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juraschema.de 2020; educalingo.com 2020; Siegismund 2009, S. 4; Wikipedia: Zeuge; Baer 2000). „Transgenerationale Kriegstraumatisierung“ ist demgegenüber, als eine Unterform der transgenerationalen Traumatisierung, immer indirekt (vgl. Wolf 2018-2, Feuervogel). Bei der transgenerationalen Kriegstraumatisierung sind die traumatisierten Nachkommen weder direkt betroffen noch direkte Zeugen. Sie haben keine eigenen Wahrnehmungen vom ursprünglichen traumatisierenden Ereignis - das ja nicht ihnen, sondern ihren Vorfahren widerfahren war – und können die Vorfälle deshalb weder erinnern noch als selbst (mit)erlebtes Geschehen bekunden. Transgenerationale Kriegstraumatisierung kann, wie jede Form der transgenerationalen Traumatisierung (Richter 1963, Richter 1972), im Rahmen von Erziehung und Sozialisation in konkreter Interaktion und epigenetisch von den Vorfahren erworben werden. Hierbei können die Vorfahren direkt und/oder indirekt kriegstraumatisiert sein. Epigenetische Forschungsarbeiten (Bauer 2013, Lingrön 2015, Lipton 2016, Huber 2017, Döll, 2017, Spork 2017, Henn 2017, Kegel 2018, Lehnert 2018, Schickedanz 2012, S. 71-76, Wikipedia: Epigenetik) zeigen, dass traumatische Verletzungen auch über die Gene an Folgegenerationen weitergegeben werden können. Hierbei bleibt das Genom als solches unverändert. Die epigenetischen Kontrollmechanismen bestimmen nicht die DNA-Sequenzen und somit nicht die grundlegende Programmierung durch die Gene, sondern die Lesbarkeit der vorhandenen Gene. Die Vererbung erfolgt auf molekularer Ebene in Form von DNA-Methylierung, einer Modifikation von Histonen und/oder im beschleunigten Abbau von Telomeren. Epigenetische Veränderungen beeinflussen nur den Phänotypen, nicht den Genotypen eines Menschen. Kriegsbedingte Stress- und Hungererlebnisse der Vorfahren können sich – eigentlich zum Schutz der Nachfahren – epigenetisch z.B. so in den Genen der Nachfahren niederschlagen, dass die Nachfahren kleiner und somit bei Nahrungsmangel überlebensfähiger sind, eine bessere Fett- und Zuckerverwertung haben und durch einen dauerhaft höheren Cortisolspiegel zumindest mittelfristig stressresistenter und aufmerksamer für Gefahren sind (s. Lauff 2017). In Friedenszeiten kann dies jedoch für die Nachfahren von Nachteil sein: bei den Nachfahren können bereits bei normaler Ernährung durch die bessere Fett- und Zuckerverwertung Übergewichtsprobleme entstehen, und ein ererbter höherer Cortisolspiegel kann durch chronische vegetative Übererregung zahlreiche psychosomatische Krankheitsfolgen haben.

      3. Was ist „transgenerationale Kriegstraumatisierung“?

      Ein „Trauma“ ist ein „vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltbild“ verursacht (Fischer 2009, S. 84).

      Trauma geht mit einem Verlust von Sicherheit, Kontrolle und Vertrauen bzw. mit intensiver Haltlosigkeit und Ohnmacht einher. Das traumatische Ereignis liegt außerhalb der normalen menschlichen Erfahrung und übersteigt die subjektiven Bewältigungskompetenzen. Meist ist das traumatische Erleben mit intensiven Gefühlen von Angst und Entsetzen verbunden. Jedoch können in der Traumasituation auch Gefühlslosigkeit und Erstarrung vorherrschen. Gefühle werden dann erst später wieder wahrnehmbar. Das Sicherheitsgerüst des betroffenen Menschen ist erschüttert. Es besteht das subjektive Erleben der Gefahr zu sterben oder schwer verletzt zu werden. Zudem ist bei Trauma die Hirnphysiologie hin zur Stressphysiologie verändert (s. Hündgen 2020-2, Hündgen 2020-4).

      Üblicherweise denkt man bei „Kriegstrauma“ zuerst an im Krieg erlebte Schocktraumen (vgl. Sautter, S. 133 ff.). Jedoch können auch objektiv harmlose Ereignisse z.B. von Kindern subjektiv als lebensgefährlich erlebt werden und schwere Traumata auslösen (s. Seite 1; vgl. Charf 2019). So kann ein harmloser spielender kleiner Welpe, der an einem Kleinkind hochspringt, von dem Kind als lebensbedrohlich empfunden werden und ein schweres Trauma verursachen. Ob und wie ein Ereignis traumatisiert, entscheidet sich in der Person (Vulnerabilitäten, Resilienzen, Ressourcen) und nur sekundär durch die Ereignisfaktoren. Entscheidend ist das subjektive Erleben, nicht die Art des Ereignisses, das der Traumatisierung zugrundeliegt.

