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oder in einem Turm eingesperrt sind, à la Hänsel und Gretel oder Jorinde und Joringel?«, fragte Valerie. »Ganz zu schweigen von anderen Märchen, die mitunter an Grausamkeit nicht zu überbieten sind.«

      »Das ist genau der Grund, warum Björn seinem Jan keine Märchen vorliest«, sagte Marlies, die Kriminalassistentin und gute Seele der Abteilung, deren hervorstechendstes Merkmal ihre naturkrause Haarpracht war.

      »Ach richtig, du bist ja jetzt auch Mutter beziehungsweise Stiefmutter. Hoffentlich keine böse wie im Märchen«, zog Hinnerk sie auf.

      »Hör bloß auf. Und das auf meine alten Tage«, sagte Marlies. »Aber was soll ich machen? Björn gab’s nur im Doppelpack.«

      »Du bist bestimmt eine wunderbare Mutter, Schmidtchen«, sagte Valerie. »Ich freue mich aufrichtig für dich, dass du jetzt auch endlich eine kleine Familie hast. Du hattest es schon längst verdient.«

      »Ja, Lieschen. Nachdem du schon einige Frösche zuvor geküsst hattest«, pflichtete Hinnerk seiner Frau bei.

      »Ob das mit der Familie wirklich klappt, ist noch ungewiss«, sagte Marlies Schmidt. »Ich bin sozusagen noch in der Probezeit. Björn scheint mich wirklich zu mögen, und der kleine Jan zum Glück auch. Aber weiß man, wie’s noch kommt?«

      »Ach, ein bisschen mehr Zuversicht, Schmidtchen«, sagte Valerie. »Dich muss man einfach mögen. Das haben Vater und Sohn scheinbar erkannt.«

      »Was ist eigentlich mit der Mutter beziehungsweise Exfrau?«, fragte Heiko.

      »Die ist an einem Krebsleiden verstorben. Da war Jan erst drei«, gab Marlies Auskunft.

      »Oh, oh. Verstorbene sind manchmal eine größere Konkurrenz als Geschiedene«, meinte Heiko.

      »Du hättest als Briefkastentante Karriere machen sollen mit deinen Weisheiten, du olle Unke«, sagte Valerie. »Bei Schmidtchen wird sich alles zum Guten fügen, weil sie es einfach verdient hat.«

      »Danke«, sagte Marlies. »Auf jeden Fall ist es eine ganz neue Erfahrung. Wo ich Kinder doch so mag. Und Jan ist wirklich entzückend. Man merkt, dass er sich unbedingt eine Mama wünscht. Björn hatte wohl schon den einen oder anderen Versuch gestartet, aber ohne Erfolg. Glück für mich. Ich liebe jetzt schon beide sehr.«

      Zwei Tage später erhielten Valerie und Hinnerk einen Anruf, der sie in Alarmbereitschaft versetzte.

      »Hier ist Polizeimeister Urs Richter«, meldete sich eine aufgeregte männliche Stimme. »Mein Kollege und ich haben entdeckt, dass die behelfsmäßige Tür zum Schwimmbad Lichtenberg aufgebrochen wurde. Bei der Begehung des Gebäudes fanden wir den Glassarg mit dem Mädchen darin.«

      »Lebt es noch?«, fragte Valerie.

      »Leider, nein. Da kommt jede Hilfe zu spät.«

      »Wir sind gleich da. Fassen Sie bitte nichts an. Wir bringen die Kollegen von der Spurensicherung und der Rechtsmedizin mit.«

      »Äh, ja. Ich warte dann am Eingang.«

      »Man hat Schneewittchen gefunden«, sagte Valerie, als sie aufgelegt hatte. »Komm, wir müssen gleich los.«

      »Darf ich auch mit?«, fragte Heiko.

      »Wir können da nicht im Rudel auftauchen. Am besten, du hältst hier die Stellung.«

      »Lass ihn nur«, meinte Hinnerk. »Im Stellung halten bin ich einsame Spitze.«

      »Bitte, wie der Herr belieben.«

      Valerie fuhr zum Teil schneller als die Polizei erlaubt. Sodass Heiko böse Kommentare abgab. Aber solange es noch ein Fünkchen Hoffnung gab, dass das Mädchen doch noch am Leben war …

      »Wie geht es eigentlich unserem ersten Opfer?«, fragte Heiko. »Du hast doch vorhin mit der Charité telefoniert.«

      »Unverändert. Sie ist randvoll mit Morphium und anderen Rauschmitteln. Die Ärzte sagen, es ist ungewiss, ob sie jemals wieder aufwacht.«

      »Euer Sohn hat mich angerufen. Er würde gerne wieder bei uns einziehen.«

      »Waas? Das kann doch nicht wahr sein.«

      »Demnach bist du über den Stand der Dinge nicht informiert? Tut mir leid. Ich dachte, ihr wisst Bescheid.«

      Ben hatte eine Zeitlang bei Heiko und seinem Freund Fabian zur Untermiete gewohnt. Denn die beiden verfügten über eine große Altbauwohnung am Kaiserdamm. Ben hatten zwei Zimmer mit Bad und einem eigenen Eingang zur Verfügung gestanden. Da Lena dort nicht mit einziehen gewollt hatte, waren sie in eine einfachere Wohnung in Hellersdorf gezogen.

