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       Franz Werfel

      Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig

      Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2020

       [email protected]

      EAN 4064066114367

       Erster Teil

       Zweiter Teil

       Dritter Teil

       Epilog

       Inhaltsverzeichnis

      Wie habe ich immer die Knaben beneidet, deren Väter in den Portierlogen oder auf den Türbänken gelassen und freundlich an Sonntagnachmittagen ihre Pfeife rauchten, und wie erst die Buben in den Bürgerzimmern, wo der Hausherr behaglich gerötet, in Hemdsärmeln, die Virginier im Munde und ein halbgeleertes Bierglas vor sich, an dem weißen Tisch saß. Ich will von der Erschütterung schweigen, die ich einmal, noch als ganz kleiner Kadettenschüler empfand, als ich an dem offenen Fenster einer Parterrewohnung vorbeiging und dahinter einen älteren Mann am Klavier sah, der aus einem aufgeschlagenen Notenbuch die Arie des Cherubim: „Neue Freuden, neue Schmerzen“ spielte, die sein Sohn, ein wunderschöner, elfjähriger Junge, mit der reinen heiligen Stimme des Kirchensopranisten sang. — Bitterlicher als damals habe ich nie mehr geweint, denn mein Weg führte aus der Kaserne, wo ich allsonntäglich meinem Vater über die Ergebnisse der Woche Rechenschaft ablegen mußte, in die Kadettenanstalt zurück.

      Ja, mein Vater rauchte Zigaretten und spielte nicht Klavier. Er rauchte Zigaretten und zwar solche, die ihm meine Mutter, seine verschüchterte, harte Dienerin traurigen Angedenkens, allabendlich bis in die Nacht hinein mit der Maschine stopfte; denn sein Tagesbedarf war groß. Mit nobel zitternden, gelbspitzigen Fingern führte er diese Zigaretten zum Mund, ob er nun in der Bataillonskanzlei saß, über den Exerzierplatz ritt, oder gelangweilt nach der Ursache eines Zornausbruchs sinnend in seinem Zimmer auf und abging. Schon als achtjährigem Buben war es mir klar, daß der kein guter Mensch sein könne, der immerfort solche Rauchstöße durch die Nüstern der Nase blies. Alles an diesem Vater war: Von oben herab! Und Rauch durch die Nüstern stoßen, das taten doch nur die Drachen, die es jetzt nicht mehr gab.

      Wir waren um diese Zeit in einer der großen Landeshauptstädte mit starker Garnison stationiert. Ich erinnere mich, daß mein Vater anfangs, als Hauptmann, dem Hausregiment zugeteilt gewesen ist. Ich selbst war Zögling der Kadettenanstalt dieser Stadt, also schon als Kind zu schwerer Zuchthausstrafe verurteilt. Doch noch härter war mein Los als das der anderen Offizierssöhne!

      Wer nicht in einem unerbittlichen Institut aufgewachsen ist, wird sein Lebtag die Bedeutung des Wortes — Sonntag — nicht ermessen. Sonntag, das ist der Tag, wo die erdrosselnde Hand der Angst um den Hals sich lockert, Sonntag, das ist ein Erwachen ohne bangen Brechreiz, Sonntag, das ist der Tag ohne Prüfung, Strafe, erbitterten Lehrerschrei, der Tag ohne Schande, ohne zurückgewürgte Tränen, Erniedrigungen, der Tag, da man in einem süßen Glockenmeer erwacht, die Bäume des armseligen Anstaltsgartens sind Bäume und nicht fühllose Gefangenenwächter wie sonst, der Tag, wo jeder mit dem weißen Erlaubnisschein die Wache am Tor passiert, und in die Freiheit und Freude tritt.

      Ach, selbst der Sonntag konnte mich nicht froh machen, dieser Tag, den die Kameraden in aller Frühe schon mit unterdrückten Jubelschreien begrüßten, wenn sie aufsprangen und ihre Köpfe unter die mager tröpfelnde Waschgelegenheit hielten. Sie durften den ganzen Tag über ausbleiben bis neun Uhr abends, ja, manche sogar bis zehn, bis elf; dann erst zu solch später Stunde warf sich das furchtbare Montagsgespenst mit der Wucht der Versäumnisse und ungelösten Aufgaben über sie.

