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auf den grob gefertigten Riegel. Dann hielt er inne und überlegte, ob er es moralisch verantworten konnte, uneingeladen das Haus des Mannes zu betreten.

      Er ließ den Riegel los und starrte mit in die Taille gestemmten Händen auf die Tür. Was sollte er nur tun? Er schaute die Fleißstraße hinauf in die Richtung, aus der er gekommen war. Nirgendwo war eine Menschenseele zu sehen. Am anständigsten wäre es natürlich, wieder zu gehen und ein andermal wiederzukommen. Am nötigsten allerdings … das war etwas ganz anderes.

      Er war sich unsicher, ob er Linchs Haus betreten wollte. Sicher war er sich nur darüber, dass es, wenn es jemals ein nach Ratten stinkendes Haus gegeben hatte, dieses sein musste. Und die Skelette boten eine unangenehme Vorstellung dessen, was es drinnen zu sehen geben mochte. Wieder schaute Matthew die Fleißstraße hinauf – und wieder erblickte er niemanden. Wenn er die Gelegenheit nutzen wollte, die Behausung des Rattenfängers zu durchsuchen, dann war der Moment dazu jetzt zweifelsfrei gekommen.

      Er holte tief Luft. Das unbefugte Betreten eines Hauses war etwas ganz anderes, als in eine Scheune einzudringen … oder? Er wollte sich um die feinen Unterschiede lieber nicht zu sehr den Kopf zerbrechen.

      Bevor er es sich anders überlegen konnte, hob er schnell den Riegel und drückte die Tür auf. Sie öffnete sich leicht auf gut geölten Türangeln. Und im durch den Eingang fallenden Sonnenlicht sah Matthew etwas sehr Seltsames.

      Auf der Türschwelle stehend spähte er ins Haus und fragte sich, ob er den Verstand verloren hatte. Oder zumindest seinen Geruchssinn. Sein Erstaunen trieb ihn ins Haus hinein. Neugierig sah er sich um.

      Es gab einen Schreibtisch und eine Schlafstatt, eine Feuerstelle und ein Wandbrett, auf dem Kochgeschirr stand. Ein Stuhl stand neben einem Tisch, auf dem eine Laterne platziert war. Unweit davon lagen ein halbes Dutzend in Ölpapier eingeschlagene Kerzen. Am Fußende des Betts stand ein Nachttopf. Zwei Paar schmutzige Schuhe standen nebeneinander bei der Feuerstelle, in der keinerlei Asche lag. Ein einsatzbereiter Besen lehnte an der Wand.

      Und all dies erstaunte Matthew zutiefst: Linchs Haus war ein Musterbeispiel von Ordnung.

      Das Bett war gemacht, die Decke gerade und stramm gezogen. Der Nachttopf war strahlend sauber – und auch die Kochtöpfe und Schöpfkellen. Am Glas der Laterne war nirgendwo ein Fleckchen Ruß zu sehen. Der Boden und die Wände waren vor nicht allzu langer Zeit geschrubbt worden, und das Haus roch noch nach Teerseife. Matthew war sich sicher, dass er vom Boden essen könnte und keinen Krümel Schmutz in den Mund bekommen würde. Es war so ordentlich, dass es Matthew mehr Angst als das schreckliche Chaos in Winstons Haus einjagte. Denn wie Winston war auch der Rattenfänger ganz anders, als man erwartet hätte.

      »Na dann«, sagte Matthew. Seine Stimme zitterte. Er schaute noch einmal in Richtung Stadt, aber die Fleißstraße war zum Glück noch immer verwaist. Dann fuhr er damit fort, sich das Haus anzusehen, das von außen wie ein Schweinestall wirkte, drinnen aber geradezu der Inbegriff von … Kontrolle war.

      Es war eins der seltsamsten Dinge, die er je gesehen hatte. Das einzige Anzeichen von Schmutz oder Unordnung im ganzen Haus waren die vier dreckigen Schuhe. Matthew nahm an, dass sie zu Linchs Rattenfängerkostüm gehörten. Er beschloss, es nicht nur bei einem simplen Einbruch zu belassen, und öffnete eine Kiste, in der er Hemden, Hosen und Strümpfe fand. Alle waren sauber und akkurat gefaltet.

      Neben der Laterne und den Kerzen stand ein kleines Elfenbeinkästchen. Matthew öffnete es und fand Streichhölzer und einen Feuerstein darin. Die Streichhölzer waren wie Soldaten aufgereiht. In der Ecke des Zimmers fand Matthew eine Kiste, die mit gepökeltem Fleisch, Maiskolben, einem Topf Mehl und einem Topf Getreide, sowie einer Flasche Rum, einer Flasche Wein und anderen Lebensmitteln gefüllt war. Auf dem Schreibtisch lagen eine Tonpfeife und ein ordentlich verpacktes Bündel mit Tabak. Auch ein Tintenfass, eine Feder und blanke Seiten Papier lagen auf der Tischplatte. Er zog die Schublade des Pults auf und fand darin ein zweites Tintenfass, noch mehr Papier, eine lederne Geldbörse und – oh Wunder – ein Buch.

