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Stock eines ansehnlich renovierten Altbaus in der Innenstadt lag. Als sie an der Türe der Praxis klingelte, öffnete zunächst niemand. Zwei Minuten später allerdings kamen die beiden Sprechstundenhilfen schwatzend heraus, schon fertig angezogen in Mänteln und Stiefeln, um ihren verdienten Feierabend anzutreten. Die beiden sahen nicht gerade begeistert drein, als sie die späte Patientin im Treppenhaus bemerkten.

      »Oh, hallo Frau Keller! Also, tut mir leid, aber wir haben eigentlich schon geschlossen!«, bemerkte die Ältere in vorwurfsvollem Ton. »Wenn etwas Dringendes ist, Sie wissen ja, die Bereitschaft im Medizinischen Zentrum hat noch geöffnet!« Damit wollten die beiden verschwinden und Meike ihrem Schicksal überlassen.

      »Aber ich will mich doch gar nicht behandeln lassen! Ich müsste nur kurz mit Heinrich, ich meine, Dr. Berner sprechen. Und das ist wirklich eilig!« Meike konnte durchaus energisch werden, wenn es sein musste. Wenn man sich nicht durchsetzen konnte, war man heutzutage als Kindergärtnerin verloren. Sie kannte Kolleginnen, die sich bereits schwer taten, mit Vierjährigen fertig zu werden. Die Arzthelferin verdrehte die Augen in Richtung der zartgelben Stuckdecke, sperrte dann aber seufzend die schwere Holztür der Praxis wieder auf. »Ich sehe mal nach, ob ich ihn stören kann! Warten Sie hier einen Moment.«

      Die Holzdielen der Praxis knarrten, als sich jemand mit schnellem Schritt der Eingangstüre näherte. Es war ihr Jugendfreund Heinrich, der erfreut heraneilte und sie in sein Sprechzimmer bat. Meike fühlte sich bei diesem Arzt gut aufgehoben, seit er gleich nach dem Medizinstudium diese Arztpraxis eröffnet hatte. Ihre ganze Familie war niemals woanders hingegangen, wenn ärztlicher Rat von Nöten war. Bei Heinrich handelte es sich um einen Menschen, dem man vorbehaltlos vertrauen konnte. Meike und er waren dick befreundet gewesen, bis sich ihre Wege wegen der Schullaufbahn trennten. Obwohl auch Meike mit ihren guten Noten ins Gymnasium hätte gehen können, beschlossen ihre Eltern, dass für ein Mädchen die Realschule gut genug wäre. Meike würde ja irgendwann sowieso heiraten und ein Studium wäre der Familie bei weitem zu teuer gekommen.

      So kam es, dass Heinrich weitgehend aus Meikes Leben verschwand. Dr. Heinrich Berner heiratete die schöne Anna, die ihm schon lange nachgelaufen war und mit Nachdruck sowie allen Mitteln das Ziel verfolgte, Frau Doktor zu werden. Meike schloss aus Heinrichs Wahl, dass sie selbst bei ihm bestimmt sowieso nie eine Chance gehabt hätte, auch wenn sie ihm damals ins Gymnasium gefolgt wäre.

      Anna bot optisch das glatte Gegenteil, war groß, schlank, attraktiv und überaus blond. Leider hatte sie auch einen gegenteiligen Charakter. Diese Frau wurde von Ehrgeiz, Egoismus und Oberflächlichkeit getrieben, Meike dagegen galt als warmherzige, liebenswürdige Mama. Wenn die Kinder glücklich waren, so war sie es auch. Da brauchte es weder Shopping, noch Partys.

      Ab und zu traf man sich später zufällig bei Kinobesuchen, in der Fußgängerzone oder beim Elternabend auf dem Flur des örtlichen Gymnasiums, denn Heinrichs Sohn Max besuchte dieselbe Schule wie Lena. Alle drei Söhne waren bei Meike in der Kindergartengruppe gewesen. Und jedes Mal fragte sich Heinrich wider Willen, ob er wirklich die richtige Wahl getroffen hatte; Meike war ein Mensch aus Fleisch und Blut, besaß ein Herz. Anna? Die war eine meist übel gelaunte Puppe. Wenn man Dr. Heinrich Berner gefragt hätte, was seine Frau am besten könne, hätte er geantwortet: Kreditkarten benutzen.

      Es war viel zu spät für solche Gedanken. Meike hatte Piet und der war zwar einfach strukturiert, das hatte Heinrich gleich gemerkt, aber gleichwohl ein treuer, zuverlässiger Ehemann. Er selbst war Vater von drei Söhnen, auch Meike hatte drei Kinder, Lena mitgerechnet. Viel zu spät, leider.

      »Ja Meike, welch Glanz in meiner bescheidenen Hütte! Lange nicht gesehen, was verschafft mir die Ehre?« Dr. Berner rückte seiner Jugendfreundin eilfertig einen bequemen Sessel zurecht, setzte sich ihr gegenüber. Mit Meike ein paar freundschaftliche Worte wechseln zu können war allemal besser, als sofort nach Hause in Annas unterkühlten Dunstkreis fahren zu müssen.

