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Schmal und silbern hängt er über diesen Elendsgräben. Ob Du ihn heute abend auch siehst über dem Ahornwäldchen? Ich lege ein Stück Papier mit einem Gedicht bei. Ich habe es eines Abends auf meinem Platz im Schützengraben geschrieben, beim Schein eines Kerzenstummels, das heißt, dort ist es mir eingefallen. Ich hatte gar nicht das Gefühl, als ob ich es schreibe – es war, als würde mich irgend etwas als Instrument benutzen. So etwas ist mir schon ein- oder zweimal passiert, aber nur sehr schwach, nie so stark wie diesmal. Deshalb habe ich es diesmal an die Londoner Zeitung Spectator geschickt. Sie haben es gedruckt, und heute habe ich die Kopie davon bekommen. Ich hoffe, es gefällt Dir. Es ist das einzige Gedicht, das ich seit meiner Überfahrt geschrieben habe.“

      Das Gedicht war kurz, aber sehr rührend. In nur einem Monat trug es Walters Namen um die ganze Welt. Überall wurde es veröffentlicht: in den Tageszeitungen der großen Städte und in den Wochenblättern der kleinen Dörfer, in kritischen Zeitschriften und „Seufzerspalten“, in Rotkreuzaufrufen und in der Rekrutierungspropaganda der Regierung. Mütter und Schwestern brachen beim Lesen in Tränen aus, Jugendliche waren ganz hingerissen davon, für die Menschen auf der ganzen Welt war es der Inbegriff all des Schmerzes, der Hoffnung, des Elends und des Zieles dieses ungeheuren Konflikts, der in drei kurzen, unvergänglichen Versen seinen Ausdruck fand. Ein junger Kanadier aus den Schützengräben von Flandern hatte das Kriegsgedicht geschrieben. Der Pfeifer von Walter Blythe war von seiner ersten Veröffentlichung an ein Klassiker.

      Rilla schrieb es an den Anfang eines Tagebuchkapitels, in dem sie von der schweren Zeit der vergangenen Woche berichtete.

      „Es war eine ganz schreckliche Woche“, schrieb sie. „Obwohl sie jetzt vorbei ist und obwohl wir jetzt wissen, daß alles ein Irrtum war, hat sie ihre Spuren hinterlassen. Anders gesehen war es eine sehr schöne Woche, und ich habe ein paar ganz neue Erfahrungen gewonnen – nämlich wie freigebig und wie mutig die Menschen inmitten all dieses Schreckens sein können. Miss Oliver hat sich besonders großartig verhalten, das könnte ich nie.

      Vor genau einer Woche bekam sie einen Brief von Mr. Grants Mutter aus Charlottetown. Sie schrieb, sie hätte gerade ein Telegramm bekommen, daß Major Robert Grant vor ein paar Tagen gefallen sei.

      Die arme Gertrude! Zuerst war sie erschüttert. Aber schon einen Tag danach riß sie sich zusammen und ging wieder in die Schule. Sie weinte nicht – ich habe sie überhaupt noch nie weinen sehen —, aber ihr Gesicht und ihre Augen!

      ‚Ich muß mit meiner Arbeit weitermachen‘, sagte sie. ‚Gerade jetzt ist das meine Pflicht.‘

      Ich hätte das nie geschafft; das muß man ihr wirklich hoch anrechnen.

      Auch ihre Worte verrieten keinen Schmerz, außer einmal, als Susan sagte, endlich sei es Frühling. Da sagte Gertrude: ‚Kann es dieses Jahr wirklich Frühling werden?‘ Dann lachte sie – aber es war ein ganz schreckliches Lachen, so wie man vielleicht dem Tod ins Gesicht lacht, und sie sagte: ‚Ich weiß, das ist egoistisch. Bloß weil ich, Gertrude Oliver, einen Freund verloren habe, soll man sich nicht vorstellen können, daß es Frühling wird wie immer. Wieso sollte der Frühling ausbleiben, bloß weil Millionen Menschen leiden – aber wenn ich leide – ach, wie kann die Welt sich nur weiterdrehen?‘

      ‚Sie dürfen nicht so hart mit sich sein‘, sagte Mutter freundlich. ‚Wenn ein solcher Schlag unser Leben verändert, dann ist es ganz natürlich, wenn man das Gefühl hat, nichts kann so weitergehen wie bisher. Das geht jedem so.‘

      Darauf hub diese schreckliche alte Cousine Sophia an. Sie saß da und strickte und jammerte und krächzte ‚wie ein alter Rabe‘, wie Walter immer gesagt hatte.

      ‚Es gibt Leute, denen geht es schlechter als Ihnen, Miss Oliver‘, sagte sie, ‚das müssen Sie nicht so schwer nehmen. Manche haben ihre Ehemänner verloren; das ist ein harter Schlag! Und manche ihre Söhne. Sie haben doch weder einen Mann noch einen Sohn verloren.‘

      ‚Nein‘, sagte Gertrude barsch. ‚Stimmt, ich habe nicht meinen Mann verloren. Ich habe nur den Mann verloren, der mein Mann geworden wäre. Stimmt, ich habe keinen Sohn verloren – nur die Söhne und Töchter, die ich vielleicht bekommen hätte und die ich jetzt nie mehr bekomme.‘

      ‚Es gehört sich nicht für eine Dame, so zu reden‘, sagte Cousine Sophia schockiert. Darauf mußte Gertrude laut lachen, so laut, daß Cousine Sophia es mit der Angst zu tun bekam. Und als die arme Gertrude es nicht länger ertragen konnte und aus dem Zimmer lief, da meinte Cousine Sophia zu Mutter, ob dieser Schlag vielleicht Miss Olivers Gemüt angegriffen hätte.