      Aber am Morgen entflohen sie zitternd und rot vor Glück dem Kerker, kehrten in ein Heim ein, wo sie, wenn auch spärlich, so doch eine Spur von Liebe und Betreuung empfingen; sie wurden am Nachmittag in eine Konditorei geführt, oder durften mit ihren Eltern auf der Terrasse eines Cafés sitzen, oder in einem Restaurationsgarten in den schneidigen Blech- und Paukendonner der Militärmusik tauchen.

      Was war mein Sonntag? Um zehn Uhr morgens verließ ich die Kadettenschule mit entsetzlichem Herzklopfen und einer schweren Übelkeit im Magen, ohne daß ich vermocht hätte, den Frühstückskaffee aus der verbeulten Soldaten-Blechschale herunterzutrinken. Denn ich mußte Punkt halb elf in der Bataillonskanzlei vor meinem Vater stehn, der mich mit dienstlich verächtlichem Blicke maß und anfuhr:

      „Korporal, wie stehn Sie da?“

      Das wiederholte sich jedesmal. Meine Knie schlotterten dann, und mit Anspannung aller Kräfte nahm ich strammer Stellung. Es folgte das Verhör über die Noten und Zensuren, die ich in der abgelaufenen Woche davongetragen hatte. Niemals ein Lob, immer aber flogen mir Kommisschimpfworte an den Kopf, und ich pries den Gottestag, an dem es mir so gut erging, daß ich „nur mit Hohn“ bedacht worden war.

      Während dieser Hinrichtungen blies der Vater den Rauch der Zigaretten ohne Aufhören durch die Nase. (Ich habe in meinem Leben keine Zigarette berührt, und das ist wohl das einzige Laster, dem ich nicht verfiel.) Der Rapport schloß damit, daß der Vater sich über ein Dienststück beugte, den Rechnungsfeldwebel, der in der Ecke der Kanzlei die ganze Zeit über stramm stand, zu sich heranwinkte, und ohne aufzublicken mir befahl:

      „Abtreten!“

      Auf der Straße wurde es mir ganz bitter im Mund. Ich konnte mit meinen kleinen Beinen kaum mehr weiter.

      Von Sonne und Furcht waren mir die Augen ganz betäubt, und dennoch mußte ich mit gestreckten Knien vorwärts schreiten, den Kopf salutierend nach rechts und nach links werfen, um ja keinen Offizier zu übersehn.

      Und noch eines! Alle meine Mitschüler trugen am Sonntag eigene Uniformen aus Kammgarnstoff und von gutem Schnitt. — Ich allein mußte in der plumpen ärarischen Montur meinen Ausgang machen, und wie oft schämte ich mich der blauen, die Beine verunstaltenden Hosen.

      Todmüde kam ich so gegen die Mittagsstunde zu dem Hause, wo meine Eltern wohnten. Doch auch dieses Haus war im Bann meines Schicksals gelegen, es stand in der Hörweite der Retraite und Hornsignale.

      Jedesmal mit neuem Herzklopfen läutete ich an. Meine Mutter öffnete mir selbst; denn Offiziersfrauen können sich ja keine Dienstboten halten. Ich küßte ihr die Hand, sie fuhr mir kurz mit ihren bigotten trockenen Lippen über die Stirne. Dann mußte ich den Waffenrock ablegen und ein ausgewachsenes kurzärmeliges Lüsterjäckchen anziehn, eines meiner Schulbücher nehmen und still dasitzen, während die Mutter mit kurzen merkwürdigen Rucken in der Küche hantierte. Wie sie hin- und herging, dachte ich oft: „Warum trägt meine Mutter so große, gerade Stiefel mit breiten platten Absätzen, ganz anders als die geschwungenen Schuhe, welche die hellgekleideten Frauen auf der Straße tragen? — Warum empfinde ich bei ihrem Schritt nicht dasselbe wohlige Gefühl, das mich angesichts der schönen klappernden Frauenschritte da draußen durchrieselt?“ —

      Mittags kam der Vater nach Hause. Seine Lackstiefeletten blitzten. Er brachte es fertig, durch den ärgsten Staub und Kot zu gehn, ohne daß sein tadelloses Schuhwerk auch nur von dem kleinsten Fleck verunstaltet wurde. Es geschah regelmäßig dasselbe. Er hing den Tschako und frischvernickelten Salonsäbel an den Haken, zog sein Bartbürstchen und kämmte sich zurecht, schlug in der Türe leicht die Sporen aneinander und begrüßte meine Mutter und mich, die schon mit der Suppe warteten, mit einem förmlichen „Servus“, wie er es von Kameradschaftsabenden her gewohnt war, wenn er unter

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