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mehr. Litt nur, litt. Und aus meinem Leid wuchs das Gefühl, die Liebe zu den Menschen. Und ihr wollt mich in die Welt zurücktreiben? Ihr meint es gut, aber ich will nicht! Ich habe eine Mission! eine große! heilige! von der ihr nichts wißt. Die ich fühle! Ich bin weder ein Heiliger, noch ein Narr, noch gar ein Kranker. Ich bin so gesund wie ihr,« sagte er und lächelte wehleidig.

      Er zog mit einem festen Ruck die Gardine vor das Fenster. Der Arzt hielt einen Kameraden, der ihn daran hindern wollte, zurück. Er schloß die Augen wieder und lehnte sich zurück, und an seinem schmerzverzerrten Mund erkannte der Arzt, daß er sich wieder in Dahomey, bei den Seinen, fühlte.

      Der Zug fuhr durch einen Tunnel. Der Aufsicht führende Schweizer Offizier verkündete:

      »Meine Herren! noch fünf Minuten!«

      »Was ist in fünf Minuten?« fragte der Arzt.

      »Luzern!« erwiderte der Schweizer und schlug hinter sich die Türe zu.

      Alles sprang auf. Mit dem Gefühl, daß ein Wunsch, den man jahrelang Tag für Tag, Stunde um Stunde heiß ersehnt hatte, sich nun erfüllen sollte, umfaßte man in Gedanken schnell noch einmal alles, was hinter einem lag und nun plötzlich in endlose Ferne gerückt schien. Als lägen zwischen gestern und heute Jahre, so stark überschattete die Freude alles Vergangene, das nur noch wie ein Bild aus lang vergangener Zeit in der Erinnerung stand.

      Empfanden so alle das Wort Luzern als den endgültigen Abschluß eines traurigen Kapitels und den Ausgangspunkt eines neuen Lebens, so war es für Peter nur eine Etappe auf dem Wege zu dem Ziel, das die Vorsehung ihm bestimmt hatte.

      Völlig teilnahmlos nahm er seinen kleinen Koffer und schob sich durch den Gang zur Tür. Die vielen Menschen auf dem Bahnsteig sah er kaum. Als ein kräftiges Hurra zu den Wagen emporscholl und die Hunderte von Ausgetauschten körperlich schmerzhaft wie ein elektrischer Schlag traf, der das Blut wieder in Fluß brachte und Körper und Seele wie von einer Lähmung befreite und sie wieder zu vollwertigen Menschen machte – auch da empfand Peter noch immer nichts. Es glitt an ihm ab wie der beliebige Ruf eines Bahnbeamten. Automatisch folgte er den andern, ließ sich von fremden Menschen und früheren Kameraden teilnahmlos die Hände schütteln und bewegte sich mit der Menge in das nahegelegene Hotel du Lac, wo sie nach einem feierlichen Empfange für die Nacht einquartiert wurden.

      Als sie dann die geschmückte Hotelhalle betraten und das Lied: »Deutschland, Deutschland über alles!« den Heimkehrenden entgegentönte, da traten selbst den Starknervigen die Tränen in die Augen. In dieser Stunde war Peter unter vielen Hunderten von Menschen der einzige, dessen Gesichtsausdruck unverändert und dessen Lippen geschlossen blieben.

      Der rangälteste Offizier sprach patriotische Worte. Peter hörte sie kaum. Und als er zum Schluß nicht mit in das Hoch einstimmte, fiel er einigen neben ihm stehenden Offizieren zum ersten Male unangenehm auf.

      Ein aus Deutschland zum Empfang gesandter würdiger Geistlicher trat vor.

      »Kameraden!« rief er den Heimkehrenden zu. »Ich war zu einer Zeit, da noch Frieden war, eines Sommers in Norderney. Das Meer spülte die Leiche eines jungen Mannes an den Strand. Es schien ein Engländer zu sein. Die Badegäste standen in einiger Entfernung neugierig und entsetzt um den Toten herum. Da trat eine vornehme Dame an den Toten heran, kniete vor ihm nieder, beugte sich über ihn und küßte ihn auf die Stirn. ›Im Namen der fernen Mutter!‹ sagte sie. – So stehe auch ich hier als Abgesandter eurer fernen Mutter und heiße euch im Namen der heißgeliebten deutschen Mutter Erde willkommen!«

      War es Zufall oder göttliche Eingebung, daß der würdige alte Herr jetzt auf Peter zuschritt, obgleich er in ziemlicher Entfernung von ihm stand, ihm die Hand auf den Kopf legte und ihn auf die Stirn küßte?

      Ein wohliges Gefühl von Ruhe und Frieden empfand Peter. Unter dem weichen Druck der Hand sank Peter willenlos in die Knie, faltete die Hände und betete laut:

      »Unser Vater in dem Himmel. Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe. Auf Erden wie im Himmel. Unser täglich Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Uebel. Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.«

      Alle falteten die Hände und beteten mit. Und die tiefe Inbrunst seines Gebetes ging wie die Stimme der fernen Mutter in aller Herzen ein.

