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gehabt, obgleich ich entschieden nichts mehr wußte – und meine Tränen flossen nun schon aus einem anderen Grunde.

      Karl Iwanowitsch ging ins Klassenzimmer; ich zog schluchzend meine Strümpfe an und dachte über den schrecklichen, erfundenen Traum nach.

      Jetzt trat unser Wärter Nikolas ins Zimmer, ein kleines, sauberes, geschorenes Männchen, stets ernst, akkurat, respektvoll und ein großer Freund von Karl Iwanowitsch. Er brachte unsere Kleider und das Schuhzeug: Stiefel für Wolodja, mir einstweilen noch diese dummen Schuhe mit Bändern. In seiner Gegenwart schämte ich mich zu weinen; außerdem schien die Morgensonne lustig ins Fenster, und Wolodja machte am Waschbecken nach, wie sich Marja Iwanowna (die Gouvernante unserer Schwester) wusch und lachte dabei so lustig und laut, daß sogar der ernste Nikolas mit dem Handtuch auf der Schulter, dem Wasserkrug in der einen und der Seife in der anderen Hand losplatzte und dann sagte: »Nun hören Sie auf, Wladimir Petrowitsch; bitte, waschen Sie sich.«

      Ich war wieder ganz vergnügt.

      Aus dem Klassenzimmer nebenan ertönte Karl Iwanowitschs Stimme, jetzt schon ohne den Ausdruck von Güte, die mich zu Tränen rührte. Er rief vielmehr streng: »Sind Sie bald fertig?«

      Im Klassenzimmer war Karl Iwanowitsch ein ganz anderer Mensch: Amtsperson, Erzieher. Ich zog mich schnell an, wusch mich und folgte seinem Ruf, noch mit der Bürste in der Hand, das nasse Haar kämmend.

      In demselben Aufzug, die Brille auf der Nase, über die hinweg er Wolodja ansah, der etwas ausgefressen hatte und in der Ecke kniete, saß auf seinem gewöhnlichen Platz, rechts zwischen Tür und Fenster Karl Iwanowitsch. Links von der Tür hingen zwei Bücherborte: das eine unseres, für Kinder; das andere seins, sein Eigentum! Auf unserem befanden sich alle möglichen Bücher: Lehrbücher und andere, gebunden und ungebunden; teils standen, teils lagen sie. Nur zwei große Bände »Histoire des voyages« in rotem Einband standen stets akkurat am Rande; dann kamen lange, dicke, kleine Bücher, Deckel ohne Bücher und umgekehrt – da wurde alles hingestopft und – geworfen, wenn er vor der Erholungspause die »Bibliothek«, wie Karl Iwanowitsch das Bücherbort nannte, in Ordnung bringen hieß. Die Büchersammlung auf seinem eigenen Bort war nicht so groß wie unsere, dafür aber noch mannigfaltiger. Ich erinnere mich an drei Bücher: eine deutsche Broschüre über die Düngung in Kohlgärten – ungebunden; ein Band der Geschichte des Siebenjährigen Krieges, in Pergament, an einer Ecke durchgebrannt; und ein vollständiges Lehrbuch der Hydrostatik. Während seines ganzen fünfzehnjährigen Aufenthaltes in unserem Hause las Karl Iwanowitsch nichts als diese Bücher und die Zeitschrift »Nordische Biene«, verbrachte aber die größere Hälfte des Tages mit Lektüre, so daß er sich die Augen verdarb. Außerdem las er noch die Bibel, aber nur Sonntags. Unter den Gegenständen auf seinem Bücherbort ist mir einer ganz besonders im Gedächtnis geblieben: das war eine Scheibe aus Pappe mit hölzernem Gestell, an dem sich die Scheibe durch Stifte hoch und niedrig stellen ließ. Auf die Scheibe war ein Bild geklebt, die Karikatur einer Dame und eines Friseurs. Karl Iwanowitsch war sehr geschickt im Kleben und hatte diese Scheibe eigenhändig zum Schutz seiner schwachen Augen vor dem Licht verfertigt. Noch jetzt sehe ich die lange Gestalt im wattierten Schlafrock und roter Zipfelmütze, unter der spärliches, graues Haar hervorguckt. Er sitzt am Tisch mit der Friseurpappscheibe; Schatten fällt auf sein Gesicht. In der einen Hand hält er das Buch gegen das Licht, die andere ruht auf der Sessellehne. Neben ihm liegt die Uhr mit einem Jäger auf dem Zifferblatt, sein gewürfeltes Schnupftuch, die schwarze, runde Tabaksdose, ein grünes Brillenfutteral, die Lichtschere auf dem Untersatz: alles liegt so akkurat und symmetrisch auf seinem Platz, daß man schon daraus auf das reine Gewissen und den Seelenfrieden dieses Mannes schließen kann.

      Wenn ich unten im Saal genug herumgetollt hatte, schlich ich wohl auf Zehenspitzen oben ins Klassenzimmer und sah, wie Karl Iwanowitsch allein in seinem Lehnstuhl saß und mit dem gewöhnlichen wichtigen Ausdruck las. Bisweilen traf ich ihn nicht lesend: die Brille auf die große Adlernase heruntergerutscht, die blauen, halbgeschlossenen Augen mit sonderbarem Ausdruck über das Buch hinwegblickend und die Lippen zu einem traurigen Lächeln verzogen. Im Zimmer herrschte Stille; nur sein gleichmäßiges Atmen war zu hören und das Ticken der Jägeruhr. Da wurde einem traurig zumute.

