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weißt nicht was die Tugend ist?« rief der Abbé, erstickend vor Zorn; »du weißt nicht, was die Religion ist?«

      »Ich weiß es wohl französisch,« erwiderte Ange, »aber ich weiß es nicht lateinisch.«

      »So gehe nach Arcadien, Juvenis, alles ist vorbei zwischen uns. Wicht!«

      Pitou war so niedergeschmettert, daß er nicht einen Schritt machte, um zu fliehen, obgleich der Abbé Fortier seine Geißel aus seinem Gürtel mit ebenso viel Würde gezogen hatte, als im Augenblick der Schlacht ein Heerführer sein Schwert aus der Scheide gezogen hätte.

      »Aber was soll aus mir werden?« fragte der arme Junge, indem er seine beiden Arme träge an seiner Seite hinabhängen ließ, »was soll aus mir werden, wenn ich die Hoffnung, in das Seminar einzutreten, verliere?«

      »Werde, was du kannst, das ist mir, bei Gott gleichgültig.«

      »Wissen Sie denn nicht, daß meine Tante glaubt, ich sei schon Abbé?«

      »Nun, sie wird erfahren, daß du nicht einmal zum Meßner taugst.«

      »Aber, Herr Fortier  . . .«

      »Ich sage dir, gehe Limina lingue.«

      »Auf denn!« sagte Pitou, wie ein Mensch, der einen schmerzlichen Entschluß faßt, aber ihn dennoch faßt.

      »Wollen Sie mir mein Pult lassen?« fragte Pitou, in der Hoffnung, während der kurzen Frist, die ihm gegönnt wäre, würde das Herz des Abbés Fortier zu mitleidigeren Gefühlen zurückkehren.

      »Ich glaube wohl,« antwortete dieser, »dein Pult und alles, was es enthält.«

      Pitou stieg mit kläglicher Miene die Treppe hinauf zur Klasse im ersten Stock. Er trat in die Stube ein, wo um einen großen Tisch versammelt etwa vierzig Schüler sich den Anschein gaben, als arbeiteten sie, öffnete vorsichtig den Deckel seines Pultes, um zu sehen, ob die Gäste, die es enthielt, vollzählig wären, hob es mit einer Behutsamkeit auf, die von seiner großen Sorgfalt für seine Zöglinge zeugte, und schlug mit langsamem, abgemessenem Schritt wieder den Weg nach der Hausflur ein.

      Oben auf der Treppe stand mit ausgestrecktem Arm der Abbé Fortier und deutete mit dem einen Ende seiner Geißel die Stufe hinab.

      Man mußte durch die cautinischen Pässe gehen; Ange Pitou machte sich so demütig und klein, als er nur immer konnte. Dessenungeachtet erhielt er beim Durchgang noch eine letzte Tracht mit dem Werkzeug, dem der Abbé Fortier seine besten Schüler zu verdanken gehabt hatte, und dessen Anwendung, obgleich sie häufiger und ausgedehnter bei Ange Pitou, als irgend einem andern, vorgekommen, von einem nur mittelmäßigen Resultat gewesen war.

      Während Ange Pitou, eine letzte Thräne trocknend, mit seinem Pulte auf dem Kopfe nach dem Pleux, dem Quartier der Stadt wandert, wo seine Tante wohnt, sagen wir ein paar Worte von seinem Aeußern und seinen Lebensvorgängen.

       II.

      Worin bewiesen wird, daß eine Tante nicht immer eine Mutter ist

      Louis Ange Pitou war in der Zeit, wo diese Geschichte anfängt, siebzehn und ein halbes Jahr alt. Er war ein langer, hagerer Junge, mit gelben Haaren, roten Wangen und fayenceblauen Augen. Die Blüte der frischen, unschuldigen Jugend dehnte sich auf seinem breiten Mund aus, dessen dicke Lippen zwei vollständige Reihen furchtbarer Zähne entblößten, furchtbar für diejenigen, deren Mittagsbrot sie zu teilen bestimmt waren. Am Ende seiner langen, knochigen Arme hingen, solid befestigt, Hände so breit wie Tennenpatschen; ziemlich gebogene Beine, Kniee so dick wie Kindsköpfe, die seine engen schwarzen Hosen springen machten; ungeheure Füße, die jedoch bequem in den durch den Gebrauch geröteten kalbsledernen Schuhen Platz hatten: dies war, mit einer Art von Kittel von brauner Sersche, das genaue Signalement vom Exschüler des Abbés Fortier.

      Es bleibt uns noch die moralische Seite zu schildern.

