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müsste? Er zog den Vorhang wieder zurück, die Lichter wirbelten herein und um alle verfügbaren Gegenstände herum, suchten hektisch etwas, von dem man vielleicht schon gehört hatte, das man aber nie sehen durfte. Berg blieb in einem Lichtstrahl stehen, strengte sich an, sich sein inneres Säuseln nicht anmerken zu lassen, oder den letzten Entwurf preiszugeben: den Regeln und Vorschriften der gewählten Rolle entsprechen; übergeben, versiegelt. Unterschrift, Vor- und Nachname, bitte hier ALISTAIR CHARLES HUMPHREY BERG, geboren am Dritten Dritten Neunzehnhunderteinunddreißig. Beruf des Vaters: ein Herr unbekannter Herkunft, Halunke erster Güte. Mutter: Dame unerreichten Formats, Mutter eines Genies …

      Jetzt, wo du nicht mehr bei der Armee bist, Aly, wirst du dir eine Arbeit suchen müssen.

      Mit Siebzehn Feststellung der Unfruchtbarkeit, gefolgt von heimlichen Injektionen: unheilbar. Aber denk an die anderen, die unweigerlich ihren Verpflichtungen nachkommen, er hatte noch Glück gehabt, sei dankbar für die kleinen Vergünstigungen, wenigstens war er nicht impotent.

       Also, mein Junge, welche Richtung willst du einschlagen, ich nehme an, du möchtest in die Fußstapfen deines Vaters treten, oder in den öffentlichen Dienst – da bist du gut versorgt, weißt du?

      Es lässt sich nicht leugnen, ist man erstmal abgeheftet, nummeriert und dokumentiert, wird man nie mehr vergessen. Wohlanständigkeit war es, was Edith schätzte, sie erwartete von ihm, ein guter tüchtiger Staatsbürger zu werden.

      Weißt du, ich habe die guten Dinge im Leben nie gehabt, Aly. Natürlich erwarte ich nicht von dir, dass du das verstehst, aber ich möchte, dass du bekommst, was ich nicht hatte.

      Das Märtyrer-Gehabe, die Husterei, manchmal die ganze Nacht lang, an den Wochenenden; eine besondere Rasur, stumpfe Klingen, ihre Freude daran, ihn mit Wattebäuschen abzutupfen.

      Wann kommst du wieder her, Aly? Du weißt, dass das nicht wahr ist, ich habe mich nur gefragt, mehr nicht, weil ich’s gerne wissen würde, aber du hast natürlich dein eigenes Leben und ich will dir nicht im Weg stehen.

      Ihrem Gesicht gegenüber, vom Hals aufwärts hochrot, ihre Hände flattern; der verblichene Glanz einer ersparten Geburtstagsbrosche am Aufschlag ihres Kunstpelzmantels, die verrostete Nadel hinten dran, die dir immer in der Kehle stecken blieb; die tränentrüben Augen, geholter Atem darf nicht entweichen, bis der Dampf der Lok mit den westwärts ziehenden Wolken verschmolz. Berg kniff die Augen zusammen, lehnte sich zurück; Jazz oder ein langsamer Walzer drang in Wellen zum Friedhof der Zellen, wie polierte Perlen, wenn man einmal dran zog, wie weit würden sie kullern? Verstehen Sie, wenn ich es zu erklären versuchte – nein, es hat keinen Zweck, wozu das beständige Beharren darauf, das Gewissen zu schmieren?

      Die Zeit bedeutungslos für dich bei der Erkundung rätselhafter Bergregionen, Seen, Dschungel innerhalb eines Deckengebiets. Ich ziehe mein Auge durch ein Schlüsselloch, die Tage sind an einer Schnur markiert; Gedanken unkontrollierte Serpentinen.

      Erfahrung in imaginären Stoff einweben, fiktive Rollen spielen oder ein Patt als Kompromiss wählen. Unter diesem Fantasiegespinst versammelt sich eine geheime Armee, schlägt jene nieder, die das Gerüst der Vergleiche belagern. Und dennoch geistern sie umher in ihrer bleichen Bestürzung und ihrem verbitterten Gebaren. Damals hattest du nichts zu geben außer einem einmal gesehenen Kreisel oder einer bewunderten blauen Windmühle. Idee und Abbild einander gegenübergestellt, sie drehten sich zwischen Mythos und Rationalität, die sonderbaren, im rechten Winkel verbrachten Jahre; wenn ich mich übernehme, kann ich sicher sein, eine Formel jenseits gewohnheitsmäßiger Bewegung wiederzugewinnen? Wie leicht wäre es, endlich hinüberzugleiten, es dem Rest zu überlassen, sich zu entlasten. Aber vergiss nicht, die Gesellschaft schuldet dir nichts, sich umzubringen ist daher keine Antwort, keine Belohnung für Missgunst, und wie sollte ich erfahren, ob es Freiheit bewiesen hätte. Denk an die Schaukeln, die Schießstände und Karussellpferde; schwindlig und benommen, klebrige Finger auf einer streunenden Katze, eine tote Drossel, ein betäubtes Karnickel; Kornblumen drängen ans Buntglas; Mohnblumen auf Weizenfeldern, der erste, zweite oder war es der dritte Kuss, den du gegeben hast, nicht auf die Lippen, im Heu; Rattengetrappel und Küsse später auf Parkbänken mit Kreide markiert: Ich hab’ die meisten. Sonnentage und der Duft nach selbstgebackenem Kuchen, Sahnebonbons, Falläpfeln; Ediths Gesicht wie unter einem Heiligenschein im Fenster der zerbombten Außentoilette. Ihr grabt, klettert, verkleidet euch, streckt euch die Zungen heraus, berührt euch da, was würden sie sagen, wenn sie’s wüssten? Hügel treffen auf Himmel, und jene, die Pfade mit Schnecken verzauberten oder Feuerräder in Hecken setzten; Raketen von anderen Planeten aus fehlgezündet; die ganze Galaxie: der Stuhl eines Riesen, man selbst ein Splitter im Bein. Mit Gänseblümchen an das Mädchen nebenan gekettet und neidisch auf jene, die größere Narzissen zwischen ihren Beinen hielten als du.

