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      Wie gut, dass sein Buch in der Bibel zu finden ist. Manchem Gläubigen wird der bittere Tonfall unangenehm aufstoßen. Dieses Werk verhindert die bigotte Überheblichkeit, dass es für jene, die an Gott glauben, keine Schwierigkeiten mehr gäbe. Hier wird der Gegenbeweis angetreten. Vielleicht wirkt sogar auch alles nur noch schlimmer, weil die Wirklichkeit so schwer mit dem Vertrauen auf den guten Gott vereinbar ist.

      Im Jahr 1652 reimte Michael Franck 13 Strophen eines Liedes, von dem acht im evangelischen Gesangbuch zu finden sind: „Ach wie flüchtig, / Ach wie nichtig / Ist der Menschen Leben! / Wie ein NEBEL bald / entstehet / Und auch wieder bald vergehet, / So ist unser LEBEN, sehet!“ Der „liebe Gott“ kommt nicht drin vor. Die Nichtigkeit allen Strebens wird ausführlich beschrieben. „Leben“ wird rückwärts gelesen zu „Nebel“, zu Dunst. Die Anlehnung des Liederdichters an unseren Denker aus der Hebräischen Bibel, dem Alten Testament, ist offensichtlich.

      „Es ist alles sinnlos und bedeutungslos.“ Ein hartes Wort. Aber das darf man so sehen, das darf man so sagen. Gut biblisch, gut christlich. Wie beruhigend, dass einer ausspricht, was ich kaum zu denken wage. Ich fühle wie er, halte es aber kaum aus. Deswegen möchte ich mich mit seiner Ansicht auseinandersetzen.

      Ich danke ihm – und ich danke Gott, dass er uns diesen Autor geschenkt hat: Kohelet, den Prediger.

       Kohelet versammelt Wahrheitssucher

      Wer ist dieser Mann, dessen zugespitzte Gedanken es geschafft haben, in die Bibel aufgenommen zu werden? Wir wissen kaum etwas über ihn. Sein Name ist kein Name, sondern eine Bezeichnung: Kohelet bedeutet etwa „Versammler“ oder „Anführer der Versammlung“ und steht für jemanden, der in einer Versammlung seine Lehre vorträgt. So wurde sein Werk auch als das Buch „Prediger“ bekannt. Das Buch Kohelet selbst gibt vor, sein Autor sei Salomo:

      Dies sind die Worte des Lehrers, des Sohnes des Königs David, der in Jerusalem herrschte (Prediger 1,1). Ich, der Lehrer, war einst König in Israel und regierte in Jerusalem (Prediger 1,12). Ich sagte mir: „Es ist so: Ich bin weiser als alle Könige, die vor mir in Jerusalem regiert haben; ich habe viele Erfahrungen gesammelt und eine Fülle an Weisheit und Erkenntnis erworben“ (Prediger 1,16). Der Lehrer war ein weiser Mann und er gab seine Erkenntnisse an die Menschen weiter. Er vertiefte sich in die Lehre und forschte darin. Auch verfasste er viele Sprüche. Er versuchte, einprägsame Worte zu finden und nur das zu schreiben, was der Wahrheit entspricht (Prediger 12,9–10).

      Darüber sind sich die Bibelwissenschaftler allerdings einig: Das Buch Kohelet wurde erst 500 Jahre nach der Zeit des Salomo verfasst; das kann man an Merkmalen seiner hebräischen Sprache feststellen. Wahrscheinlich ist das Werk im 3. Jahrhundert vor Christus entstanden. Sein Autor war zwar nicht jener König der legendären Weisheit, aber ein überaus intelligenter und origineller Denker. Er kannte sich mit der jüdischen Weltanschauung aus, aber auch mit griechischer Philosophie. Zudem beherrschte er die Kunst der Dichtung.

