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erst mit dem Kopfe, nickte dann aber schnell und betroffen. Er schwieg ein Weilchen, während die beiden anderen Hermine zu ihrer Pein musterten, und fragte dann mit scharfer Betonung des ersten Wortes: „Lesen kannst du doch schon?“ Hermine hatte wieder die Vorstellung eines geschneckt emporfahrenden Hobelspans und antwortete nicht. „Wir wollen gleich einmal sehen,“ sagte Karp und hob das ,sehen‘ nachdrücklich hervor. Dabei faßte er die scheue Hermine bei der Hand. „Ich habe einen Einfall, Herr Dagott,“ lachte er. Hermine errötete über und über, als sie angerührt wurde. Ein ätzendes Brennen quälte sie irgendwo. Jedes Wort war ihr wie das Hineinrufen in einen süßen, wenn auch schaurigen Traum. Sie wollte doch träumen, warum ließ man sie nicht! Karp ging mit ihr schnell vor die Tür. Warum wurde sie herausgerissen, abgeführt? Ja, ja, sie mußte beinahe laufen und jeder Schritt verwundete sie mehr. Sie kniff die Lippen rund. O, da kamen die beiden anderen auch nachgeschritten, wie um ihre Schmach zu sehen. Sie wollte sich losreißen, aber wie war es draußen dunkel! Es schneite noch; es kraute ihr gespenstisch im Haar, an Ohr und Hals. Sie schüttelte sich. Nun überfiel es sie erst recht wie ein ödes Erwachen. Sie sah sich taumelnd den Flur, wo man vor Dunkel fast blind wurde, herablaufen, an dieser Hand, die sie hier so festhielt. Sie bedauerte sich. Karp fragte gelinde: „Nun, mein Kind, was steht dort?“ Von grünlicher Laterne schwach beleuchtet, hing wie ein klotziger Spiegel ein Firmenschild am Hause, schwarz gelackt und mit großen, dicken Goldbuchstaben bemalt. Hermine las willenlos rauh: „Benjamin Salomon Dagott. Christliches Tuchwarengeschäft.“ „Ja,“ lächelte Karp süß, und Hermine sah ihn lange schwer an, mochte auch eine Flocke an die Wimper fliegen und sie zudrücken wollen. Karp legte seine freie linke Hand in langsamem Bogen sanft auf die ihre und fuhr fort, sie wieder zurückführend, wobei die Eltern schlürfend vorangingen: „Weißt du, was du da vorgelesen hast? – Hier ist meine süße Heimat.“ Minutenlang lächelte er breit und dumm. Hermine hatte nur den Schall, nicht den Sinn der letzten Worte vernommen und dachte tief beleidigt: nun werde ich sterben! Dieses Gefühl und ein Seifengeruch am Lehrer erquickten sie etwas. Ihr Ohr klang.

      „Da wir im Ansehen sind,“ lachte Dagott, beugte sich steif, die Fersen schließend, und kniff sie dabei in die Nase, „wollen wir schnell mit dir das ganze Haus durchgehen.“ Sie strauchelte nun (halb absichtlich) über mehrere Schwellen wie zum Tode und mußte in unheimlich stille Zimmer sehen. Die ganze Zeit fühlte sie ihre Hand noch gefaßt, die doch längst frei herabhing, und spürte Schnee in die Haare fallen, die sich stellenweise etwas juckend aufzurichten schienen. Auch die Treppe mußte sie hinaufgehen und wurde in einen großen Raum geführt, wo viele alte Waffen an den Wänden auf ihren Schatten schliefen. Dort sollte sie später hausen. O, wie sehr wollte sie dann weinen!

      „Aber nun schnell essen!“ mahnte Dagott. Man setzte sich um den Abendbrottisch.

      Hermine verwunderte sich über das Würzige und Schmackhafte in den Speisen. Sie wurde aber die Bilder der Schlittenfahrt nicht los. Da keine wirkliche Grundlage sie unterstützte, veränderten sie sich weiter ins Düstere und führten Hermine tiefer in wehes Staunen. Sie sah dabei ihre Nachbarn lange mit verlorenem Blicke der großen dunklen Augen an. Man kam eifrig ins Gespräch und scherzte viel. Sie konnte es nicht begreifen: sie war allein. Aber wenn man sie ansah, verzog sie auch den Mund zum Lachen. Selbst die Mutter war heute so gesprächig; warum nur? In ihr scholl plötzlich im grell leiernden Schulstubenton der Choral: Wenn ich einmal soll scheiden. Die Gesichter und Bewegungen der Anwesenden wurden ihr unverständlich, sie entbehrten jeden Sinnes, wie die großer Gelenkpuppen; das Lachen war das aufgemalte, irrsinnige Puppenlachen. Beschäftigt, etwas auseinanderzusetzen, heftete Dagott den Blick auf sie: nun mußte er doch wahrnehmen, daß sie sich fürchtete? Nein, er sah wieder weg und pfiff gar eine lustige Figur. O! – O! – Sie erhob sich leise und sagte mit so schwärmerischer, weltferner Versunkenheit und vor Tränen blinden Augen: „Mutter, ich möchte schlafen gehen,“ daß alle erschraken. Frau Katharina legte die Hände vor das gesenkte Gesicht, Dagott stand auf und fragte, wie mit dem Besen gescheucht, trocken: „Was ist denn?“ Karp flüsterte in die Lampe: „Das ist nicht Heimweh.“

      Die Mutter führte Hermine in die Schlafstube, wo das Kind noch allerhand Haß, Verachtung und Schwermut wie Wackensteine in sich herumwälzte und oft gewaltsam keuchte, ehe sein Atmen friedlich tönend gleich dem letzten Echo erlösender Träume auf- und abstieg.

