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immer noch sehr unangenehm, an einen Tatort gerufen zu werden. Es machte ihn nervös, nicht zu wissen, mit welchem Anblick er konfrontiert werden würde. Wenn dann noch ein Kind oder ein Jugendlicher das Opfer war, kämpfte er stets mit seinen Gefühlen. Seine Kollegin war abgebrüht oder eine gute Schauspielerin. Sie zeigte niemals Gefühle und das mochte Ferdinand gar nicht.

      „Nächstes Mal fahre ich!“, rief die Kommissarin. „Besser noch, du nimmst den Bus. Es ist das dritte Mal, dass wir uns verfahren und das in so einer Gegend. Es gibt doch immer nur drei Straßen in diesen Winzerorten und alle führen entweder in Richtung Rhein oder in die Weinberge.“

      „Das Schöne ist ja, dass ich hier das Sagen habe, meine Liebe. Also nimmst du den Bus, wenn dir mein Fahrstil nicht gefällt.“

      Sie waren bei Falk und Tine angekommen, die nur den Kopf schüttelten. Einerseits konnte Falk Ferdinand verstehen, der mit der Technik auf Kriegsfuß stand und ein Navi für etwas Unanständiges hielt, andererseits hatte er schon öfter gedacht: Der soll sich mal nicht so anstellen und seiner Kollegin das Steuer überlassen. Ella Grassoux hatte mit dem Navi und großem Eifer den Rheingau erobert. Sie stammte zwar aus Berlin, doch seit sie vor drei Jahren hergezogen war, kannte sie sich in der Gegend aus, als wäre sie hier schon immer zuhause. Ferdinand nannte sie eine „Stadtpflanze“ und traute ihren Ortskenntnissen nicht über den Weg.

      Ella war wie Ferdinand vierzig und lebte mit ihrer Lebensgefährtin in Erbach. Alle warteten auf eine große Hochzeit. Ellas Partnerin wollte sich jedoch nicht binden, denn sie hatte jeden Tag Angst, dass Ella im Dienst erschossen wurde. Die ständigen Diskussionen, die meist in einem Krach endeten, trugen täglich dazu bei, dass Ella oft schlechte Laune hatte.

      Ferdinand Waldhöft dagegen war ein einsamer Wolf, der seit einer Ewigkeit allein lebte. Er hielt eine Beziehung und Familie für nicht kompatibel mit seinem Beruf. Meistens ging er still und besonnen seiner Arbeit nach. Vor kurzem hatte er noch in einem kleinen Revier bei Gießen gearbeitet. Als er versetzt wurde, ahnte er nicht, dass er ein schweres Erbe antreten würde. Seine Vorgänger waren beliebt und geachtet gewesen, überall wurde getrauert und die große Leere war fast greifbar. Erst langsam kamen alle wieder in der Realität an und es stimmte tatsächlich: Das Leben geht weiter. Die großen und kleinen Verbrecher nahmen keine Rücksicht und binnen kurzer Zeit hatte der Alltag sie im Griff.

      Er war sehr zufrieden, dass er eine Kollegin zur Seite gestellt bekam, die sich nur für Frauen interessierte, also musste er sich nicht mit persönlichen Gefühlen herumschlagen. Von Bianca Verskoff hatte er viel gehört, aber sie bisher nie getroffen. Man sagte ihr ein besonderes Gespür für Menschen nach und das wäre etwas gewesen, was Ferdinand und sie verbunden hätte, aber Bianca vermied jeden Kontakt mit dem alten Präsidium. Er war neugierig auf sie, aber das wollte er niemandem verraten.

      „Das ist ja noch ein halbes Kind“, sagte er leise, als der Gerichtsmediziner das weiße Tuch anhob. „Wie lange liegt sie schon hier?“

      „Seit letzter Nacht“, erklärte Herrmann Pfriehl, der für Olaf Brzsick ins Team gekommen war.

      Olaf hatte eine Stelle an der Universität bekommen und zugesagt, denn er hielt es für wichtig, sich immer wieder neuen Aufgaben zustellen. Außerdem hatte ihm das Unglück ebenfalls stark zu gesetzt.

