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Porl, der zu Lebzeiten der Mentor des Marionettenmannes gewesen war. »Du hast dich auf diesen Moment vorbereitet.«

      »Ja«, sagte der Marionettenmann und schluckte schwer. Als der Wurmgott zu ihm gekommen war und ihn ins Verwunschene Tal gebracht hatte, war ihm nicht in den Sinn gekommen, sich ihm zu verweigern. Es war die bloße Ausstrahlung dieses Mannes, die den Marionettenmann hatte hörig werden lassen. Aber er war nicht mehr derselbe von damals. Er war gewachsen, und sein Kessel mit ihm. Er hatte einzigartige Tränke darin gebraut und dabei seltene Zutaten verwendet. Das Kunstwerk, das dabei entstanden war, wartete nur auf die Gelegenheit, seine volle Macht zu entfalten und einen Sturm zu entfesseln.

      Der Marionettenmann ballte die Hände zu Fäusten, trat vor den Spiegel und sagte: »Zeig ihn mir!« Das Bild der Höhle mit der Miniatursonne wurde durch die Silhouetten zweier Männer mit schwarzen Regenschirmen ersetzt, die soeben eine Blumenwiese überquerten. Der bloße Anblick des Wurmgottes schnürte dem Marionettenmann die Kehle zu. Was die Regenschleier nicht erkennen ließen, ergänzte seine Erinnerung: tiefliegende, von Schatten umrandete Augen, eingefallene Wangen und dünne Lippen. Das kurze, dunkle Haar hatte er zu einer eleganten Frisur geformt. Er war hager und hochgewachsen und trug einen auf schlichte Weise edlen Anzug aus dunklem Stoff. Durch den Spiegel betrachtet hätte er harmlos gewirkt, wäre da nicht diese Kälte in seinem Blick gewesen. Es waren die Augen eines Mannes, der entschlossen war, zu siegen; dunkle Augen voller Weisheit und erkaltetem Hass. Sein Blick verriet, dass er niemandes Freundes war. Niemanden liebte. Er hatte keinen Dank für jene übrig, die sich ihm Untertan machten. Sie waren seine Werkzeuge und würden ebenso wenig als Sieger aus diesem Krieg hervorgehen wie seine Feinde.

      Den Mann an der Seite des Wurmgottes – ebenfalls hochgewachsen, mit Schnurrbart und einer Brille mit kleinen, runden Gläsern – hatte der Marionettenmann noch nie gesehen.

      Das Bild im Glas flackerte, woraufhin der Marionettenmann einige Sekunden lang reglos darum kämpfte, nicht die Ruhe zu verlieren. Der Spiegel war ein mächtiges, magisches Relikt. Nicht einmal mit einem Mojo konnte man sich vor ihm verbergen. Wenn er jedoch den Wurmgott zeigte, wurde das Bild instabil.

      Langsam nahm im Kopf des Marionettenmannes wie von selbst ein Trank Gestalt an, der ihn mit kalter Ruhe füllte. Er ging zum Schrank, nahm verschiedene Zutaten heraus und trat damit vor den Kessel. Es waren nur wenige Handgriffe nötig, um ihn in den gewünschten Zustand zu überführen. Schließlich streute er eine Hand voll Sturmsand in die Flammen darunter, woraufhin sie sich weißbläulich färbten. Ein Grollen rollte über den Himmel wie der Laut eines primitiven, kolossalen Dieners, der darauf wartete, einen Befehl zu empfangen. Dampf, so dunkel wie die Regenwolken über dem Verwunschenen Tal, stieg aus dem Kessel, und blieb darüber schweben. Der Marionettenmann entkorkte ein Glas, das mit etwas gefüllt war, das wie Eissplitter aussah, und schüttete den Inhalt in seinen Kessel. Wieder grollte der Himmel, wie um ihm mitzuteilen, dass er den Befehl verstanden habe. Von einer Sekunde zur anderen veränderte sich das Geräusch des Regens. Er klang nunmehr wie Hagel, stellte der Marionettenmann mit grimmiger Genugtuung fest. Er ging zum Spiegel und sah bestätigt, dass sein Trank wirkte: Statt Regen prasselten messerscharfe Eissplitter auf die Erde nieder. Doch auch wenn sie vermutlich gerade zahlreichen unglücklichen Tieren, die nicht Schutz in ihrem Bau gesucht hatten, Fell und Federn von den Knochen fetzten, prasselten sie auf die Schirme der beiden Männer ein, ohne auch nur ein Loch in den Stoff zu reißen. Der Marionettenmann verzog das Gesicht. Er hatte befürchtet, dass dem Wurmgott so nicht beizukommen wäre. Doch er hatte sich zumindest eine kleine Reaktion erhofft. Das Problem war, dass der Marionettenmann nicht einmal sicher war, ob es sich bei ihm um einen Menschen oder einen Bösen Geist handelte. Vielleicht war er keines von beidem – gewiss aber kein Gott.

      Inzwischen waren die beiden Männer dem Fichtenwäldchen, in dem die Hütte des Marionettenmannes stand, beängstigend nahegekommen. Von entschlossener Wut gepackt ging der Marionettenmann noch einmal zu seinem Zutatenschrank und holte eine mit Silberspänen gefüllte Dose daraus hervor. Er konnte vielleicht kein Silber regnen lassen, aber er konnte die für Böse Geister tödliche Eigenschaft des Edelmetalls auf die Eissplitter übertragen. Wenn der Wurmgott ein Böser Geist war, wäre das sein Ende. Der Marionettenmann streute die Späne in den Kessel und rührte darin, gab einen Schuss Sumpfwasser hinzu und warf mehrere lebendige Moderkäfer hinein. Der Himmel verkündete lauthals polternd, dass er zum Angriff überging. Mit gespannter Miene sah der Marionettenmann zum Spiegel.

