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Darum sei er trotz des Altersunterschiedes Dagotts Freund geworden. Im übrigen – Karp schweige am liebsten. Er solle Hermine wie gesagt Privatunterricht erteilen, zusammen mit Elisabeth, der Tochter des Bürgermeisters Pfeiffer, und werde gewiß ihr bester Lehrer sein. Sobald Hermine ihren Namen aussprechen hörte, fühlte sie Dagott sich ihr zuwenden, und richtig verlangte er wieder, wie so oft, einen Kuß von ihr. Es zuckte ihr einen Augenblick in den Lidern, dann öffneten sie sich gegen ihren Willen, gerade als sie überlegte, ob sie sich schlafend stellen sollte. Bei dem widrigen Kusse kam es wieder zu der weichen Berührung mit dem Pelze, und diesmal drückte er sich eisig an die Wange. Sofort schloß Hermine wieder ihre Augen, nun mit Absicht und trotzigem Gesichte. Sie wünschte, jemand möchte es wahrnehmen und fragen, ob sie böse sei. Sie biß die Zähne aufeinander und stemmte die Füße gegen die Vorderwand des Schlittens. Wenn die Schuhe so fest und andauernd nach vorn gedrückt wurden, war von der weichen Decke nichts zu spüren. Nach einer Weile flüsterte Dagott: „Pst! Sie schläft!“ In Hermines Seele wurde es ganz kalt, aber ihr Herz schlug heftiger. Einige Krähenschreie drangen an ihr Ohr. Sie suchte sich den Lehrer Karp vorzustellen, der ihnen das Essen warmhielt, sah aber nur zwei sehr blanke, große Stiefelspitzen unter weißer Küchenschürze hervorleuchten, während sich das Gesicht nicht enthüllen wollte. Gewiß würde er ihr ein sehr guter Lehrer sein, bloß, daß er mit Dagott verkehrte, war unrecht. Dann saß er vor ihr, hielt eine pechschwarze Schiefertafel auf seiner Schürze im Schoß und rechnete mit nachdenklichem Gesicht, den Stift in milchzarter Hand, eine Aufgabe nach. Ja, diese sinnenden Augen und diesen dunklen Vollbart würde er haben. Sie wollte auch lieber als auf der Dorfschule zum Unterricht gehen. So rückte eben ihre trotzig-kalte Stimmung in einem etwas wärmeren wehmütigen Sichbescheiden zusammen, als Dagott wiederum etwas flüsterte, das ihr klang: „ß—ß—ß— die Stadt!“ Sie öffnete erschrocken die Augen und war schon so schläfrig geworden, daß sie das Schließen derselben vergaß. Aber der Haß gegen Dagott, den sie nun nicht mehr beachtete, saß breit in ihr und verschlang den Keim jeder anderen Empfindung.

      Da lag die Stadt in geräumigem Kesseltal, düster gegen das Schneefeld und den grauwolkigen Himmel abgehoben. Die dunklen Massen flossen ineinander über. Das Ganze sah Hermine aus wie ein großer Mantel, der über einen eckigen Gegenstand hingebreitet ist und durch den sich viele Messer steif in die Höhe gebohrt haben. Diese Erhebungen waren die durch die Gärten zahlreich zerstreuten Pappeln und der Kirchturm. Und der dunkle doppelte See starrte unten im Osten wie ein großer, bis an den Rand versenkter Paartopf voll geronnenem Blut. Hermine hatte bisher erst zwei, nach der entgegengesetzten Richtung gelegene Nachbarstädte ihres Geburtsdorfes kennen gelernt, die ihr gar wohl gefielen. Der Anblick dieser beklemmte. Sie konnte sich hier nur ein gedrücktes Leben erwarten unter Leuten nach dem Bilde und der Weise Dagotts.

      In Wirklichkeit aber waren hier zum größten Teil frohe, gesunde und fleißige Menschen ansässig, manchmal ländlichen Sitten noch angenähert. Viele Behörden und Beamte gab es nicht; in jedem Jahre wurden nur wenige Gerichtstage von auswärtigen Richtern abgehalten. Am Ostrande, ein wenig außerhalb, hatten noch viele Ackerbürger ihre Scheunen und Stallungen, und in jenem schwarzen See gab es Sommers wohl auch heitere Spiele, wenn etwa Kahnfahrer von den in die Schwemme gerittenen Pferden angeprustet und von übermütigen Knechten bespritzt wurden.

      Als die drei in die Stadt einfuhren, begann es zu schneien. Aber der Wind zerstörte allen Frieden rieselnder, schwebender Flocken. Es war auch schon dämmerig geworden, und Hermine konnte nur mit Anstrengung verfolgen, wie diese schneeigen Motten herumwirbelten und auf roten Dächern und an Mauern in schwarze Sterne versprangen. Einige Zeit darauf hafteten ihre Augen überall kälter, doch länger auf nassen, angedunkelten Flächen. Zwei gebukelte Fenster schoben sich wie große müde Glotzaugen durch den grauweißen, wehenden Schleier. Ein leiser Flor schien um alle Gegenstände gewickelt, selbst um die Leiber der langsam ausgreifenden Pferde. Die acht Beine spielten in zuckender Verwirrung durcheinander wie in einem Netze. Die Schellen klangen ungleichmäßiger, mindestens wesentlich lauter als auf dem freien Felde, und manchmal schien es, als weckten sie ein Echo. Hermine glaubte auf einem Schornstein, der, von halbkreisförmig gebogenem Blech wie von einer Nonnenkapuze überwölbt, seltsame Rauchkringel ausströmte, eine geduckte Gestalt zu sehen, die ebenfalls ein Geläut in Händen hielt, mit dem zahnlosen Kopfe wackelte und schließlich im Rauche dem Schlitten nachgeschwebt kam. Sie seufzte.