      Und der würdige geistliche Herr, die Hand noch immer auf dem Haupte des knienden Peter, erhob die Stimme und fuhr fort:

      »Denn so ihr den Menschen ihre Fehler vergebt, so wird auch euer himmlischer Vater euch vergeben. Wo ihr aber den Menschen ihre Fehler nicht vergebet, so wird euch euer Vater eure Fehler auch nicht vergeben.«

      Dann wandte er sich an seinen Platz zurück und die Feier nahm ihren Fortgang.

      Wie eine zusammenstimmende Folge von Akkorden lösten sich in Peter die starren Glaubenssätze. Alles drückend Schwere fiel von ihm ab, und als er eine Stunde später oben in seinem Bett lag, hatte er noch immer das Gefühl, als wenn die weiche Hand des würdigen Herrn auf seinem Haupte ruhte.

      IV

      Frau Julie war infolge der Aufregungen nachts erkrankt. Durchaus unbedenklich, aber doch so, daß der Medizinalrat sie nicht in die Schweiz reisen ließ. Am frühen Morgen erhielt Peter, der noch in tiefem Schlafe lag, ihr Telegramm. Als der Hotelpage sein Zimmer betrat und ihn weckte, wußte er zunächst nicht, wo er sich befand. Er erschrak und rief entsetzt:

      »Venére! Hilfe! Venére!«

      Der Page legte ihm das Telegramm auf die Bettdecke und entfernte sich schnell. Peter richtete sich auf, starrte in das noch dunkle Zimmer, fuhr sich mit der Hand über die Stirn, tastete vor sich das Bett ab und fand das Telegramm.

      Jetzt kam ihm zum Bewußtsein, wo er sich befand. Er knipste das Licht an und sah sich im Zimmer um. Stark empfand er die Wiederkehr der freien Bestimmung. Jahrelang unter Zwang, hatte er längst verlernt, über Person und Zeit zu bestimmen. In der gedankenlosen Ausführung der Weisungen, die andere gaben, hatten sich seine Tage erschöpft. Nun saß er da in seinem Bett, und niemand kam und erteilte Befehle. Etwas ratlos saß er da mit sich und wußte nicht, was beginnen. Er konnte das Licht wieder löschen, sich hinlegen und weiterschlafen. Ganz wie er wollte. Er konnte auch aufstehen, sich anziehen und gehen, wohin er wollte. Es gab keine Wachen und niemand würde ihn fragen, wohin er ging. Auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers lagen Blumen und Zeitungen, die freundliche Menschen ihm in den Arm gelegt hatten. Er konnte auch lesen. Er hatte solange kein Blatt mehr in der Hand gehabt. Er erschrak vor der Fülle der Entschlüsse, die sich ihm boten. Wie schwer war es, sich zu entschließen, wenn man jahrelang keinen selbständigen Entschluß gefaßt hatte. Er sah sich im Zimmer um. Dort an der Wand stand ein Schreibtisch; Tinte und Papier; alles lag bereit. Peter streckte den Arm aus, griff in Gedanken nach Feder und Papier, wünschte sich den Schreibtisch herbei, ganz dicht ans Bett, lächelte, bewegte leicht den Kopf und dachte:

      »Mutter! – du!« und faßte den Entschluß, an sie zu schreiben.

      »Aufstehen,« dachte er. »Ich brauche es nur zu wollen. Es hängt nur von mir ab. – Von mir!« wiederholte er laut. »Und ich, – ich bin mein eigner Herr.« – Und wieder mit jenem weichen Lächeln sagte er vor sich hin, langsam und breit: »An – meine – Mutter – schreiben. – Wann ich will und so oft ich will. Von mir allein hängt das ab! Mutter, hörst du? Niemand mehr kann’s mir nehmen.«

      Er hielt noch immer verschlossen das Telegramm in Händen. Jetzt erst achtete er darauf. Er sah es sich an: »Dr. Peter von Reinhart« stand darauf. Er lächelte wieder und sagte laut: »Dr. Peter von Reinhart? Das war ich einmal. Bevor sie mich zerschlugen, die Hunde!« – Er stutzte und es schien, als wenn er sich mühte, die Gedanken zusammenzufassen. – »Bin ich es denn wieder? Bin ich es denn noch?« fragte er sich. »Am Ende haben sie mich zusammengeflickt wie eine zerbrochene Puppe.« Er befühlte sein Herz. »Es schlägt!« sagte er. »Ich lebe! Aber ich bin krank. Mir fallen die Gedanken alle auseinander. Ich wollte doch an die Mutter schreiben. Aber nein, hier, dies Telegramm sollte ich öffnen.« Er riß es auf und las:

      »Junge! mein Junge! Wir haben uns wieder! Ich komme zu dir! Freust du dich, Junge?

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