      Der Wurmgott und sein Begleiter zeigten keine Reaktion. Es war, als verpasse er jemandem mit aller Kraft einen Faustschlag ins Gesicht, ohne dass derjenige überhaupt Notiz davon nahm.

      Der Marionettenmann stieß einen Wutschrei aus, wandte sich dem Kessel zu und spie hinein. Der Trank fing an zu schäumen. Anstatt über den Kesselrand zu laufen, wurde er von der darüber schwebenden Wolke aufgesogen. Ein langanhaltendes Donnern erschütterte das Verwunschene Tal, als trommele sich der Himmel wie ein wild gewordener Riesengorilla auf der Brust herum. Das Prasseln steigerte sich zu einem Brausen, während die Eissplitter nun wie Sperrfeuer aus einem Rückstoßlader niedergingen.

      Dieses Mal reagierte der Wurmgott. Er blieb stehen und holte etwas aus der Innentasche seines Sakkos. Das Bild im Spiegel näherte sich und zeigte dem Marionettenmann etwas, das aussah wie ein aufwendig verziertes Sturmfeuerzeug aus Messing. Der Wurmgott klappte es auf, hielt es hoch, ohne den Schutz des Regenschirms zu verlassen, und betätigte einen Mechanismus. Ein Blitz zuckte aus den Wolken und schlug in das Messinggerät ein. Als hätte es die Wut des Himmels abgeleitet und in seinem Innern eingeschlossen, ertönte ein beruhigtes Grollen. Statt Eissplittern ging nun wieder Regen nieder, und der Wurmgott und sein Begleiter setzten ihren Weg fort.

      So beiläufig, so kunstlos. Als hätte er eine Mücke weggeschnippt. Der Marionettenmann verlor einige wertvolle Augenblicke in fassungsloser Starre. Als er wieder zur Besinnung kam, wusste er, dass er zum letzten Mittel würde greifen müssen. Er holte ein Gläschen aus dem Schrank, das anstelle eines Korkens mit einer dünnen Kerze verschlossen war. Darin enthalten waren etwa hundert Milliliter Detomagnesiumlösung – genug, um die Hütte in die Luft zu jagen. Der Marionettenmann entzündete den Docht und stellte das Fläschchen ins Regal. Falls alles scheiterte, würde die Kerze innerhalb der nächsten zwanzig Minuten herunterbrennen und ihn, sämtliche Schrumpfköpfe und hoffentlich auch den Wurmgott in Fetzen reißen.

      Ein letztes Mal in dieser Nacht widmete sich der Marionettenmann seinem Kessel. Er würde ein Rudel Totengeister beschwören – Naturgeister, die sich an nebligen Tagen am Leid der Sterbenden labten. Er würde viele Schrumpfköpfe opfern müssen, um sie dazu zu bringen, für ihn zu kämpfen. Damit sie ihm überhaupt Beachtung schenkten, war ein besonderes Opfer nötig. Der Blick des Marionettenmannes wanderte über das Regal und blieb zuletzt an Porl hängen.

      »Verzeih mir«, sagte er mit zugeschnürter Kehle, als er den Schrumpfkopf seines ehemaligen Mentors aus dem Regal nahm.

      »Das habe ich längst, mein Junge«, erwiderte Porl. Ohne ein Wort des Abschieds warf der Marionettenmann ihn in den Kessel. Dampf stieg von der Oberfläche des Tranks auf, schwappte über den Kesselrand und tastete sich über den Boden.

      »Denkst du wirklich, du könntest mich aufhalten?«, donnerte es unvermittelt durch die Hütte. Der Marionettenmann zuckte zusammen. Gesprochen hatte Carl, der Schrumpfkopf, den ihm der Wurmgott dagelassen hatte. Doch seine Stimme war nicht länger auf nervige Weise quäkend, sondern dunkel und feindselig. Zwei violette Lichter leuchteten in den leeren Augenhöhlen des Schrumpfkopfes und Würmer quollen ihm aus Nase und Ohren. »Du bist einer meiner wertvollsten Helfer. Tu nichts, das mich die Beherrschung verlieren ließe.« Der Marionettenmann warf einen Blick in den Spiegel und erkannte, dass der Wurmgott und sein Begleiter nur noch knapp hundert Schritte von seiner Hütte entfernt waren. Die Lippen des Wurmgottes bewegten sich synchron zu denen Carls.

      Getrieben von verzweifelter Angst eilte der Marionettenmann zum Korb neben der Feuerstelle, der bis zum Rand mit Schrumpfköpfen gefüllt war, und hievte ihn zum Kessel. Seine dünnen Arme zitterten, während er ihn anhob und den Inhalt in den Trank schüttete. Schreiend und klagend kullerten die Köpfe übereinander. Während sie sich einer nach dem anderen auflösten, wuchsen ein halbes Dutzend Säulen aus dem Nebel über dem Boden. Sie nahmen menschliche Gestalten an ausgerüstet mit Säbeln, Langschwertern und Äxten.

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