      »Heinrich, es tut mir leid, dich so spät noch zu stören. Aber ich weiß mir einfach nicht mehr zu helfen und brauche deinen Rat. Du kennst Lena doch auch schon ewig. Wie oft waren wir hier gesessen und haben darüber gesprochen, wie dünn ihr Nervenkostüm ist und wie schwer für sie immer noch die Verarbeitung des Traumas mit ihrer Mutter zu sein scheint. Wahrscheinlich glaubst du mir gar nicht, wenn ich dir jetzt sage, dass sich ihr Wesen ins genaue Gegenteil verkehrt hat. Innerhalb eines einzigen Tages verwandelte sie sich von unserer unnahbaren, zurückgezogenen Lena in … ja, ich weiß auch nicht. Rennt jedenfalls offenher zig herum, redet, als käme sie aus der Bronx. Und dann ist sie abgehauen! Einfach so, plünderte ihr Sparkonto und meinte, sie werde jetzt endlich leben, fliege jetzt erst einmal nach Spanien. Man konnte überhaupt nicht mehr normal mit ihr sprechen!« Dr. Berner sah tatsächlich ungläubig drein. »Natürlich glaube ich dir, Meike! Warum sollte ich nicht? Du bist ein vollkommen bodenständiger Mensch und eine gute Beobachterin, schon berufsbedingt. Aber sag mal – wir reden hier echt von DIESER Lena? Und ihre Verwandlung vollzog sich wirklich innerhalb eines Tages, nicht schrittweise, sagst du?«

      »Genau, das ist es ja! Ich habe Angst bekommen, dass ihr irgendetwas passiert ist, dass sie womöglich an eine Sekte oder in falsche Gesellschaft geraten ist. Die ist doch solch ein Schaf und vermutet bei niemandem etwas Böses. Also habe ich … habe ich in ihre Handtasche gesehen, die sie an jenem Abend dabei gehabt hatte. Nicht, dass ich sonst so was mache, aber ich musste doch …!«

      »Meike, jetzt mach dir bloß deswegen keine Vorwürfe! Schau, du meinst es schließlich nur gut. Du hast ja Recht, irgendetwas muss passiert sein. Hast du einen Hinweis gefunden?«

      »Allerdings. Und daher wollte ich dich als Fachmann fragen, ob das hier der Grund dafür sein könnte!« Meike kippte den Inhalt ihrer Tasche auf Dr. Berners Schreibtisch.

      »Ach, du meine Güte. Psychopharmaka … die waren alle in Lenas Tasche? Himmel, dann wollte sie sich vielleicht umbringen! Was auch funktioniert hätte, wenn sie die alle eingenommen hätte. Aber da ist nur eine einzige Schachtel leer, die anderen hat sie nicht angerührt, wie es scheint.« Dr. Berner wirkte ehrlich betroffen.

      Hatte er die Suizidneigung bei Lena während seinen Untersuchungen übersehen? Meike war öfters mit ihr vorbeigekommen, um sicherzugehen, dass sie keine psychische Erkrankung ausbrütete. Häufig hatte er dem Mädchen pflanzliche Beruhigungsmittel verschreiben müssen.

      »Lena kam an diesem Abend völlig aufgelöst nach Hause. Sie roch nach Alkohol und Erbrochenem, die Kleidung war sandig und die Haare ganz verworren. Ich habe sie niemals zuvor in einem solchen Zustand gesehen, sie ist sonst ein sehr kontrollierter, fast schon zwanghafter Mensch. Na gut, sie IST zwanghaft. Natürlich habe ich nachgefragt, wollte unbedingt mit ihr reden. Doch sie hat komplett abgeblockt, wollte nur noch ins Bett. Und schon am nächsten Morgen war sie dann so komisch!«, schluchzte Meike. Dr. Berner griff nach Meikes Hand. »Gott, was hast du doch mit dem Mädel schon durchgemacht! So aus dem Stegreif würde ich sagen, es gibt zwei Möglichkeiten: entweder hat sie etwas derart Fürchterliches erlebt, dass sie nur noch den Ausweg des Suizid sah, der dann nachweislich schief ging; du sagst ja, sie roch nach Erbrochenem. Manchmal kommt es vor, dass in solchen Fällen der Magen die ganze Chemie und den Alkohol nicht verkraften kann, der potentielle Selbstmörder dann ständig erbricht. Ergo funktioniert es nicht, den Körper bis zum Eintreten des Todes zu vergiften. Wenn es so abgelaufen ist, muss diese Feststellung für Lena einer Katastrophe gleich gekommen sein. Stell dir vor, du willst sterben, und es klappt nicht!«

      Nun war es um Meikes Selbstbeherrschung endgültig geschehen.

      Sie weinte hemmungslos, quetschte mühsam ihre Begründung hervor: »Ja, sie war verzweifelt und ich war schuld! Sie hat mich wieder einmal danach gefragt, was ich über ihre verschwundene Mutter weiß. Ich habe abgewehrt, doch sie hat es dieses Mal nicht auf sich beruhen lassen. Ich wollte sie doch nur vor neuem Leid schützen! Wir stritten heftig, und auch Piet ist noch ziemlich mit ihr ins Gericht gegangen, bis sie seelisch nicht mehr konnte. Sie ist nicht konfliktfähig, und ich hätte das wissen müssen!«

      Dr. Berner konnte nicht anders, er nahm die verzweifelte Meike in seine Arme, strich ihr über das hellbraune, gelockte Haar. Er versuchte zu ignorieren, wie gut sich das für ihn anfühlte; gleichzeitig wusste er, dass er von dieser Erinnerung lange zehren würde, auch wenn ihm dies bestimmt nicht gut tat. Gar nicht

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