      Als er merkte, dass die Uhr stehengeblieben war, schaltete Berg das Licht ein. Ohne Kenntnis der Uhrzeit fühlte er sich aus der Bahn geworfen. Er presste sich an die Trennwand zum Nachbarzimmer. Waren sie schon im Bett, hatte jemand gehustet? Er ging ans Fenster, das Tanzlokal war geschlossen, was darauf hinwies, dass es lange nach elf war. Er lehnte sich hinaus, konnte aber die Uhr am Pub nicht erkennen. Na schön, dann würde er warten müssen, bis eine Uhr schlug. Er schaute die Abrechnungen durch, was sich aber als zu deprimierend erwies. Er blätterte in einer Zeitschrift, starrte eine Weile das Mädchen an, das sich in einem türkisfarbenen Bad einseifte. Ja, in der Seifenbranche hätte er’s weit bringen können, vernachlässigten Hausfrauen große zitronenförmige entgegenhalten, was ihnen und ihm eine gewisse Zeit lang Spaß bereitet hätte. Für Haarwuchs interessierten sich schließlich nur Männer. Zweimal nachts auftragen, spüren Sie, wie satin-weich und gut das ist. Warum habe ich dann keine Löwenmähne und brülle in der Stadt herum? Die Trennwand, hat sie sich nicht gerade bewegt? Er presste sich fester dagegen. Waren sie beide direkt auf der anderen Seite, der Alte, kroch er wie ein Maulwurf über ihre Fleischberge? Benutz es als Vorwand, erkundige dich nach der Zeit, nimm die Uhr mit zum Beweis.

      Er klopfte an ihre Tür, strich mit der Pfote eines Panthers darüber, bis ein Hämmern daraus wurde, auf das niemand reagierte. Er versuchte den Türgriff. Sie waren da, sich so zu verstellen, er hatte sie ja wohl kaum im Schlaf gestört. Er hustete und schnaubte, ging dabei zügig im Flur auf und ab. Sollte er in sein Zimmer zurückkehren, von dort aus rufen, schreien vielmehr, als hätte er einen Alptraum? Er blieb oben im Flur stehen, abgeschnitten vom Rest des Hauses, vom Viertel. Waren sie ausgegangen, oder tot – zu schnell kopuliert, zu viel? Gebeugten Hauptes stieg er eine Stufe hinab, überlegte sich den nächsten Schritt. Die anderen Türen waren während seines Aufenthalts Teil der Wände geblieben, gelegentlich drang das leise Murmeln oder Summen eines Radios durch einen Spalt. Aber wenn er klopfte, sich nach der Zeit erkundigte, würde dann der Spalt nicht sofort geschlossen werden, keinen Raum mehr für einen Blick, geschweige denn einen Finger bieten? Er verharrte auf der Türschwelle, knapp zweihundert Meter vom Palais de Dance entfernt. Bunte Karten, geplatzte Ballons, Verhüterli trennten den Bürgersteig von der Straße. Berg beugte sich leicht vor, um die Uhr am Pub zu erkennen. Auf dem Rücken starrte er die Gebäude an, Riesen auf dem Vormarsch. Schnapp dir die Sterne, zieh den Mond heraus als meinen Nabel, ein Knopfloch zur persönlichen Identifizierung.

      Ein Schatten schob sich über sein Gesicht. Er breitete die Arme aus. Ich flehe darum, zurückgelassen zu werden, wo ich bin, ich wurde beschenkt, ich bin zufrieden, im Einklang mit meiner Welt. Er schloss die Augen und rollte in Embryohaltung vom Bürgersteig.

      Seine Lippen, trockenes Laub, öffneten sich langsam. War ich je drinnen?

      Ediths Tränen, sie kommt nicht zurecht, schüchtern unter robusten Müttern. Du hattest entdeckt: Schlafsaalfreuden, wer im Alter von neun Jahren als hübscher Junge gilt, kann ausgenutzt werden.

      Oh Aly, mir wäre lieber, du wärst gestorben, als mir so eine entsetzliche Schande zu machen, so einen schrecklichen Kummer. Ich verstehe nicht die böse Lust in dir, du hast mir alle Freude am Leben genommen.

      Aufgeschürfte Knubbelknie, lockiges Haar; er ist ein Weich- ei, ein ganz gewöhnliches Weichei; hat keinen Vater, seine Mutter verkauft sich, um das Schulgeld zu bezahlen; dummer verweichlichter Berg, er ist so kalt, er kann nicht mal kacken. War das damals ein Spiel, dass man etwas bekam und es einem früher oder später wieder

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