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Handbuch des Strafrechts. Jörg Eisele
Читать онлайн.Название Handbuch des Strafrechts
Год выпуска 0
isbn 9783811449664
Автор произведения Jörg Eisele
Издательство Bookwire
b) Systematik
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Die Aussetzung ist ein Delikt, das auf der Ebene des Grundtatbestandes als konkretes Gefährdungsdelikt[286] in zwei Alternativen in Erscheinung tritt: Versetzen des Opfers in eine hilflose Lage (§ 221 Abs. 1 Nr. 1 StGB) und Imstichlassen des Opfers in hilfloser Lage (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB). Der Versuch ist nicht mit Strafe bedroht, vgl. §§ 23 Abs. 1, 12 Abs. 2 StGB. In Absatz 2 normiert § 221 StGB zwei Qualifikationstatbestände mit Verbrechensqualität (§ 12 Abs. 1 StGB): Tatbegehung durch Vater oder Mutter gegen das eigene Kind bzw. durch einen für Erziehung oder Betreuung zuständigen Beschützergaranten gegen den eigenen Schützling (Nr. 1) sowie Verursachung einer schweren Gesundheitsschädigung des Opfers (Nr. 2). Jedenfalls bei Nr. 1 ist der Versuch strafbar, §§ 23 Abs. 1, 12 Abs. 1 StGB.[287] Eine weitere (Erfolgs-)Qualifikation mit Verbrechensqualität regelt Absatz 3. Verursacht die Aussetzung den Tod des Opfers, ist die Strafe Freiheitsstrafe von drei bis 15 Jahren (§ 38 Abs. 2 StGB). Der Versuch dieses erfolgsqualifizierten Delikts ist zweifelsfrei dann strafbar, wenn die Tat zugleich die Voraussetzungen des § 221 Abs. 2 Nr. 1 StGB erfüllt.
c) Grundtatbestand
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Die Aussetzung gehört zu den „Straftaten gegen das Leben“ (Überschrift 16. Abschnitt), weil sie eine Tat ist, durch die typischerweise ein Mensch in Lebensgefahr gebracht wird. Ausreichend ist allerdings auch die konkrete Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung. Tatobjekt kann jeder lebende Mensch sein.[288] Die Abgrenzung zwischen nasciturus (§§ 218 ff. StGB) und Mensch richtet sich nach den allgemeinen Kriterien. Eine Tat gegen eine schwangere Frau erfüllt den Tatbestand nur, wenn die Frau selbst in die Gefahr des Todes oder schwerer Gesundheitsschädigung gebracht wird. Eine allein dem ungeborenen Kind drohende Gefahr reicht nicht.[289] Auch die Herbeiführung einer Frühgeburt mit der Folge, dass das geborene Kind in der konkreten Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung oder des Todes schwebt, vermag den Tatbestand nicht zu erfüllen. Denn die Tatopfertauglichkeit richtet sich nach dem Zustand, in dem sich das künftige Lebewesen befindet, während es erstmalig von den Wirkungen der Tat physisch betroffen ist. Das Opfer braucht keine per se hilflose Person zu sein, obwohl dadurch die Tatbestandsverwirklichung erleichtert wird. Es kommt darauf an, dass das Opfer durch die Tat in eine Lage versetzt wird, in der es hilflos ist. Das ist dann der Fall, wenn es sich nicht selbst aus der konkret gefährlichen Lage befreien bzw. vor der drohenden Gesundheitsschädigung oder dem drohenden Tod schützen kann und fremde Hilfe nicht erreichbar ist.[290] Das Tatbestandsmerkmal „versetzen“ (Nr. 1) ist die Herbeiführung des Hilflosigkeitszustandes. Meistens wird das durch Verbringung des Opfers an einen anderen Ort geschehen.[291] Dabei muss sich das Opfer nicht unbedingt zuvor in einer geborgenen Lage befunden haben. Auch die Verschlimmerung der Situation eines bereits in hilfloser Lage befindlichen Menschen ist tatbestandsmäßig.[292] „Versetzen“ ist auch ohne Ortsveränderung des Opfers möglich, z.B. durch Beseitigung von schutzbereiten Personen (der Täter lockt die Mutter von ihrem im Kinderwagen liegenden Säugling weg) oder gefahrabwendungstauglichen Gegenständen (der Täter entwendet alle lebenswichtigen Medikamente, die der Kranke benötigt).[293] Wer als Garant verpflichtet ist, einen anderen vor der hilflosen Lage zu bewahren, kann das Tatbestandsmerkmal „Versetzen“ dadurch erfüllen, dass er die hilflose Lage nicht verhindert (z.B. die Mutter sieht untätig zu, wie ihre dreijährige Tochter in den dunklen Wald hineinläuft).[294] Schafft oder verschlimmert der Garant die hilflose Lage des Opfers dadurch, dass er sich selbst räumlich entfernt, begeht er ebenfalls Versetzen durch garantenpflichtwidriges Unterlassen, also §§ 221 Abs. 1 Nr. 1, 13 Abs. 1 StGB. Für die 2. Alternative „Im Stich lassen“ bleiben somit nur die Fälle übrig, in denen die – von der konkreten Gesundheits- oder Lebensgefährdung zu unterscheidende[295] – hilflose Lage durch die Untätigkeit des Garanten nicht verschlimmert wird, aber die konkrete Gefahr für Gesundheit oder Leben infolge des Imstichlassens eintritt.