      »Das war ja ein kurzes Vergnügen mit den beiden«, meinte Valerie.

      »Ich nehme das nicht so ernst. Stress in der Beziehung gibt es immer mal, wie ich gerade selbst erlebt habe. Vielleicht kriegen sie sich wieder ein.«

      »Ist bei euch wieder alles im Lot?«

      »Ja, seitdem der Fiedler Enno ausgezogen ist, bin ich eine Sorge los, ob Fabian es heimlich mit dem Untermieter treibt. Er hat scheinbar aus seinem Fehler gelernt und gibt sich wieder richtig Mühe mit uns.«

      »Wie schön. Ich finde, ihr passt richtig gut zusammen. Was mag nur zwischen Ben und Lena passiert sein? Die waren doch so was von verknallt. Richtig neidisch hätte man werden können.«

      »Das fragst du Ben am besten selbst. Er hat nur angedeutet, dass sie einen heftigen Streit hatten und er sich nicht gerne gängeln lässt.«

      »Oh, oh, das hört sich nicht gut an. Da muss Lena einen wunden Punkt bei ihm getroffen haben. Du weißt ja, dass er sich nicht gerne was sagen lässt. Sonst würde er womöglich wieder bei uns wohnen. Sein Freiheitsdrang und der Wille zur Selbstbestimmung ist scheinbar bei ihm größer als die Liebe.«

      »Bewerte das nicht über. Die beiden hat der Alltag eingeholt. Das ist der Lauf der Dinge. Aber wenn sie die Krise überwinden, haben sie gute Chancen, dass die Beziehung hält.«

      Valerie fand später in unmittelbarer Nähe einen Parkplatz. Dort wo auch der Streifenwagen stand. Die Polizeimeister Urs Richter und Roland Wendland warteten auf der großen Freitreppe.

      »Hallo, wir müssen in die dritte Etage in den ehemaligen Saunabereich«, sagte Richter und zog seinen Ärmel über das Handgelenk, um das große Pflaster zu verbergen. »Haben Sie Taschenlampen dabei? Da drinnen ist es zum Teil sehr finster.«

      »Nö, aber unsere Handys mit Taschenlampenfunktion«, sagte Valerie. »Was ist mit Ihrem Arm? Haben Sie sich verletzt?«

      »Ach nein, meine Frau und ich haben uns das gleiche Tattoo stechen lassen. Bei ihr ist alles gut gegangen, nur meins hat sich leicht entzündet.«

      »Das sollte sich ein Arzt ansehen. Damit ist nicht zu spaßen.«

      »Ja, ich weiß. Ich habe schon einen Termin vereinbart.«

      Über den alten Treppenaufgang mit Eisengeländer ging es nach oben. Heiko hätte gerne in die beiden Schwimmhallen einen Blick geworfen, aber die mögliche Rettung des Mädchens ging vor. Im Saunabereich gab es einen türkis gefliesten Raum mit weißen Deckenbalken. In der Raummitte befand sich ein achteckiges Becken, das man über fünf Stufen von den Stirnseiten aus betreten konnte. Vermutlich hatte es einst als Kaltwasserbecken zur Erfrischung nach dem Saunagang gedient.

      Auf dem Boden des Beckens stand ein Glassarg, in dem eine junge Frau lag. Sie hatte ebenholzfarbene, lange Haare und einen blutrot geschminkten Mund, der in großem Kontrast zu ihrer milchig weißen Haut stand.

      »Wer hat denn den Deckel abgenommen? Sie etwa?«, fragte Valerie entgeistert.

      »Ja, wie hätten wir sonst feststellen können, ob das Mädchen noch lebt?«, fragte Urs Richter.

      »Das sieht man doch auf den ersten Blick, dass es keine Atmung mehr hat. Na bravo! Jetzt haben Sie überall Ihre Fingerabdrücke verteilt und mögliche Spuren verwischt.«

      »Sei nicht so streng mit ihnen«, meinte Hinnerk.

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