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weiß die Schwester nicht so genau, Lucienne. Da fragen Sie besser später Doktor Veber.»

      «Ich möchte es gern bald wissen.»

      «Warum?»

      «Ich kann es mir dann besser einteilen, wie lange ich dafür arbeiten muß.» Lucienne blickte auf ihre Hände. Die Finger waren dünn. «Ich muß auch noch einen Monat Zimmermiete zahlen», sagte sie. «Als ich hierherkam, war es gerade der dreizehnte. Am fünfzehnten hätte ich kündigen müssen. Jetzt muß ich noch den Monat bezahlen. Für nichts.»

      «Haben Sie nicht jemand, der Ihnen hilft ?»

      Lucienne blickte auf. Ihr Gesicht war plötzlich zehn Jahre älter. «Das wissen Sie doch selbst, Doktor! Der war nur ärgerlich. Er hätte nicht gewußt, daß ich so dumm sei. Sonst hätte er nie mit mir angefangen.»

      Ravic nickte. So etwas war nichts Neues. «Lucienne», sagte er, «wir können versuchen, von der Frau, die den Eingriff gemacht hat, etwas zu bekommen. Sie war schuld. Sie müssen uns nur ihren Namen geben.»

      «Polizei? Nein, da fliege ich selbst ’rein.»

      «Ohne Polizei. Wir drohen nur.»

      Sie lachte nur. «Von der kriegen Sie damit nichts. Die ist aus Eisen. Dreihundert Frank habe ich ihr bezahlen müssen. Und dafür …» Sie strich ihren Kimono glatt. «Manche Menschen haben eben gar kein Glück», sagte sie .

      «Doch», erwiderte Ravic. «Sie hatten eine Menge Glück.»

      Er sah Eugenie im Operationssaal. Sie putzte Nickelsachen . Sie war so versunken in ihre Arbeit, daß sie ihn nicht kommen hörte.

      «Eugenie», sagte er.

      Sie fuhr herum. «Ach Sie! Müssen Sie einen dauernd erschrecken?»

      «Ich glaube nicht, daß ich soviel Persönlichkeit habe. Aber Sie sollten die Patienten nicht erschrecken mit Ihren Geschichten über Honorare und Kosten.» «Die Hure hat natürlich sofort geklatscht.»

      «Eugenie», sagte Ravic. «Es gibt mehr Huren unter Frauen, die nie mit einem Mann geschlafen haben, als unter denen, die eine schwierige Arbeit daraus machen. Ganz zu schweigen von den Verheirateten. Außerdem hat das Mädchen nicht geklatscht. Sie haben ihm nur den Tag verdorben, das ist alles.»

      «Sie sollten heiraten, Eugenie», sagte er. «Einen Witwer mit Kindern. Oder den Besitzer eines Begräbnisinstituts.»

      «Herr Ravic», sagte die Schwester. «Wollen Sie sich bitte nicht um meine Privatsachen kümmern? Ich muß mich sonst bei Herrn Doktor Veber beschweren.»

      «Das tun Sie ohnehin den ganzen Tag.» Ravic sah mit Freude zwei rote Flecken auf ihren Wangenknochen erscheinen. «Warum können fromme Menschen so selten loyal sein, Eugenie? Den besten Charakter haben Zyniker; am unerträglichsten sind Idealisten. Gibt Ihnen das nicht zu denken?»

      «Gottlob nein.»

      «Das dachte ich mir. Ich gehe jetzt hinüber zu den Kindern der Sünde. Zum ›Osiris.‹ Für den Fall, daß Doktor Veber etwas für mich hat.»

      «Ich glaube kaum, daß Doktor Veber etwas für Sie haben wird.»

      «Ich werde bis ungefähr fünf Uhr dort sein. Dann in meinem Hotel.»

      «Schönes Hotel, die Judenbude.»

      Ravic drehte sich um. «Eugenie, nicht alle Flüchtlinge sind Juden. Noch nicht einmal alle Juden sind Juden. Und manche sind es, von denen man es nicht glaubt. Ich kannte sogar mal einen jüdischen Neger. War ein furchtbar einsamer Mensch. Das einzige, was er liebte, war chinesisches Essen. So geht es in der Welt zu.»

      Die Schwester antwortete nicht. Sie putzte eine Nickelplatte, die völlig blank war.

      Ravic saß in dem Bistro an der Rue La Boissiere und starrte durch die verregneten Scheiben, als er den Mann draußen sah. Es war wie ein Schlag in den Magen. Im ersten Augenblick fühlte er nur den Schock, ohne zu realisieren, was es war – aber gleich darauf stieß er den Tisch beiseite, sprang von seinem Stuhl auf und lief durch den vollen Raum der Tür zu.

