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leiten. Sie las alles, was irgendwie mit Forensik zu tun hatte und traf dadurch automatisch auf besonders spektakuläre Fälle. Aber auch auf jede Menge Statistiken.

      Erschütternd viele Todesfälle konnten nicht geklärt werden. Das lag nicht immer an den forensischen Untersuchungen. Manchmal gab es einfach keine weiteren Spuren als die an den Leichen, und diese führten nicht immer zu den Tätern.

      Was mussten die Angehörigen dieser Opfer nur aushalten? Womöglich würden sie nie erfahren, wer Schuld am Tod ihrer Liebsten hatte. Warum sie sterben mussten. Der Verlust allein war schon grauenhaft genug, das wusste sie nur allzu gut. Doch sie selbst kannte zumindest den Mörder ihre Familie. Und sie wusste auch, dass er im Gefängnis saß und für seine Tat büßte. Die Vorstellung, dass andere dieses Wissen nicht besaßen und den Rest ihres Lebens in Ungewissheit leben mussten, war schlichtweg furchtbar.

      War es das, was Dr. Moreau gemeint hatte?

      Halfen Forensiker den Angehörigen der Opfer?

      Als Valea am folgenden Abend im Restaurant saß, lag vor ihr ein großer Stapel Blätter mit Zahlen, Bildern und Statistiken. Tagsüber hatte sie die nächstbeste Bibliothek aufgesucht, um Zugang zu einem Drucker zu bekommen. Dann hatte sie sich stundenlang auf die Suche nach forensischen Zahlen begeben. Wie hoch war die Aufklärungsrate? Wie waren die Vorgehensweisen? Was gab es für forensische Abteilungen? Gab es internationale Unterschiede? Was gab es für Fallbeispiele?

      Der Papierstapel war hinterher viele Zentimeter hoch gewesen.

      Jetzt lag er vor ihr und wartete darauf, gelesen zu werden.

      Valea hatte sich absichtlich an einen der hintersten Tische direkt an der Wand gesetzt. Sie wollte nicht auffallen und ungestört bleiben. Vor ihr stand eine Flasche Wein, die sie bewusst bestellt hatte. Der Abend würde lang werden.

      Ganz in Ruhe nahm sie ihr Abendessen zu sich und goss sich danach das erste Glas Wein ein. Dann zog sie den Papierstapel zu sich heran und begann, ihn langsam durchzublättern. Ihre Augen verharrten nur wenige Sekunden auf jedem Blatt, bevor dieses zur Seite gelegt wurde. Schon nach wenigen Blättern hatte sie ihren Rhythmus gefunden und saugte die Informationen in sich ein.

      Zahlen, die ihrem Leben wieder eine Wendung geben würden.

      „Guten Abend, Dr. Noack. Gestatten Sie, dass ich mich zu Ihnen setze?“

      Valea blickte überrascht auf. Sie hatte nicht mitbekommen, wie der Mann an ihren Tisch getreten war, was eher ungewöhnlich war. Normalerweise bekam sie auch in konzentrierten Phasen immer mit, was um sie herum geschah.

      Aufmerksam betrachtete sie ihr Gegenüber. Sie schätzte ihn auf Ende Dreißig. Er war groß und schlank gewachsen, doch ihr erfahrenes Auge registrierte eine athletische Körperspannung, die Kraft und Ausdauer verriet. Unter den kurzgeschnittenen schwarzen Haaren blitzten blaue Augen in einem attraktiven Gesicht. Sie erkannte osteuropäische Züge. Seiner Stimme war nicht zu entnehmen, aus welchem Bereich dieser Welt er stammte, doch sein Deutsch war völlig akzentfrei. Insgesamt war er eine gepflegte Erscheinung, wirkte aber nicht überkandidelt. Schwarze Jeans, ein maßgeschneidertes schwarzes Hemd und teure schwarze Lederschuhe ergaben eine interessante Mischung.

      Als ihre Augen sich trafen, verbeugte er sich leicht.

      „Roman Rothenstein. Ich war so frei, mich nach Ihrem Namen zu erkundigen. Sie gestatten?“

      Valea zögerte. In seinem Tonfall hatte nicht wirklich eine Frage gelegen. Er schien sich sicher zu sein, dass sie nicht ablehnen würde.

      „Sehr erfreut, Herr Rothenstein“, meinte sie schließlich. „Aber sie sehen sicherlich, dass ich mit meiner Arbeit noch nicht fertig bin. Wenn Sie sich zu mir setzen, werden Sie sich nur langweilen.“

      Er hob überrascht die Augenbrauen. Ganz eindeutig hatte er nicht mit einer Abfuhr gerechnet.