      In meiner Studie Hündgen 2020 zeigte sich, dass meine Probandin Frau A. in der Kindheit zahlreichen objektiv gefährlichen direkten täglichen Kriegsbedrohungen ausgesetzt war (Sirenengeheul, Detonationen, Flucht). Jedoch war die Mutter von Frau A., was bindungstechnisch entscheidend ist, bei Gefahren angeblich immer verfügbar. Dadurch blieben Frau A. vermutlich extreme Traumatisierungen erspart. Ursachen von direkter Kriegstraumatisierung können z.B. sein: 1. Jemand ist direktes Kriegsopfer, die eigene Person ist in Mitleidenschaft gezogen:

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      Abb. 1 (Teil 1): Ursachen von direkter Kriegstraumatisierung

      a) Direkte Beteiligung an Kampfhandlungen, z.B. als Soldat

      b) Kriegsverletzungen

      c) Kriegsgefangenschaft, Folter, KZ, Verhöre

      d) Gewalt im Kontext von Krieg, z.B. Schlägereien, Plünderungen

      e) Vergewaltigung

      f) Härten in Besatzungs- und Nachkriegszeit

      g) Persönliche Bedrohung (mit den Sinnen wahrnehmbar), z.B. Sirenenalarm, Aufenthalt im Bombenkeller

      h) Betroffener von kriegsbedingten Härten, z.B. von Hunger, Krankheit, Armut, Angst, Flucht, Diskriminierung, Verfolgung

      i) Täter im Krieg (auch Täter sind letztendlich Opfer!)

      2. Jemand wurde unmittelbar selbst Zeuge von kriegsbedingten Härten bzw. kriegsbedingter Gewalt, eine andere Person ist in Mitleidenschaft gezogen:

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      Abb. 1 (Teil 2): Ursachen von direkter Kriegstraumatisierung

      a) Zeuge von spezifischen kriegsbedingten Härten, z.B. von Mord, Hinrichtungen, Verletzungen, Beschuss, Folter, Vergewaltigung, Todesangst

      b) Zeuge von allgemeinen kriegsbedingten Härten, z.B. von Hunger, Krankheit, Armut, Angst, Flucht, Diskriminierung, Verfolgung

      Meine Probandin war nach Angaben ihrer Eltern weder jemals direkt mit einem einzelnen drastischen Kriegsereignis konfrontiert noch wurden bei ihr bisher direkte Traumafolgestörungen wie zum Beispiel eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) oder Anpassungsstörungen diagnostiziert. Deshalb hielt und hält sich Frau A. noch immer für „nicht kriegstraumatisiert“.

      Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) brechen jedoch nicht selten erst im Alter aus (vgl. Schrader 2013), wenn mehr Ruhe ins Leben eingetreten ist und Unterdrückungsmechanismen des Verstandes schlechter funktionieren. Da PTBS zudem chronifizieren kann, sollte im Fall einer PTBS-Diagnose schnellstmöglich mit Traumatherapie begonnen werden. Kindheitstraumata wirken lebenslänglich, und Zeit allein heilt die entstandenen Wunden nicht (Schickedanz 2012, S. 71).

      Dass bei meiner ehemaligen Probandin bisher keine PTBS diagnostiziert wurde, schließt das Vorhandensein von direkter und/oder indirekt-transgenerationaler Kriegstraumatisierung nicht aus.

      In meiner Studie Hündgen 2020 vermute ich, dass meine Probandin direkt und auch indirekt-transgenerational durch Kriegstrauma belastet ist. „Transgenerationale Kriegstraumatisierung“ ist indirekte Traumatisierung über Generationen hinweg im Kontext von Krieg (vgl. Kap. 2.2). Mögliche Ursachen von indirekt-transgenerationaler Kriegstraumatisierung sind in der nachfolgenden Grafik genannt:

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       Abb. 2: Ursachen von transgenerationaler Kriegstraumatisierung

      Kriegstraumata können, wie jede Form der Traumatisierung, über mehrere Generationen hinweg übertragen werden.

      Ein direktes Kriegstrauma oder direktes sonstiges Trauma tritt in einer Generation 1 auf, indem eine Person, in der nachfolgenden Grafik P1, das Trauma direkt

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