      Die ersten Straßen waren leer, nur lief ein langhaariger Hund vor den Ankömmlingen über das Pflaster, sah sich beinahe scheu nach ihnen um und bellte nicht einmal. Manche Quergäßchen waren hügelig angelegt, ihre kleinen Häuser unregelmäßig gebaut. Ziemlich viele schattige Winkel ließen ein phantastisches Aussehen des Städtchens ahnen, wider alle Wirklichkeit. Hermine erquälte sich ein häßliches Bild, da ihr in der Ermüdung die alte Heimat nun schon verklärt aufstieg, die diesen neuen Ort durchstöbernden Flocken hingegen wie kleine eisige Hände über die Backen fuhren und das ungewisse Licht wirklich allen Reiz verdrängte. Bei vielen Häusern standen Bäume; deren Äste falteten sich manchmal wie lange, hagere, schwarze Finger über niederen Dächern. Und die vielen Pappeln in den Gärten starrten wie schlanke Riesen, die ihre Hände eng an die Beine drücken und unheimlich in den leise zischenden Wind hinaushorchen.

      War aber auch das dort nur erfabelt? Auf dem Dache eines Hauses am Kirchhofe huschte eine dunkle, anscheinend männliche Gestalt mit einer Laterne in der Hand krumm dahin. Hermine erschrak. Dagott erklärte heiser: „Das ist der Totengräber Grelert. Er hat sich da oben einen Taubenschlag angelegt und geht nachsehen, ob alles zur Nachtruhe in Ordnung ist. – Der sonderbare Kauz ist ja beinahe unser Nachbar.“

      Hermine war froh, daß sie wirklich gleich absteigen durfte. Mit welchen Menschen sollte sie doch zusammen wohnen! In der vorigen Gasse hatte sie aus einem dunklen Hausflur hadernde Kinderstimmen und das schrill ritzende Auskratzen einer Bratpfanne gehört, hinter einem matt erleuchteten Fenster einen unförmigen, schreienden und zappelnden Säugling in den Armen eines Greises, der mit schiefem, zitterndem Munde zu singen schien, gesehen. Sie strich sich mit der Hand über das Antlitz und fröstelte.

      Da erschien Lehrer Karp in der Haustür. Er lächelte zwar, schien aber ebenfalls unter den Kleidern zu zittern, obgleich er wohl aus warmem Zimmer kam. Dieser Widerspruch erfüllte Hermine mit ungewisser Furcht.

      Karp stellte sich der Frau Dagott, noch immer lächelnd, vor, wobei ihm die Stimme ausglitt und in die Höhe fuhr, begrüßte dann alle drei mit einem vorsichtigen Händedruck und schritt ihnen unter mehrmaligem Willkommenwunsch durch den Korridor nach, im Dunkeln recht unverhohlen zitternd. Er hatte nämlich die neu angekommenen Möbel in der abgelegensten winterkalten Stube etwas beiseite gerückt; dabei waren ihm einige Begrüßungsreime durch den Kopf gegangen; da nahm er die Tische fester vor den Bauch und schleppte, bis sie fertig waren. Mit verklammten Händen hatte er sie vor einigen Minuten auf kleine Blättchen geschrieben, in die Teller des in der Staatsstube gedeckten Tisches gelegt, wiederholt betrachtet und sauber der Mitte zugezupft, schließlich aber, als der Schlitten draußen vorfuhr, doch schnell in der Tasche verborgen. Sogar die Betten im Schlafzimmer aufzudecken, hatte er nicht unterlassen.

      Im warmen Zimmer begann man sich lebhaft zu unterhalten. Dagott hob strahlend die linke Hand seiner Frau hoch, machte einige Walzerschritte, daß sein pelzgepolstertes breites Kreuz hin und her kippte wie ein ungeheurer Entenleib, und sang: „Nun sind wir da – jahaha!“ Karp erwärmte sich wieder und wurde einmal gesprächig, auch Frau Dagotts Stimme fiel oft ein.

      Nur Hermine war still. Sie träumte und wollte träumen. Düstere Pappeln, strenge Häuser umgaben sie und ein kalter Himmel. Warum war es hier drinnen nicht ebenso? Warum hatte sie sich dies alles anders vorgestellt? Zwar traut war es so nicht, viel zu groß gähnte das Zimmer, sehr dämmerig leuchtete die Lampe. Diese Uhr schlug nicht wie andere, sondern fragte mit hartem Ton immerzu: ja? ja? ja? ja?

      Hinter ihr stand Zitterlehrer Karp im Gespräch – mit trocken-feisten Backen und hellen Haaren. Er hatte weder Bart noch sinnende Augen und sprach mit dünner, gedehnter Mäuschenstimme. Nur selten wurde diese Stimme kräftiger, und den dann entstehenden Laut hatte Hermine beim Tischler gehört, wenn er mit seinem Hobel einen recht langen Schnörkelspan abschnitt. Was sollte sie bei Karp? Laufen, ganz schnell, ganz, ganz schnell bis zum Dorfe, wo die Hobelbank stand und Edwin Maßholder vielleicht davor!

      Bei solchen Gedanken, mit den Tränen kämpfend,

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