      Jemand hielt ihn am Arm fest. Er drehte sich um. «Was?» fragte er verständnislos. «Was?»

      Es war der Kellner. «Sie haben nicht bezahlt, mein Herr.»

      «Was? – Ach so … ich komme zurück …»

      Der Kellner wurde rot. «Das gibt es hier nicht! Sie …»

      «Hier …»

      Ravic riß einen Schein aus der Tasche, warf ihn dem Kellner zu und riß die Tür auf. Er drängte sich an einer Gruppe von Leuten vorbei und stürzte nach rechts, um die Ecke, die Rue La Boissiere entlang.

      Jemand schimpft e hinter ihm her. Er ging so schnell er konnte, ohne aufzufallen. Es ist unmöglich, dachte er, es ist völlig unmöglich, ich bin verrückt, es ist unmöglich! Das Gesicht, dieses Gesicht, es muß eine Ähnlichkeit sein, ein blöder Trick, den meine Nerven mir spielen – es kann nicht in Paris sein, dieses Gesicht, es ist in Deutschland, es ist in Berlin, die Scheibe war verregnet, man konnte nicht deutlich sehen, ich muß mich geirrt haben, bestimmt… Er ging weiter, eilig. An der Kreuzung der Avenue Kléber blieb er stehen. Eine Frau, eine Frau mit einem Pudel, erinnerte er sich plötzlich. Gleich hinterher war der andere gekommen. Die Frau mit dem Pudel hatte er schon längst überholt. Rasch ging er zurück. Als er die Frau mit dem Hund von weitem sah, blieb er an der Bordkante stehen.

      Ravic spürte plötzlich, daß er naß von Schweiß war. Er wartete noch einige Minuten – das Gesicht kam nicht. Er musterte die geparkten Autos. Niemand saß darin. Er kehrte wieder um und ging bis zur Untergrundbahn an der Avenue Kleber. Er lief den Eingang hinunter, löste ein Billett und ging den Bahnsteig entlang. Es waren ziemlich viel Leute da. Bevor er durch war, lief ein Zug ein, hielt und verschwand in dem Tunnel. Der Bahnsteig war leer. Langsam ging er zurück in das Bistro. Er setzte sich an den Tisch, an dem er vorher gesessen hatte. Da stand noch ein Glas, halbvoll mit Calvados. Es schien sonderbar, daß es immer noch da stand … Der Kellner sah ihn «Entschuldigen Sie, mein Herr. Ich wußte nicht …»

      «Gut, gut», sagte Ravic. «Bringen Sie mir ein anderes Glas Calvados.»

      «Ein anderes?» Der Kellner blickte auf das halbvolle Glas auf dem Tisch. «Wollen Sie dieses nicht erst trinken?»

      «Nein. Bringen Sie mir ein anderes.» Der Kellner nahm das Glas. «Ist er nicht gut?»

      «Doch. Ich will nur ein anderes haben.»

      «Gut, mein Herr.»

      Ich habe mich geirrt, dachte Ravic. Die verregnete Scheibe, wie konnte man da etwas genau erkennen? Er starrte durch das Fenster. Er starrte aufmerksam hinaus, wie ein Jäger, er beobachtete jeden Menschen, der vorüberging … Er erinnerte sich an Berlin. Ein Sommerabend 1934 – das Haus der Gestapo; Blut; ein kahles Zimmer ohne Fenster; das blendende Licht nackter elektrischer Birnen; ein Tisch mit roten Flecken und Riemen zum Festschnallen; Schmerz, Qual, das fassungslose Gesicht Sybils; ein paar Männer in Uniform, die sie hielten – und eine Stimme und ein lächelndes Gesicht, das freundlich erklärte, was mit der Frau geschehen würde. Sybil wurde drei Tage später tod gefunden. ..

      Der Kellner erschien und stellte das Glas auf den Tisch. «Dies ist eine andere Sorte, mein Herr. Von Didier aus Caën. Älter.»

      «Gut, gut. Danke.»

      Ravic trank das Glas aus. Er holte ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche, zog eine heraus und zündete sie an. Seine Hände waren noch immer nicht ruhig. Er warf das Streichholz auf den Boden und bestellte einen anderen Calvados. Das Gesicht, dieses lächelnde Gesicht, das er vor ein paar Minuten gesehen hatte – es mußte ein Irrtum sein! Es war unmöglich, daß Haake in Paris war. Unmöglich! Er schüttelte die Erinnerungen ab. Es hatte keinen Zweck, sich damit kaputtzumachen, solange man nichts tun konnte. Er rief den Kellner und zahlte.

      Er saß mit Morosow in der Katakombe.

      «Du glaubst nicht, daß er es war?» fragte Morosow.

      «Nein. Aber er sah so aus. Irgendeine verdammte Ähnlichkeit. Oder mein Gedächtnis, das

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