann hast du den Anruf bekommen?“, fragte Kate.

      „Zwischen 20 und 21 Uhr, würde ich sagen. Ich wollte früher losfahren, aber Duran wollte erst hundertprozentig sicher sein, dass du dabei bist.“

      „Ja, das tut mir leid“, meinte Kate. „Ich hatte heute zum ersten Mal meine Enkelin zum babysitten hier bei mir.“

      „Oh nein. Wise… das ist ja jetzt echt blöd. Dass dir der Fall so in die Quere kommt...“

      Kate zuckte mit den Schultern und wedelte den Gedanken

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