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Spieß­bür­ger­tum fühl­te sich die­ser fa­bel­haf­ten, zer­fah­re­nen, aus Rand und Band ge­kom­me­nen, die­ser ent­gleis­ten, ent­wur­zel­ten, quer über den Weg ge­wor­fe­nen Exis­tenz ge­gen­über in sei­ner gan­zen Staats- und Kom­mu­nal­steu­er zah­len­den, Kirch­stuhl ge­mie­tet ha­ben­den, von der Po­li­zei be­wach­ten und von sämt­li­chen fürst­li­chen Be­hör­den über­wach­ten, glo­rio­sen Si­cher­heit und sprach sich dem­ge­mäß aus, und der Papa Ha­ge­bu­cher wäre der letz­te ge­we­sen, wel­cher für sei­nen Afri­ka­ner das Wort er­grif­fen hät­te.

      Es war ja der Tag des Papa Ha­ge­bu­cher. Er hat­te die­se Ver­samm­lung be­ru­fen, um sich von ihr in sei­nen in­ners­ten An­schau­un­gen recht ge­ben zu las­sen. Er moch­te den Ver­lust des Soh­nes noch so sehr be­dau­ert, ja be­trau­ert ha­ben: die plötz­li­che und so gänz­lich anor­ma­le Rück­kehr muss­te ihm na­tur­ge­mäß doch noch fa­ta­ler wer­den. Die fro­he Über­ra­schung ging all­mäh­lich in eine mür­ri­sche, grü­beln­de Ver­stim­mung über; – be­rech­nen ließ sich hier nichts mehr, denn sämt­li­che Zif­fern wa­ren aus­ge­löscht, nur ein Fa­zit stand zu­letzt klar da: »Der Bur­sche lief fort, weil er ein­sah, dass man ihn hier nicht ge­brau­chen kön­ne; man hat ihn auch dort nicht ge­brau­chen kön­nen, er ist heim­ge­kom­men, und ich habe ihn wie­der auf dem Hal­se!«

      Klar war die Rech­nung, doch nicht tröst­lich, und es war je­den­falls wün­schens­wert, dass die lie­be Freund­schaft und Ver­wandt­schaft ihre Un­ter­schrif­ten oder drei Kreu­ze zu dem Wahr­spruch her­ge­be. Man hat­te sich denn doch zu recht­fer­ti­gen vor der Welt, und das konn­te nicht bes­ser be­werk­stel­ligt wer­den, als wenn man sie von An­fang an mit­ver­ant­wort­lich mach­te. Es war auch kei­ne Klei­nig­keit, wenn man sich hin­ter der grü­nen Gar­di­ne des Ehe­betts auf das Ur­teil der Tan­te Schnöd­ler, die Mei­nung des Bru­der Stadt­rats oder des Vet­ter Sacker­manns be­ru­fen konn­te – man trug die Verant­wort­lich­keit je­den­falls nicht gern al­lein.

      Es war ein sehr großer Tag, und Lina Ha­ge­bu­cher hielt zu­letzt ganz ängst­lich die Faust ih­res Bru­ders, denn sie konn­te viel schär­fer als die Mut­ter für ihn füh­len und be­ob­ach­te­te mit Zit­tern, wie sei­ne Stirn von Au­gen­blick zu Au­gen­blick dunk­ler wur­de und es im­mer grim­mi­ger aus sei­nen Au­gen wet­ter­leuch­te­te. Je­der hat­te sei­nen Rat zu ge­ben und gab ihn gern und aus­führ­lich. Es war gar nicht so schwer, sich an­stän­dig durchs Le­ben zu brin­gen, wenn nur der gute Wil­le dazu vor­han­den war; ver­schie­de­ne Wege führ­ten noch aus der Nichts­nut­zig­keit hin­über in die wün­schens­wer­tes­te Re­spek­ta­bi­li­tät, und ein je­der stell­te sich mit Ver­gnü­gen als Weg­wei­ser auf den Kreuz­weg, vor­züg­lich die Tan­te Schnöd­ler, wel­che sich räus­per­te und sprach:

      »Es ist nicht ge­nug, dass der Mensch den Schnei­der kom­men und sich ein neu Ha­bit an­mes­sen las­se; es ge­hört noch mehr dazu, um wie­der ein an­stän­di­ger groß­her­zog­li­cher Staats­bür­ger und Un­ter­tan zu wer­den. Da könn­te je­der Lum­pa­zi kom­men, der sein alt zer­lumpt Wams am Gra­ben­rand zum öf­fent­li­chen Ekel ab­ge­tan und das ge­stoh­le­ne neue an­ge­zo­gen hat! Der Mensch und wil­de In­dia­ner muss auch geist­lich nach dem Bal­bie­rer schi­cken und kei­ne Ge­sich­ter schnei­den, wenn Leu­te zu ihm re­den, die im Lan­de ge­blie­ben sind und sich in Got­tes­furcht fünf­und­zwan­zig Jah­re red­lich ge­nährt ha­ben, was ich üb­ri­gens nur bei­läu­fig und zum Bes­ten von der fer­nern gu­ten Freund­schaft­lich­keit ge­sagt ha­ben will. Was ich nun dem Leon­hard ra­ten will, das ist, er tut al­les hoch­mü­ti­ge und aus­län­di­sche We­sen ab und fängt da wie­der an, wo er auf­ge­hört hat, das heißt, da es mit ei­nem Pas­tor nun­mehr wohl nim­mer­mehr was wer­den wird, so geht er zum Vet­ter Stadt­rat, lässt sich von neu­em in die Schrei­be­rei ein­schie­ßen und kann’s mit der Zeit und der Nach­hil­fe von der Ver­wandt­schaft wie­der zu ei­nem nütz­li­chen Mit­glie­de vons Ge­mein­we­sen und bis zum Rats­s­kri­ben­ten brin­gen.«

      »Als wozu der Herr Nef­fe we­nig Lust zu ha­ben schei­nen, wenn man nach sei­ner Mie­ne ur­tei­len dürf­te«, sprach der On­kel Ha­ge­bu­cher mit ei­nem we­nig freund­li­chen Sei­ten­blick auf den Ver­wand­ten aus Abu Tel­fan.