      Es war nur ein dünnes Büchlein, aber offenbar mehrmals gelesen und abgenutzt, wie der abgegriffene und auseinanderfallende Einband attestierte. Matthew öffnete es vorsichtig, um sich die Titelseite anzusehen, die fast aus dem Buch rutschte, und hatte erneut Grund, sich zu wundern. Der verblasste Titel des Buchs lautete Das Leben eines Pharao oder Über die erstaunlichen Vorfälle im alten Ägypten.

      Matthew wusste, dass die ägyptische Kultur, die durch Moses' Leben in der Heiligen Bibel allgemein bekannt war, ein gewisses Segment der englischen und europäischen Bevölkerung faszinierte – hauptsächlich die Wohlhabenden, die Zeit und Lust hatten, sich in Theorien und Diskussionen über diese geheimnisvolle Zivilisation zu ergehen. Ein solches Buch, nur zum Angeben und ungelesen, wäre durchaus in Bidwells Bücherei zu erwarten gewesen. Es war ganz und gar unglaublich, dass der Rattenfänger ein Interesse am Leben eines Pharao hatte, egal, wie fantastisch es beschrieben war. Wären die Seiten des Buchs nicht so mürbe gewesen, hätte Mathew darin geblättert, um sich einen besseren Eindruck vom Inhalt zu verschaffen. Aber er entschied sich wohlweislich dagegen. Es reichte ihm zu wissen, dass Gwinett Linch nicht der Mann war, als der er sich gab.

      Nur … wer war er dann?

      Matthew klappte das Buch zu und legte es haargenau so hin, wie er es gefunden hatte. Er war sich sicher, dass Linch sofort auffallen würde, wenn es auch nur ein klein wenig verschoben war. Er nahm die Geldbörse, klappte sie auf, und entdeckte ein kleines Objekt darin, das in ein braunes, mit Zwirn verknotetes Baumwolltuch eingeschlagen war. Matthews Interesse wuchs. Das Problem war nicht, den Knoten zu lösen, sondern ihn danach wieder genau so festzuzurren. Lohnte sich das?

      Ja, entschied er.

      Vorsichtig öffnete er den Knoten und prägte sich dabei den Verlauf des Fadens ein. Dann schlug er das Tuch auf.

      Ein Stück Schmuck war darin eingehüllt: Eine runde Goldbrosche, der die Anstecknadel fehlte. Er hielt sie ins Sonnenlicht – und starrte verblüfft in die funkelnden, dunkelblauen Tiefen eines Saphirs, der fast so groß wie sein Daumennagel war.

      Plötzlich standen ihm die Nackenhaare zu Berge. Mit großen Augen drehte er sich um, aber niemand stand im Türrahmen.

      Linch – oder der Mann, der sich Linch nannte – war nicht zurückgekommen. Matthew konnte von dort, wo er stand, auch niemanden die Straße herunterkommen sehen. Aber er hatte keinerlei Zweifel daran, dass sein Leben so kurz wie das einer von Rattenspieß aufgeschlitzten Ratte sein würde, wenn Linch ihn mit diesem märchenhaften Schmuckstück in der Hand überraschen würde.

      Es war höchste Zeit, zu gehen. Zeit, das Haus zu verlassen, solange er noch konnte.

      Allerdings musste er zuerst wieder die Brosche einwickeln und sie zurück in die Geldbörse stecken, die er dann exakt – ganz exakt – wieder so hinlegen musste, wie er sie vorgefunden hatte. Ihm zitterten die Hände. Es war schwierig, genau zu sein. Nachdem er die Geldbörse endlich an die richtige Stelle gelegt hatte, machte Matthew die Schublade wieder zu und wischte sich die feuchten Hände an der Hose ab.

      Es gab noch mehr Schubladen, die er hätte durchsuchen können, und auch unter Linchs Schlafstelle mochte einiges zu finden sein. Aber sich im Haus noch länger umzusehen, hätte bedeutet, das Schicksal herauszufordern. Er ging zur Tür und wollte gerade das Haus verlassen, als er erschrocken entdeckte, dass er auf dem ansonsten strahlend sauberen Fußboden etwas Matsch vom durchweichten Vorgarten hinterlassen hatte.

      Er bückte sich und versuchte, die Krümel mit der Hand aufzusammeln. Das meiste konnte er entfernen, aber ein verräterischer Striemen war immer noch zu sehen. Es gab keinen Zweifel daran, dass Linch die Entweihung seines Allerheiligsten bemerken würde.

      In der Ferne begann eine Glocke zu läuten. Matthew, der immer noch mit Spucke an dem Fleck auf dem Boden rieb, wurde klar, dass der Wachmann am Tor die Ankunft eines Besuchers ankündigte. Er hatte getan, was er konnte. Der wenige Schmutz auf dem Boden war nichts im Vergleich zu dem Blut und Gedärm, das fließen würde, wenn Linch ihn hier ertappte. Er richtete sich auf, verließ das Haus, schloss die Tür und ließ den Riegel ins Schloss fallen.

      Als Matthew sich auf der Fleißstraße auf den Rückweg

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