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Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke
Год выпуска 0
isbn 9783962816056
Автор произведения Wilhelm Raabe
Жанр Языкознание
Серия Gesammelte Werke bei Null Papier
Издательство Bookwire
Es war ja der Tag des Papa Hagebucher. Er hatte diese Versammlung berufen, um sich von ihr in seinen innersten Anschauungen recht geben zu lassen. Er mochte den Verlust des Sohnes noch so sehr bedauert, ja betrauert haben: die plötzliche und so gänzlich anormale Rückkehr musste ihm naturgemäß doch noch fataler werden. Die frohe Überraschung ging allmählich in eine mürrische, grübelnde Verstimmung über; – berechnen ließ sich hier nichts mehr, denn sämtliche Ziffern waren ausgelöscht, nur ein Fazit stand zuletzt klar da: »Der Bursche lief fort, weil er einsah, dass man ihn hier nicht gebrauchen könne; man hat ihn auch dort nicht gebrauchen können, er ist heimgekommen, und ich habe ihn wieder auf dem Halse!«
Klar war die Rechnung, doch nicht tröstlich, und es war jedenfalls wünschenswert, dass die liebe Freundschaft und Verwandtschaft ihre Unterschriften oder drei Kreuze zu dem Wahrspruch hergebe. Man hatte sich denn doch zu rechtfertigen vor der Welt, und das konnte nicht besser bewerkstelligt werden, als wenn man sie von Anfang an mitverantwortlich machte. Es war auch keine Kleinigkeit, wenn man sich hinter der grünen Gardine des Ehebetts auf das Urteil der Tante Schnödler, die Meinung des Bruder Stadtrats oder des Vetter Sackermanns berufen konnte – man trug die Verantwortlichkeit jedenfalls nicht gern allein.
Es war ein sehr großer Tag, und Lina Hagebucher hielt zuletzt ganz ängstlich die Faust ihres Bruders, denn sie konnte viel schärfer als die Mutter für ihn fühlen und beobachtete mit Zittern, wie seine Stirn von Augenblick zu Augenblick dunkler wurde und es immer grimmiger aus seinen Augen wetterleuchtete. Jeder hatte seinen Rat zu geben und gab ihn gern und ausführlich. Es war gar nicht so schwer, sich anständig durchs Leben zu bringen, wenn nur der gute Wille dazu vorhanden war; verschiedene Wege führten noch aus der Nichtsnutzigkeit hinüber in die wünschenswerteste Respektabilität, und ein jeder stellte sich mit Vergnügen als Wegweiser auf den Kreuzweg, vorzüglich die Tante Schnödler, welche sich räusperte und sprach:
»Es ist nicht genug, dass der Mensch den Schneider kommen und sich ein neu Habit anmessen lasse; es gehört noch mehr dazu, um wieder ein anständiger großherzoglicher Staatsbürger und Untertan zu werden. Da könnte jeder Lumpazi kommen, der sein alt zerlumpt Wams am Grabenrand zum öffentlichen Ekel abgetan und das gestohlene neue angezogen hat! Der Mensch und wilde Indianer muss auch geistlich nach dem Balbierer schicken und keine Gesichter schneiden, wenn Leute zu ihm reden, die im Lande geblieben sind und sich in Gottesfurcht fünfundzwanzig Jahre redlich genährt haben, was ich übrigens nur beiläufig und zum Besten von der fernern guten Freundschaftlichkeit gesagt haben will. Was ich nun dem Leonhard raten will, das ist, er tut alles hochmütige und ausländische Wesen ab und fängt da wieder an, wo er aufgehört hat, das heißt, da es mit einem Pastor nunmehr wohl nimmermehr was werden wird, so geht er zum Vetter Stadtrat, lässt sich von neuem in die Schreiberei einschießen und kann’s mit der Zeit und der Nachhilfe von der Verwandtschaft wieder zu einem nützlichen Mitgliede vons Gemeinwesen und bis zum Ratsskribenten bringen.«
»Als wozu der Herr Neffe wenig Lust zu haben scheinen, wenn man nach seiner Miene urteilen dürfte«, sprach der Onkel Hagebucher mit einem wenig freundlichen Seitenblick auf den Verwandten aus Abu Telfan.
