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die ihn aus dieser Situation herausbringen konnte. Denn eins wusste er aus seinen Gesprächen mit Weißheimer, dass eine Arbeit für die Stasi jegliche persönliche Freiheit zum Erliegen brachte. Er konnte nicht mehr reisen, wie er wollte, nicht einmal mehr im Ostblock. Er konnte sich nicht mehr mit Robert in Prag oder gar in Berlin treffen. Und über wen sollte er wohl berichten? Zum Beispiel auch über Freunde, Kollegen, seine Geliebte und seine Exfrau?

      Gesprächssplitter mit Greif fielen ihm ein. Und eine Bemerkung seines Vaters, der fünf Jahre bei den „Bolschewiken“, wie er sie unbeirrt und unbelehrbar konstant benannt hatte, in Gefangenschaft gewesen war: „Trau´ den Bolschewiken nicht, mein Großer“, hatte er einmal in einem Anflug von Mitteilsamkeit zu ihm gesagt, „die haben sich alle gegenseitig umgebracht. Nur Stalin ist geblieben. Denen kannst du nur entkommen, wenn du stur und herrschsüchtig ´njet´ sagst. Das verstehen sie und akzeptieren es sogar meistens, denn sie sind Russen.“

      „Ich glaube nicht, dass ich euch was nützen kann. Und ich habe auch, ganz ehrlich, keine Lust für eine solche Arbeit. Ich kann mich nur noch einmal verpflichten, keinerlei Betriebsgeheimnisse nach draußen zu geben, was eigentlich selbstverständlich ist“, sagte Martin Wauer dann bedächtig. „Aber ansonsten möchte ich mich hier auf meine Arbeit konzentrieren, das nützt unserer Gesellschaft, glaube ich, am meisten.“

      Der Mann von der Normannenstraße lächelte fast unmerklich, sagte aber nichts. Fritz Rauch sagte: „Du brauchst doch gar nicht mehr zu tun, als hin und wieder über Stimmungen und Meinungen in deinem Umfeld zu berichten.“

      „Das ist doch wohl deine Aufgabe als Parteisekretär unserer führenden Partei. Denn das ist ja wohl auch der Sinn von Politik, Stimmungen und Meinungen der Bevölkerung zu analysieren und ernst zu nehmen“, entgegnete Wauer mit heftigerem Tonfall, als er eigentlich gewollt hatte.

      „Ja, klar“, sagte der Stasimann, „aber es geht um mehr. Deshalb wäre es schon gut, wenn du mir, bevor wir den Konvent aufheben, wegen der Geheimhaltungsfragen hier mal was unterschreiben würdest.“ Dabei schob er Wauer ein Papier im A-5-Format und einen Kugelschreiber herüber und sah in kalt an.

      Wauer nahm sich trotz seiner inneren Aufregung die Zeit, den kurzen Text durchzulesen. Die Note lautete, dass er, der Unterzeichner, sich verpflichtete, als informeller Mitarbeiter Stillschweigen über seine Tätigkeit gegenüber jedermann zu üben. Das genau also wollte dieser Genosse von ihm! Er wusste, wie in einer plötzlichen Erleuchtung, dass er auf keinen Fall unterschreiben durfte.

      Er blickte eine Weile vor sich hin, bevor er sagte: „Ich werde weder informeller noch direkter Mitarbeiter deines Ministeriums. Dafür sind andere zuständig.“ Es war ein klares „Njet“.

      „Na gut, wenn du es dir noch überlegst, kannst du ja Bescheid geben. Wir brauchen nämlich genau solche Leute, wie dich. Oder ist deine Loyalität zur Partei doch nicht so unumstößlich, wie deine Genossen hier behauptet haben?“, sagte der Namenlose leise und ruhig, aber mit sarkastischer Schärfe in der Stimme. „Du kannst wieder an deine wichtigere Arbeit gehen. Ich habe mit dem Genossen Rauch noch was anderes zu bereden.“

      Martin Wauer verabschiedete sich steif. Ihn erfasste ein Gefühl, bei dem er sich wie neben sich stehend empfand. Zu Fritz Rauch sagte er mit trockenem Hals: „Du könntest ja dann vielleicht noch bei mir vorbei kommen.“

      Der Parteisekretär sagte nichts und Wauer verließ das Zimmer.

      Fritz Rauch war am darauffolgenden Nachmittag nicht zu ihm in die Projektierungsabteilung gekommen. Martin Wauer fand keine innere Ruhe mehr, um an seinen Aufgaben irgend etwas machen zu können und beschloss, nach Hause zu gehen. Draußen lockte ein sonniger Oktobertag. Die Strahlen der tief stehenden Sonne hatten für kurze Zeit in sein Arbeitszimmer geschienen und spiegelnde Reflexe auf sein Zeichenbrett gezaubert. Nur wenn er sofort losginge, würde er draußen noch Reste von ihr zu sehen bekommen.