      „Sie überraschen mich“, gestand er dann. „Aber anscheinend unterschätzen Sie mein Interesse, Sie kennen zu lernen. Wenn es darauf ankommt, bin ich ein sehr geduldiger Mensch. Ich werde Sie nicht stören, bis Sie mit ihren Studien fertig sind, mein Wort drauf.“

      Damit setzte er sich ihr gegenüber und winkte dem Kellner. Er deutete auf die Flasche Wein, woraufhin der Kellner nickte und davoneilte.

      Valea war völlig überrumpelt. Eine solche Dreistigkeit hatte sie nicht erwartet. Aber gut. Wenn er Geduld zeigen wollte, würde sie ihm das ermöglichen.

      Ohne ein weiteres Wort wendete sie sich ihren Seiten zu und nahm das Lesen wieder auf.

      Die nächste Stunde herrschte Stille an ihrem Tisch, nur unterbrochen vom Rascheln der Seiten. Valea ließ sich von ihrem ungebetenen Gast nicht irritieren. Sie spürte seinen Blick, doch er schien nicht unfreundlich, und so konnte sie sich problemlos auf ihre Zahlen konzentrieren.

      Endlich legte sie das letzte Blatt auf den Stapel und sah auf. Seine blauen Augen ruhten immer noch auf ihr und verrieten ein gewisses Amüsement.

      „Sie besitzen ein fotographisches Gedächtnis“, stellte er fest.

      Valea griff nach dem Weinglas und trank den letzten Schluck daraus. Kaum hatte sie das Glas abgestellt, da goss er auch schon nach.

      „Sie sind sehr scharfsinnig“, lächelte sie und konnte nicht verhindern, dass leiser Spott zu hören war. Er schien nicht verärgert, eher im Gegenteil. Das Blitzen in seinen Augen verstärkte sich. Er hob sein Glas.

      „Auf die Unfehlbarkeit der Statistik!“

      Valea runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.

      „Nein, das ist Blödsinn. Statistik ist nicht unfehlbar. Sie kann bewerten und Richtungen aufzeigen. Aber sie ist immer abhängig von der Fragestellung, der Methodik und durchaus auch von der Intention des Fragestellers.“

      Jetzt lächelte auch er.

      „Da haben Sie tatsächlich recht. Entschuldigen Sie meinen kleinen Test. Also dann: auf einen voraussichtlich interessanten Abend.“

      Diesmal hob Valea langsam ihr Glas und stieß mit ihm an. Mittlerweile war sie doch neugierig, wer ihr da gegenübersaß. Roman Rothenstein lehnte sich ein wenig zurück, um sie noch besser betrachten zu können.

      „Sie sind Ärztin. Forensikerin?“

      Valea schüttelte den Kopf.

      „Nein, ich bin praktizierende Ärztin. Dies hier, nun ja, ich bin einfach nur neugierig geworden und habe mich ein wenig informiert.“

      „Eine deutsche, praktizierende Ärztin im Kongo. Hm, darf ich raten? Sie arbeiten für eine Hilfsorganisation.“

      „Stimmt. Zurzeit bin ich für „Ärzte ohne Grenzen“ unterwegs.“

      „Und gerade erholen Sie sich ein wenig und nutzen die Zeit, um Fragen zu klären. Darf ich wissen, was Sie erlebt haben, dass Sie ausgerechnet auf die Forensik gestoßen sind?“

      Wieder zögerte Valea. Roman Rothenstein hatte nach wenigen Sätzen bereits so viele Schlüsse gezogen, dass es ihr beinahe unheimlich war. Wer war dieser Mann? Ihr Misstrauen war wohl offensichtlich, denn er ruderte sofort zurück.

      „Entschuldigen Sie. Ich möchte Sie nicht aushorchen.“

      Jetzt war es Valea, die die Augenbrauen hob.

      „Nicht?“

      Er lachte.

      „Doch“, gab er dann zu. „Wie gesagt, Sie machen mich neugierig.“

      „Weil ich allein hier sitze?“

      „Nein. Alleinstehende Frauen gibt es hier wie Sand am Meer. Die meisten warten auf den passenden Mann oder die erotische Affäre. Aber das tun Sie eindeutig nicht. Sie genügen sich selbst. Und Sie leben im Hier und Jetzt.“

      Diesmal blinzelte Valea überrascht. Es gab nur sehr wenige Menschen, die sie so beschreiben würden. Meister Seno Kunihiko gehörte dazu und einige wenige andere Personen, die sie vom Mugai Ryū her kannte.

      War

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