      „Wurde sie vergewaltigt?“

      „Ja, leider auch das. Sie wurde erst getötet und dann vergewaltigt. Jetzt nehme ich sie mit in die Gerichtsmedizin und alles Weitere erfahrt ihr in meinem Obduktionsbericht.“

      „Danke. Ella, wo fangen wir an?“

      Die Kommissarin sah sich um und fragte: „Wo ist die Joggerin, die sie gefunden hat? Warum rennt die denn um diese Zeit durch die Weinberge?“

      „Das kannst du sie selbst fragen, aber sie ist schon weg, weil der Ehemann zur Arbeit muss und dann nicht mehr auf das Kind aufpassen kann“, sagte Falk, der wusste, wie die Kinderbetreuung ablief. „Sie geht immer in aller Frühe joggen, weil sie so auch mal eine Stunde nur für sich hat. Das ist bei uns ähnlich, aber meine Frau nimmt ihre Auszeit am Abend, wenn sie zum Chor geht.“

      Ferdinand grinste, aber schnell wurde er wieder ernst. Jetzt trat Tine zu ihnen und beschrieb noch einmal den riesigen Fußabdruck. Die Kommissare verabschiedeten sich. Auf dem Weg warf Ferdinand Ella den Autoschlüssel zu.

      „Oh, danke. Was für eine Ehre, dass ich fahren darf. Aber so kommen wir wenigstens heute noch an.“

      Dina Quornick öffnete im Jogginganzug die Tür. Auf dem Arm hielt sie ein kleines Mädchen von etwa vier Jahren. Sie hatte dunkelblonde Zöpfe mit roten Schleifen und schaute die Besucher neugierig an.

      „Kommen Sie herein“, bat die junge Frau, die Ende zwanzig sein mochte, „bitte entschuldigen Sie die Unordnung.“

      „Keine Sorge“, sagte Ella trocken, „wir sind nicht zum Aufräumen hier. Sie haben die Tote gefunden?“

      Ferdinand hatte den Frauen das Gespräch überlassen und saß mit dem kleinen Mädchen auf dem Spielteppich. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich ihn. Würde er auch irgendwann mal eine Familie und Kinder haben? Oder wollte er für den Rest seines Lebens Single sein? Der Gedanke daran war jetzt noch verlockend, weil er einen unbeschreiblich großen Freiraum hatte, aber konnte er, wenn er alt war und keine Aufgabe mehr hatte, wirklich ganz allein bleiben?

      „Das ist meine Puppe Lisa“, erklärte das Mädchen. „Die heißt so wie ich.“

      „Das ist eine schöne Puppe, Lisa.“

      „Hast du auch eine Puppe?“

      „Ich bin doch ein Junge! Jungs haben Autos.“

      „Hast du Autos?“

      „Ja, ein rotes.“

      „Aber du bist nicht mit einem roten Auto bei uns. Hast du das verloren?“

      „Nein, das da draußen ist Ellas Auto. Ich bin mit ihr gefahren.“

      Jetzt strahlte die Kleine.

      „Das ist aber lieb, wenn die Ella dich mit ihrem Auto spielen lässt.“

      Ferdinand strich ihr über das Haar und seine sanften Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Er hätte in diesem Moment alles gegeben für diese Unbeschwertheit und Naivität. Aber das Leben war nicht unbeschwert. Das sah er jetzt auch an Dina, die in Tränen ausgebrochen war. Das kleine Mädchen ging zu ihr, kroch auf ihren Schoß und nahm das Gesicht ihrer Mutter in die kleinen Hände.

      „Mama, du bist ja traurig. Warum weinst du denn?“

      „Ich habe heute früh ein anderes Mädchen gesehen, dem hat jemand wehgetan.“

      „Wer denn?“

      „Das wissen wir noch nicht“, sagte Ella und erhob sich. „Wir finden den aber und dann kommt er ins Gefängnis.“

      Lisa nickte und Dina nahm sie auf den Arm, um die Kommissare zur Tür zu begleiten. Im Auto fasste Ella kurz zusammen, was die Frau berichtet hatte.

      „Aber sie hat niemanden dort gesehen. Es gab keine Arbeiter und keine Spaziergänger, wie auch um diese Uhrzeit. Sie hat außerdem gesagt, dass im Ort irgendwo ein Fest war. Früher war sie auch immer dort.“

      „Was für ein Fest?“

      „Kerb? Kirmes? Weinfest? Keine Ahnung, ihr findet ja immer einen Grund für so einen Kram.“

      Schweigend fuhren sie ins Präsidium, wo der Staatsanwalt schon ungeduldig wartete.

      „Wer ist der Täter?“, fragte Dr. Hans-Martin Rosenschuh.

      „Wir wissen ja noch nicht einmal, wer das Opfer ist. Wie sollten wir denn schon den Täter kennen?“

      Der Staatsanwalt ging nicht auf den frechen Ton von Ella ein und sah einfach an ihr vorbei. Ferdinand zuckte nur mit den Schultern.

      „Wie meine Kollegin sagt.“

      „Dann tratschen Sie hier nicht herum und gehen schnellstens an die Arbeit!“

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