      Ange Pitou wurde im Alter von zwölf Jahren Waise, zu welcher Zeit er das Unglück gehabt, seine Mutter zu verlieren, deren einziger Sohn er gewesen. Damit ist gesagt, daß Ange Pitou seit dem Tode seines Vaters, der starb, ehe der Knabe das Alter des Bewußtseins erreichte, als Hätschelkind seiner Mutter ungefähr that, was er wollte, was seine physischen Eigenschaften zwar ungemein entwickelte, aber seine moralische Erziehung gänzlich im Rückstand ließ. In dem reizenden Dorfe Haramont geboren, das eine Meile von der Stadt mitten im Walde lag, galten seine ersten Ausflüge der Erforschung des heimatlichen Waldes und die erste Anwendung seines Verstandes der Bekriegung der Tiere, die ihn bewohnten. Aus diesem, einem einzigen Ziele zugewendeten Streben erfolgte, daß Ange Pitou bereits mit zehn Jahren ein ausgezeichneter Wilddieb und ein Vogelsteller ersten Ranges war, und zwar ohne Arbeit und besonderen Unterricht, ganz allein durch die Stärke des von der Natur dem inmitten der Wälder geborenen Menschen verliehenen Instinktes, der ein Teil des Triebes zu sein scheint, den sie Tieren gegeben hat. Es war ihm auch nicht eine Fährte von Hasen oder Kaninchen unbekannt. Auf drei Meilen in der Runde war nicht ein Tränkherd seiner Forschung entgangen, und überall fand man die Spuren seines Messers auf den für den Vogelfang geeigneten Bäumen. Durch diese unablässig wiederholten Uebungen hatte Pitou eine ganz außerordentliche Stärke erlangt.

      Mittelst seiner langen Arme und seiner starken Kniee, die ihm die mächtigsten Stämme zu umfangen gestatteten, stieg er auf die Bäume, um die höchsten Nester mit einer Behendigkeit und Sicherheit auszunehmen, die ihm die Bewunderung seiner Kameraden zuzog und ihm unter einer dem Aequator näheren Breite bei der Jagd der Lockpfeife sogar das Anstaunen von Seiten der Affen erworben hätte, bei dieser selbst für die erwachsenen Personen so anziehenden Jagd, wobei der Jäger die Vögel auf einen mit Leimruten versehenen Baum lockt, indem er das Geschrei des Hähers oder der Nachteule nachahmt, dieser Individuen, die bei dem Federvolk so allgemein verhaßt sind, daß jeder Fink, jede Meise, jeder Grünling herbeieilt in der Hoffnung, seinem Feinde eine Feder zu entreißen, während er meistens die seinigen dabei verliert. Die Kameraden von Pitou bedienten sich einer wirklichen Nachteule, eines natürlichen Hähers, um, gut oder schlecht, das Geschrei von einem oder dem andern dieser Tiere nachzuahmen. Ange Pitou aber vernachlässigte immer diese Vorbereitungen, verachtete eine solche List. Mit seinen eigenen Hilfsquellen kämpfte er, mit seinen natürlichen Mitteln stellte er die Falle. Mit seinem eigenen Munde bildete er die kreischenden, widerlichen Töne, die nicht allein die andern Vögel, sondern auch die von derselben Gattung herbeiriefen, die sich durch dieses gut nachgeahmte Geschrei täuschen ließen. Was die Jagd an Pfützen betrifft, wohin die Vögel zum Trinken kamen, so war diese für Pitou eine Eselsbrücke, und er hätte sie als Gegenstand der Kunst sicher verachtet, wäre sie in Bezug auf den Ertrag minder ergiebig gewesen. Nichtsdestoweniger, und trotz der Verachtung, die er selbst gegen diese so leichte Jagd hegte, wußte nicht einer von den Erfahrensten gleich Pitou eine Pfütze mit Farnkraut zu bedecken, wenn sie zu groß war, um völlig überspannt zu werden; nicht einer wußte wie er die passende Neigung seinen Leimruten zu geben, so daß die schlauesten Vögel weder darunter, noch darüber trinken konnten; nicht einer besaß die Sicherheit der Hand und die genaue Kenntnis der verschiedenen Mischungsverhältnisse von Baumharz, Oel und Vogelleim, damit dieser Leim weder zu flüssig noch zu spröde werde.

      Da nun die Achtung, die man den Eigenschaften der Menschen zollt, nach dem Schauplatz, wo sie dieselben, und nach den Zuschauern, vor denen sie dieselben produzieren, wechselt, so genoß Pitou in seinem Dorfe Haramont mitten unter seinen Bauern – das heißt unter Menschen, die gewohnt sind, wenigstens die Hälfte ihrer Mittel von der Natur zu verlangen, wie alle Bauern, einen instinktartigen Haß gegen die Civilisation haben – ein Ansehen, das bei seiner armen Mutter die Vermutung nicht aufkommen ließ, er gehe auf einem falschen Wege, und die vollkommenste Erziehung, die man einem Menschen mit großen Kosten geben könne, sei nicht diejenige, welche sich ihr ausgezeichneter Sohn unentgeltlich selber gab.

      Als aber die gute Frau krank wurde, als sie den Tod herannahen sah, als sie begriff, sie werde ihr Kind allein und vereinzelt in der Welt zurücklassen, da fing sie an zu zweifeln und suchte eine Stütze für die zukünftige Waise. Sie erinnerte sich sodann, daß zehn Jahre vorher ein junger Mann mitten in der Nacht an ihre Thüre geklopft, der ihr ein neugeborenes Kind gebracht, für das er nicht nur bar eine ziemlich runde Summe zurückgelassen, sondern auch eine andere, noch viel größere Summe beim Notar in Villers-Cotterets deponiert hatte.

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