      Die Tür anlehnend, sagte Frau Katharina: „Sie ist ein Maulwurf, der sich schwarze Gänge gräbt, wohl ab und zu ein Stückchen in der Sonne läuft, doch dann wieder ins Dunkle taucht. Ich habe sie drüben nicht ändern können. Hoffentlich ziehen wir drei sie hier für immer ins Licht.“

      Sie redeten noch lange über Hermine, und ihre Schatten schlüpften durch die langsam aufknarrende Tür über das Bett der Schlummernden.

      Zweites Kapitel

      Bald konnte sich Frau Dagott freuen, daß Hermine wirklich ihr düsteres Wesen abzulegen schien. Der Maulwurf fand in Elisabeth Pfeiffer ein Hermelin, mit dem er die ganzen Tage in der Sonne lief. Es begann eine Zeit, in der das ernste, plumpe Kaufmannshaus am Marktplatz und der große Garten dahinter vom heitersten und herzlichsten Kinderlachen widerhallte. Am Morgen, ehe Lehrer Karp in die Schule mußte, und nachmittags, wenn er frei war, kamen die beiden Mädchen in die große Oberstube gestürmt zum Privatunterricht und blieben nach den Stunden zum Geschichtenerzählen zusammen und zum Spiel mit den alten, auf Dagott durch viele Geschlechter vererbten Waffen, die man im Hause nicht schicklicher hatte unterbringen können. Frau Katharina hielt Karp für einen trefflichen Lehrer, weil just die zwei von ihm unterrichteten Mädchen so traulich zusammenhielten und alle ihre Lust beieinander fanden, während wenigstens Hermine sich an eine andere Altersgenossin überhaupt nicht anschloß. Karp mußte darum nun täglich am Mittagsmahle der Dagottschen Familie teilnehmen. – Auch ihrem oft wenngleich gezwungen heiteren Manne wußte sie klüglich ein Stückchen Einfluß zuzuteilen, und sie lebte halbwegs zufrieden, obwohl die Ehe von manchem kleinen Zwiste durchbrochen wurde. Sie hatte eben eine andere Natur als ihr Mann und hoffte eine innigere Vereinigung, wenn das Kind, das sie unter dem Herzen spürte, eine Hand um ihren Hals und eine um den des Vaters legen könnte. Ganz glücklich hatte sie mit ihrem ersten Manne, in dem ihr viel von Hermines Wesen, nur gut verstaut, gelegen zu haben schien, auch nicht gelebt, und der Wunsch, die Tochter ins Mildere zu lenken, war ja erfüllt.

      Oder? Manchmal am Abend, wenn der Mond recht groß und klar über zwei Scheiben lag, wagte sie zu zweifeln und zu sorgen, denn aus dem Verkehre mit der Tochter wehte sie leicht eine unerklärliche augenblickliche Kälte an. Hermine schien Scheu zu haben sich hinzugeben.

      Wirklich fühlte sich Hermine in ihrem jetzigen Kreise oft abgestoßen. Trotz ihrer Freundschaft mit Elisabeth waren in ihr die leidenschaftlich verworrenen Empfindungen des Einzugsabends nicht untergegangen. Zwar erschien ihr schon am nächsten Tage alles anders, als sie es anfangs gefaßt, aber sie empfand jedesmal einen angenehmen Reiz, wenn sie daran zurück dachte. Sie wußte eine Sage von einer Prinzessin, die alle Mitternacht ihr Kästchen öffnete und kniend die blutroten Steine und die Schierlingssiegel an ihren vielen Ringen herzte. So ging es ihr. Nun wünschte sie zwar keineswegs, wieder etwas zu erleben, das ihr Gemüt ähnlich in Düsternis hüllte: unbewußt beschwor ihre Seele immerfort Schatten, und die Welt, in der sie damals gebangt, umgab sie darum auch jetzt, wenngleich blasser. Sie wehrte leise noch immer alles ab, was sie am ersten Abend abgelehnt hatte, nur daß es damals, je neuer und unerwarteter es sie umringte, um so viel heftiger geschah. Nichts liebte sie, nicht Mutter und Stiefvater, nicht ihren Lehrer, nicht ihre Stadt und deren Bewohnerschaft, nur die einzige Elisabeth.

      Elisabeth war sanfter als Hermine und schien bestimmt, nichts als Einflüsse zu empfangen. Ihr Gemüt bewegte sich ätherisch weich, und weil alles, was auf dasselbe wirkte, immer aus einer Tiefe widerstrahlte, machte es den Eindruck der Unergründlichkeit. Ein Himmel, der eine weiße Mittagssonne aufnimmt oder eine rote Abendsonne oder den blauen Mond oder die gelben Flimmerpunkte des Schwans und des Bären und seine Farbe nach ihrer Leuchtkraft wechselt vom Blau der Alpenrose zum Blau des Indigos und zum Schwarzblau der Waldbeeren – ein Gleichnis ihrer Freundschaft.

      Wie eine schenkende Stellung zu einem Menschen so kostbar in Hermine zu sein schien, verwahrte sie sich gegen andere durch Verschmähen und heftete ihre Abneigung am festesten

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