»Sprich ’n Wort, Schnödler! Sage deine Meinung, Leonhard! Lasset euch aus, Steuerinspektor und Cousine Hagebucher! Sagen Sie item, was nötig ist, Vetter Sackermann!« rief die Tante Schnödler. »Ich aber sage, dass wir hier in Nippenburg nicht im afrikanischen Mohrenlande leben und dass kein Mensch es prätendieren kann, dass wir uns in die Mohren schicken; sondern die Mohren werden sich in uns schicken müssen, wenn sie mit uns hausen wollen. Ratsschreiber zu Nippenburg – hundertundfünfundsechzig Taler jährlich bar, achtzig Taler Sporteln und zwei Klafter Holz – und solch ein Gesicht! Sind wir vielleicht ein regierender König im Mohrenlande gewesen? Wenn das ist, so haben wir freilich nichts mehr zu sagen, und es handelt sich freilich nur um ein Retourbillett auf dem Postwagen und der Eisenbahn nach Afrika, und ich empfehle mich dem Herrn Potentaten ganz gehorsamst und sage nichts mehr.«
Die süße Heimat fing an, einen seltsamen indianischen Kriegestanz um den armen Leonhard aufzuführen. Die Mutter hielt das Taschentuch vor die Augen; der Vater sog mürrisch an der erloschenen Pfeife; Lina drückte sich immer fester an den Bruder; die beiden jüngern Vettern, welche noch mit dem Afrikaner die Universität besucht hatten, lachten; die Familie Sackermann blickte gläsern im Kreise umher; die Tante Klementine nahm verstohlen eine Prise, und der unbenannte Verwandtenchorus beschäftigte sich unter leisem Gemurmel mit den Kaffeetassen und dem festlichen Gebäck des großen Tages; der Onkel Wassertreter würde das Wort ergriffen haben, wenn Leonhard es nicht vorher genommen hätte.
Er – der Mann aus Tumurkie – er, welcher so vielen Gefahren zu Wasser und zu Lande kaltblütig getrotzt hatte, er, welcher das Leben eines Elfenbeinhändlers auf dem Weißen Nil mit allen seinen Schrecknissen kennengelernt hatte, er, welcher den großen Signor Luca Mollo, genannt Semibecco, im Glück und Unglück und zuletzt auf dem Pfahle der Baggaraneger beobachten, studieren durfte: er fühlte sich der jetzigen Stunde nicht gewachsen. Es schwamm ihm vor den Augen, im Kreise drehte sich die Verwandtschaft, die Tante Schnödler wuchs bedenklich über Madam Kulla Gulla hinaus, und ihre rötlich angehauchte Nasenspitze erschien nicht weniger bedrohlich als die mit Henna rotgefärbten scharfnägeligen Krallen der Tumurkierin: die Atmosphäre des Vaterhauses wurde beängstigender als die heiße Luft der Lehmhütten zu Abu Telfan.
Mit Stottern sprach Leonhard Hagebucher gleich einem, welcher sich mühsam in einer fremden, ungewohnten Sprache auszudrücken hat:
»Ach, teure Verwandte und Angehörige, könntet ihr doch in meiner Seele lesen! Jeder Blutstropfen, den ich heimgebracht habe, gehört dem Vaterlande. Iblis möge es nehmen! Aber bedenket, welch ein großes Kind euch wieder auf die Arme gefallen ist. O könnte doch jeder von euch eine Viertelstunde in meiner Haut zubringen, es würde ihm dann gewiss begreiflicher erscheinen, dass man nicht heute Ratsschreiber