      Oft, wenn er mich nicht bemerkte, stand ich da und dachte: armer, armer Karl Iwanowitsch. Wir unten spielen – wir sind viele, sind vergnügt; er aber ist unglücklich und ganz allein, und niemand hat ihn lieb. Er sagt mit Recht, daß er verwaist ist. Wie schrecklich ist seine Lebensgeschichte, die er Nikolas einmal erzählt hat … Schrecklich ist seine Lage! Er tut einem so leid, daß man bisweilen hingeht, ihn bei der Hand faßt und sagt: »lieber Karl Iwanowitsch!« Er hatte es gern, wenn man so zu ihm sprach, streichelte mich stets und war augenscheinlich gerührt. Ich benutzte die Gelegenheit und bat ihn dann schnell, mir ein Hasen- oder Nonnenschattenbild an der Wand zu zeigen oder eine Maus aus dem Schnupftuch zu machen.

      An der anderen Wand hingen Landkarten, fast sämtlich zerrissen, aber von Karl Iwanowitsch kunstgerecht wieder zusammengeklebt. Trotzdem sah Europa Gott weiß welchem Ungeheuer ähnlich.

      An der dritten Wand, in deren Mitte die Tür nach unten führte, hingen auf der einen Seite zwei Lineale: eins zerschnitten für unseren Gebrauch, das andere, neue, sein Eigentum, wurde mehr zu unserer Aufmunterung als zum Liniieren gebraucht. Auf der anderen Seite eine schwarze Tafel, auf der mit Nullen unsere großen und mit Kreuzen die kleinen Sünden vermerkt wurden. Links vor der Tafel beim Ofen war die Ecke, in der wir niederknien mußten und in der gegenwärtig Wolodja kniete.

      Als ich eintrat, blickte er Karl Iwanowitsch an, der aber die Augen nicht aufschlug. Da setzte Wolodja sich auf die Knie, schnitt mir eine furchtbar komische Grimasse und hielt sich die Nase zu, um nicht loszuplatzen. Aber das nützte nichts, er prustete dennoch, während Karl Iwanowitsch ins Schlafzimmer ging, um sich anzukleiden.

      Wie genau ich mich an diese Ecke erinnere! Ich weiß noch die Ofenklappe, das Luftloch darin, das Sausen, wenn man die Klappe aufzog. Bisweilen kniete und kniete ich da in der Ecke und dachte: Karl Iwanowitsch hat dich vergessen; sah mich um, aber da saß er immer noch in derselben Haltung, las seine Geschichte des Siebenjährigen Krieges oder die Hydrostatik. Für ihn vielleicht ganz gemütlich; an mich aber denkt er nicht! Da fängt man denn an, um sich bemerkbar zu machen, leise die Ofenklappe zu öffnen und zu schließen, oder Kalk von der Wand zu kratzen; wenn man aber schließlich ein zu großes Stück lockert und dieses mit Gepolter auf den Boden fällt – dann ist wahrhaftig die Angst schlimmer als jede Strafe; man sieht sich um – er sitzt immer noch in derselben Haltung.

      Die letzte Wand nahmen drei Fenster ein. Mitten im Zimmer stand ein Tisch mit zerrissenem schwarzen Wachstuch, unter dem an vielen Stellen die mit dem Federmesser zerschnittenen Tischecken hervorguckten. Ringsum ungestrichene, vom langen Gebrauch aber glänzend blank gewordene, harte Sitzböcke.

      Als Karl Iwanowitsch hinausgegangen war, ging ich zu Wolodja und fragte: »warum?«

      »Ach, Dummheit,« meinte er nachlässig, »weil ich mich zum Fenster hinausgelehnt habe, um Akim zu sehen (Akim war unser halbverrückter Gärtner) und nicht bemerkt habe, daß er da seine dummen Schachteln zum Trocknen aufgestellt hatte; da habe ich aus Versehen eine zerdrückt.«

      »Welche denn?« fragte ich.

      Er konnte mir nicht antworten, weil in diesem Augenblick Karl Iwanowitsch, vollständig angekleidet, im blauen Rock und grauen Hosen ins Zimmer trat. Wolodja deutete mit seinen dreisten, schwarzen Augen nur auf die Ecke hinter dem Ofen, hob wieder die Schultern und wäre beinahe losgeplatzt.

      Ich sah hin; das beste Erzeugnis Karl Iwanowitschs – ein Futteral mit zwei Zwischenwänden, das nur noch trocknen und mit Einfassung beklebt werden mußte, um am Namenstage einem Familienmitgliede als Präsent dargebracht zu werden, ein Futteral, für welches Karl Iwanowitsch beim Tischler Kondratius extra eine Form bestellt, an dem er mit besonderer Sorgfalt und Liebe gearbeitet hatte – dieses Futteral lag zerdrückt, verbogen hinter dem Ofen zwischen Staub und neben der Dielenbürste auf dem Fußboden – wahrscheinlich hatte Karl Iwanowitsch es in einem Augenblick des Ärgers selbst dorthin geworfen.

      Es kam mir sonderbar vor, daß Wolodja darüber lachen konnte.

      Karl Iwanowitsch blieb vor der Tür stehen und begann auf dem oberen Balken mit Kreide Buchstaben und Ziffern zu malen. Er führte seinen Kalender

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