[296] Ortsveränderung des Opfers oder des Täters setzt § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht voraus.[297] Die am Krankenbett des schwerkranken Patienten sitzende Krankenschwester begeht Aussetzung, wenn sie die zur Erhaltung des Gesundheitszustandes gebotenen Aktivitäten unterlässt. Taterfolg ist die konkrete Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung oder des Todes.[298] Die Verursachung der hilflosen Lage als solcher ist lediglich ein strafloser Versuch, solange sich das Gefährdungspotential der Hilflosigkeit noch nicht zu einer konkreten Gefahrenlage verdichtet hat. „Schwer“ ist eine Gesundheitsschädigung, wenn sie entweder in eine der Schadensklassen des § 226 Abs. 1 StGB eingeordnet werden kann oder einen gleichen Schweregrad aufweist. Da die Gefahr der schweren Gesundheitsschädigung eine Vorstufe der konkreten Todesgefahr ist, kann der Tatbestand dadurch verwirklicht werden, dass ein bereits in der konkreten Gefahr schwerer Gesundheitsschädigung befindlicher Mensch in eine andere Hilflosigkeitssituation versetzt wird, in der ihm konkrete Gefahr noch schwererer Gesundheitsschädigung oder Gefahr des Todes droht.[299] Zwischen tatbestandsmäßiger Handlung, hilfloser Lage und konkreter Gefahr muss ein durchlaufender Kausal- und Zurechnungszusammenhang bestehen.[300] Die Versetzung in hilflose Lage oder das Imstichlassen in hilfloser Lage muss also eine Risikoerhöhung bewirken. Gerät das Opfer in der neuen hilflosen Lage in eine konkrete Lebensgefahr, die ihm in der ursprünglichen geschützten Lage ebenso zugestoßen wäre, ist die Gefährdung nicht objektiv zurechenbar (nach der Evakuierung eines bombardierten Krankenhauses werden die Patienten in eine Behelfsunterkunft gebracht, die von dem Bombardement gleichermaßen betroffen ist). Der Zurechnungszusammenhang kann dadurch unterbrochen werden, dass das Opfer nach vorübergehender Hilflosigkeit in einen Zustand relativer Geborgenheit gerät und erst jetzt eine konkrete Gefahr schwerer Gesundheitsschädigung oder des Todes entsteht. Hilflose Lage und konkrete Gefahr müssen also koinzident sein.
d) Qualifikationen
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§ 221 Abs. 2 StGB normiert zwei Qualifikationen, die an sehr unterschiedliche Umstände anknüpfen: In der Alternative Nr. 1 ist es die Verletzung einer gesteigerten Fürsorgepflicht des Täters, die den Unrechtsgehalt der Tat erhöht. In der Alternative Nr. 2 bewirkt das Umschlagen der konkreten Gefährdung in eine effektive schwere Schädigung der Gesundheit eine Steigerung des Erfolgsunrechts. Bedenken mit Blick auf das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG) weckt die Fassung des § 221 Abs. 2 Nr. 1 StGB: Verbrechensstrafe trifft den Vater oder die Mutter, der/die die Aussetzung zum Nachteil des eigenen „Kindes“ begeht. Dass diese Eltern-Kind-Beziehung nicht auf leibliche Kinder beschränkt ist, sondern auch adoptierte Kinder umfasst, ergibt sich aus dem Gesetzeswortlaut mit hinreichender Klarheit.[301] Fraglich ist indessen, ob mit dem Merkmal „Kind“ auch eine Altersgrenze verbunden ist. Die naheliegende Bezugnahme auf § 176 Abs. 1 StGB, wo als „Kind“ eine „Person unter vierzehn Jahren“ definiert wird, findet in der Literatur nur wenig Anklang. Eine einheitliche Eingrenzung des geschützten Personenkreises existiert nicht. Das Spektrum der Vorschläge ist breit und reicht von: „Das Alter des Kindes spielt keine Rolle“[302] über „Jugendliche im Sinne des § 1 Abs. 1 JGG“[303] bis zur Anlehnung an § 176 Abs. 1 StGB.[304] Da die elterliche Personensorgepflicht erst mit Volljährigkeit des Abkömmlings endet, spricht die ratio der Norm für Grenzziehung bei Vollendung des 18. Lebensjahres.[305] Dies müsste allerdings vom Gesetzgeber durch Einfügung des Wortes „minderjähriges“ klargestellt werden. In der jetzigen Fassung spricht der Wortlaut klar für die restriktivere Sichtweise und Übernahme der Legaldefinition des § 176 Abs. 1 StGB. Der Kreis der geschützten Personen der zweiten Alternative des § 221 Abs. 2 Nr. 1 StGB ist altersmäßig nicht begrenzbar.[306]
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§ 221 Abs. 2 Nr. 2 StGB normiert ein erfolgsqualifiziertes Delikt.[307] Da hinsichtlich des qualifizierenden Schädigungserfolges Fahrlässigkeit ausreicht (§ 18 StGB), handelt es sich dem materiellen Unrechtsgehalt nach um einen speziellen Fall der fahrlässigen Körperverletzung. Zwischen der zum Grundtatbestand gehörenden konkreten Gefährdung