      ,Ich mußte den Verlust von zwei sehr guten Freunden ertragen‘, sagte sie. ‚Aber so hat mich das nicht getroffen.’

      Das glaube ich auch. Die armen Männer müssen froh gewesen sein, daß sie sterben durften.

      Ich habe gehört, wie Gertrude fast die ganze Nacht in ihrem Zimmer auf und ab gewandert ist. Jede Nacht ging sie auf und ab, aber in jener Nacht besonders lang. Und einmal hörte ich einen kurzen Schrei, als ob sie erdolcht würde. Ich konnte nicht schlafen, weil sie mir so leid tat; und ich konnte ihr nicht helfen. Ich dachte, die Nacht ginge nie zu Ende. Aber dann ging sie doch zu Ende, und ‚Freude kam am Morgen‘, wie die Bibel sagt. Genaugenommen kam die Freude nicht am Morgen, sondern am späten Nachmittag. Das Telefon läutete, und ich ging dran. Es war die alte Mrs. Grant aus Charlottetown. Sie sagte, es wäre alles ein Irrtum gewesen, Robert wäre überhaupt nicht gefallen. Er wäre nur am Arm leicht verletzt worden und läge jetzt für einige Zeit sicher im Krankenhaus. Niemand wisse bis jetzt, wie es zu dem Irrtum gekommen sei, aber wahrscheinlich hätte es noch einen mit dem Namen Robert Grant gegeben.

      Ich hängte den Hörer ein und flog hinunter zum Regenbogental. Ja, bestimmt, ich flog, ich kann mich nicht erinnern, auch nur einmal den Boden berührt zu haben. Ich traf Gertrude auf dem Heimweg von der Schule, bei den Fichten, wo wir früher gespielt haben. Atemlos platzte ich mit der Neuigkeit heraus. Ein bißchen mehr Verstand hätte ich schon haben können! Ich als Arzttochter! Aber ich war so verrückt vor Freude und Aufregung, daß ich mir einfach keine Gedanken machte. Gertrude fiel in Ohnmacht, mitten in das leuchtende junge Farnkraut hinein, als ob sie jemand erschossen hätte. Der Schreck ist mir – zumindest in dieser Hinsicht – für den Rest des Lebens eine Lehre. Ich dachte, sie wäre tot, mir fiel ein, daß ihre Mutter schon in jungen Jahren ganz plötzlich an Herzversagen gestorben war. Mir kam es vor wie eine Ewigkeit, bis ich merkte, daß ihr Herz noch schlug. Das war vielleicht lustig! Ich habe noch nie jemand in Ohnmacht fallen sehen, und ich konnte keine Hilfe holen, weil niemand zu Hause war. Sie waren alle zum Bahnhof gegangen, um Di und Nan abzuholen, die aus Redmond kamen. Aber ich wußte – theoretisch zumindest —, was man tun muß, wenn jemand in Ohnmacht gefallen ist. Und jetzt weiß ich es sogar praktisch. Zum Glück war der Bach in greifbarer Nähe, und nachdem ich ihr eine Handvoll Wasser nach der anderen ins Gesicht geschüttet hatte, kam sie wieder zu sich. Sie sagte kein Wort zu der Neuigkeit, und ich traute mich auch nicht, noch mal davon anzufangen. Ich stützte sie auf dem Weg durchs Ahornwäldchen bis hinauf zu ihrem Zimmer, und dann sagte sie: ‚Rob – ist – am Leben‘, als ob ihr die Worte aus dem Leib gerissen würden; dann warf sie sich aufs Bett und weinte und weinte und weinte. Ich habe noch nie jemanden so weinen sehen. All die Tränen, die sie die ganze Woche nicht vergossen hatte, weinte sie jetzt. Ich glaube, sie hat fast die ganze letzte Nacht geweint, aber heute morgen machte sie ein Gesicht, als hätte sie irgendeine Vision gehabt. Wir waren alle so glücklich, daß es uns fast angst gemacht hat.

      Di und Nan sind für ein paar Wochen zu Hause. Dann nehmen sie ihre Rotkreuzarbeit im Trainingslager von Kingsport wieder auf. Ich beneide sie. Vater sagt, was ich hier mache mit Jims und meinem Jugend-Rotkreuz sei genauso wertvoll. Aber das ist nicht so romantisch wie das, was sie machen.

      Kut ist gefallen. Es war fast eine Erleichterung, weil wir es schon so lange befürchtet haben. Einen Tag lang waren wir getroffen davon, dann nahmen wir uns zusammen und ließen es hinter uns. Cousine Sophia sah schwarz wie immer. Sie kam herüber und stöhnte, die Briten würden aber auch überall verlieren.

      ‚Sie sind gute Verlierer‘, sagte Susan grimmig. ‚Wenn sie was verloren haben, dann suchen sie so lange herum, bis sie es wiederfinden! Wie dem auch sei, mein König und mein Land brauchen mich jetzt, um Kartoffelsetzlinge für den Hinterhof abzuschneiden,

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