      Er schloss ab und verabschiedete sich kurz von Frau Wolfhardt, der Bereichssekretärin, sagte ihr, dass er noch etwas in der Karl-Marx-Allee zu besorgen habe und stieg die Treppen der zwei Stockwerke hinunter. Er wandte sich aber nicht in Richtung U-Bahnhof Luxemburg-Platz, sondern verließ den Betriebskomplex auf der anderen Seite, ging die Max-Beer-Straße hinüber, überquerte die Karl-Liebknecht-Straße und ging dann am riesigen Quartier des „Hauses der Elektrotechnik“ und über die Kreuzung am „Haus des Reisens“ vorbei, um auf die Karl-Marx-Allee zu gelangen.

      Im Kino International lief „Die Weiße Rose“ von Michael Verhoeven. Er hatte den Film noch nicht gesehen, wollte aber unbedingt noch hin, vielleicht zusammen mit Helga. Er blieb auf der linken Straßenseite, um hin und wieder einen zwischen den Häuserschatten hervorlugenden Sonnenstrahl zu erwischen und überquerte dann den Strausberger Platz. Hinter ihm im Westen waren einige rosa Streifen am Himmel zu sehen. Die wenigen Bäume an der Magistrale nach Osten hatten noch Blätter, welche in schöner Herbstfärbung prangten.

      Er überlegte, dass er immer noch in die U-Bahn steigen konnte, wenn ihm der Weg bis zum Frankfurter Tor und die Warschauer Straße hinunter bis zur Libauer Straße zu weit würde.

      Seine innere Unruhe legte sich beim Laufen nicht. Denn seine Gedanken kreisten unablässig um die Frage, welche Konsequenzen sein „Njet“ haben könnte. Er beruhigte sich mit der Überlegung, dass die Stasi schließlich nicht die Staatsmacht sei und die Partei über ihr stehe. Man hörte manchmal Gerüchte, dass ihr Einfluss auf die Lebensläufe Widerspenstiger bis in die Familien hineinreichen würde. Aber die Stalinzeit, in der Leute, die Kritik anmeldeten, von der Straße weg einfach auf Nimmerwiedersehen verschwinden konnten, war vorbei. Die politischen Ereignisse in Polen und Ungarn, die KSZE-Verhandlungen und die Ost-Westgespräche hatten bereits mehr Bewegungs- und Informationsfreiheit gebracht.

      Dass ein kleiner Bauprojektant nicht für den DDR-Geheimdienst arbeiten wollte, würde die Firma nicht aus der Bahn werfen. Selbst das Wissen über seine Beziehungen zu seinem Vetter musste ihn nicht über Gebühr besorgt machen, denn so interessant konnte er für die Partei- und Staatsführung gar nicht sein, dass sie außer den normalen Checks wegen seiner speziellen Tätigkeit große Überwachungsprojekte starten würden. Er beschloss, darüber mit Helga zu reden. Durch ihren Mann hatte sie ein paar Erfahrungen in solchen Dingen.

      Wauer benutze ab Magdalenenstraße nun doch die U-Bahn, lief vom Frankfurter Tor noch hinunter in seine Straße, stieg dann die Treppen zur vierten Etage hoch und betrat seine Wohnung.

      Er mixte sich eine Wodka-Cola, legte sich Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ auf und streckte sich auf seine Ledercouch. Helga würde übermorgen wieder zu ihrem Wochenendbesuch kommen, wenn alles normal lief. Seine Gedanken kreisten in den nachfolgenden Stunden aber seltsamerweise mehr um Barbara und Lothar, als um Helga und das Stasiproblem.

      3.

      Sie hatten sich darauf geeinigt, dass Helga zu Weihnachten bei ihrem Mann bleiben, sie aber Silvester und Neujahr zusammen verbringen würden. Weißheimer hatte Wauer einen gebrauchten Trabant-Kombi in Taubenblau besorgt und vorläufig bezahlt. Wauer sollte ihm monatlich 150 Mark abstottern oder mehr geben, wenn er konnte. Es war ein gewaltiger Fortschritt für Wauer, der den gemeinschaftlich erworbenen Wartburg Barbara überlassen hatte, nachdem die Scheidung durch war.

      Am zweiten Weihnachtsfeiertag fuhr er mit diesem DDR-Volkswagen nach Frankfurt an der Oder, sammelte in Barbaras Wohnung den Sohn nebst Winterausrüstung und Skiern ein und fuhr mit ihm von dort in die Oberlausitz zu seiner Mutter, die er zuletzt im Sommer besucht hatte.

      Der Winter hatte dieses Jahr pünktlich zu Weihnachten eingesetzt und es wurde von Tag zu Tag kälter. Mutter Wauer freute sich sehr, ihren Enkel nach fast drei Jahren wieder einmal zu sehen und gab sich große Mühe mit der Bewirtung ihrer Gäste. Es lag viel Schnee im Zittauer Gebirge und die beiden männlichen Familiensprösslinge nutzten die drei Tage, die sie zu Besuch bei Mutter und Großmutter einlogiert waren, um an der Lausche miteinander Wintersport zu treiben.

      Lothar war ungeübt und es war an den altertümlichen Schleppliften auf der Lauschewiese nicht gerade das reine Wintersportvergnügen für die beiden. Aber sie waren draußen in der winterlich kalten,

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