      »Sprich ’n Wort, Schnöd­ler! Sage dei­ne Mei­nung, Leon­hard! Las­set euch aus, Steue­rin­spek­tor und Cou­si­ne Ha­ge­bu­cher! Sa­gen Sie item, was nö­tig ist, Vet­ter Sacker­mann!« rief die Tan­te Schnöd­ler. »Ich aber sage, dass wir hier in Nip­pen­burg nicht im afri­ka­ni­schen Moh­ren­lan­de le­ben und dass kein Mensch es prä­ten­die­ren kann, dass wir uns in die Moh­ren schi­cken; son­dern die Moh­ren wer­den sich in uns schi­cken müs­sen, wenn sie mit uns hau­sen wol­len. Rats­schrei­ber zu Nip­pen­burg – hun­dert­und­fünf­und­sech­zig Ta­ler jähr­lich bar, acht­zig Ta­ler Spor­teln und zwei Klaf­ter Holz – und solch ein Ge­sicht! Sind wir viel­leicht ein re­gie­ren­der Kö­nig im Moh­ren­lan­de ge­we­sen? Wenn das ist, so ha­ben wir frei­lich nichts mehr zu sa­gen, und es han­delt sich frei­lich nur um ein Re­tour­bil­lett auf dem Post­wa­gen und der Ei­sen­bahn nach Afri­ka, und ich emp­feh­le mich dem Herrn Po­ten­ta­ten ganz ge­hor­samst und sage nichts mehr.«

      Die süße Hei­mat fing an, einen selt­sa­men in­dia­ni­schen Krie­ge­stanz um den ar­men Leon­hard auf­zu­füh­ren. Die Mut­ter hielt das Ta­schen­tuch vor die Au­gen; der Va­ter sog mür­risch an der er­lo­sche­nen Pfei­fe; Lina drück­te sich im­mer fes­ter an den Bru­der; die bei­den jün­gern Vet­tern, wel­che noch mit dem Afri­ka­ner die Uni­ver­si­tät be­sucht hat­ten, lach­ten; die Fa­mi­lie Sacker­mann blick­te glä­sern im Krei­se um­her; die Tan­te Kle­men­ti­ne nahm ver­stoh­len eine Pri­se, und der un­be­nann­te Ver­wand­ten­cho­rus be­schäf­tig­te sich un­ter lei­sem Ge­mur­mel mit den Kaf­fee­tas­sen und dem fest­li­chen Ge­bäck des großen Ta­ges; der On­kel Was­ser­tre­ter wür­de das Wort er­grif­fen ha­ben, wenn Leon­hard es nicht vor­her ge­nom­men hät­te.

      Er – der Mann aus Tu­mur­kie – er, wel­cher so vie­len Ge­fah­ren zu Was­ser und zu Lan­de kalt­blü­tig ge­trotzt hat­te, er, wel­cher das Le­ben ei­nes El­fen­bein­händ­lers auf dem Wei­ßen Nil mit al­len sei­nen Schreck­nis­sen ken­nen­ge­lernt hat­te, er, wel­cher den großen Si­gnor Luca Mol­lo, ge­nannt Se­mi­bec­co, im Glück und Un­glück und zu­letzt auf dem Pfah­le der Bag­ga­ra­ne­ger be­ob­ach­ten, stu­die­ren durf­te: er fühl­te sich der jet­zi­gen Stun­de nicht ge­wach­sen. Es schwamm ihm vor den Au­gen, im Krei­se dreh­te sich die Ver­wandt­schaft, die Tan­te Schnöd­ler wuchs be­denk­lich über Ma­dam Kul­la Gul­la hin­aus, und ihre röt­lich an­ge­hauch­te Na­sen­spit­ze er­schi­en nicht we­ni­ger be­droh­lich als die mit Hen­na rot­ge­färb­ten scharf­nä­ge­li­gen Kral­len der Tu­mur­kie­rin: die At­mo­sphä­re des Va­ter­hau­ses wur­de be­ängs­ti­gen­der als die hei­ße Luft der Lehm­hüt­ten zu Abu Tel­fan.

      Mit Stot­tern sprach Leon­hard Ha­ge­bu­cher gleich ei­nem, wel­cher sich müh­sam in ei­ner frem­den, un­ge­wohn­ten Spra­che aus­zu­drücken hat:

      »Ach, teu­re Ver­wand­te und An­ge­hö­ri­ge, könn­tet ihr doch in mei­ner See­le le­sen! Je­der Bluts­trop­fen, den ich heim­ge­bracht habe, ge­hört dem Va­ter­lan­de. Ib­lis möge es neh­men! Aber be­den­ket, welch ein großes Kind euch wie­der auf die Arme ge­fal­len ist. O könn­te doch je­der von euch eine Vier­tel­stun­de in mei­ner Haut zu­brin­gen, es wür­de ihm dann ge­wiss be­greif­li­cher er­schei­nen, dass man nicht heu­te Rats­schrei­ber

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