      Kohelet scheint bei seiner Leserschaft das Wissen um jüdische Glaubensgrundlagen vorauszusetzen, denn die traditionellen Inhalte streift er höchstens. Wie ein Vorläufer der Reformation ignoriert er weitgehend den Komplex religiöser Opfer und den Kult. Er bringt einen ganz neuen Ton in die biblische Erbauungsliteratur, behauptet allerdings, damit verschaffe er nur dem eigentlich Alten und Unwandelbaren wieder Geltung.

      Ob der Mann verheiratet war oder nicht, welchen Beruf und welche Stellung er innehatte, wo er lebte (Jerusalem oder vielleicht Alexandrien?) – all das wissen wir nicht. Sein Buch jedoch gehörte bald schon zum Katalog der Schriften, die man als Gebildeter des Volkes Israel gelesen haben musste. Sogar in den Höhlen von Qumran fand man zwei Kohelet-Fragmente.

      Fachleute diskutieren, ob der Prediger sich an Positionen seiner Zeit abgearbeitet hat oder jüdisches mit griechischem Denken verbinden wollte. Sein Schwanengesang auf die israelische Weisheit bleibt brisant. 1759 wurde sein Buch in Paris als ketzerisches Werk verbrannt; man hatte den Übersetzer Voltaire für den Autor gehalten.

      An der philosophiehistorischen Debatte kann ich mich mangels Wissen nicht beteiligen. Ich lese Kohelet schlicht als Botschaft an mich heute. Ich fühle mich von seiner Art, die Welt zu betrachten und zu reflektieren, unmittelbar angesprochen. Er ist ein Realist und dabei ein glaubender Mensch. Seine Religiosität wirkt so anders als gewohnt. Das hat viele fromme Kritiker über die Jahrtausende gegen ihn aufgebracht. Wie wichtig er bis heute ist, drückt der Theologe Norbert Lohfink aus: „Für manchen modernen Agnostiker ist Kohelet die letzte Brücke zur Bibel. Es gibt heute Christen, für die ist Kohelet die verrucht-beliebte Hintertür, durch die sie jene skeptisch-melancholischen Empfindungen ins Bewusstsein einlassen können, denen am Haupteingang, wo Tugendpreis und Jenseitsglaube auf dem Namensschild stehen, der Zugang nicht gestattet würde.“

      Die Auseinandersetzung mit Kohelet ist ein Vergnügen: Mal schenkt er mir neue Ideen und ungewohnte Perspektiven. Mal unterstreicht er das, was ich immer schon dachte, wofür ich aber keine Worte fand. Mal bringt er mich auf die Palme, weil ich seine Ansichten so abstrus finde und ablehne. Aber sich mit diesem Weisheitslehrer auseinanderzusetzen ist immer lohnenswert. Der Dichter-Pfarrer Kurt Marti kommentierte: „Im Büchlein Kohelet sind Passagen zu finden, die einem tief ‚einfahren‘ können, weshalb ich mir erlaubte, vom ‚Kohelet Blues‘ zu sprechen. […] Heute noch können sie uns vom Wahn der eigenen Wichtigkeit oder gar Unsterblichkeit befreien.“

      Es gibt kein „Evangelium nach Kohelet“; der Mann ist weder Prophet noch Messias – aber eine herausragende Stimme der Heiligen Schrift. Was er uns bis in die Gegenwart hinein zu sagen hat, das konfrontiere ich hier mit meiner Lebenswirklichkeit. Nicht nur als Pfarrer oder Religionswissenschaftler, sondern als normaler Christ. Als einer, der an Gott glaubt. Wie Kohelet. Nur anders.

      Da kommt etwas zum Klingen. Denn ihm gelang es tatsächlich, „einprägsame Worte zu finden“. Ob alles, was er schrieb, „der Wahrheit entspricht“ – das zu beurteilen maße ich mir nicht an. Die Wahrheit ist noch einmal größer als alles, was wir zu denken und aufzuschreiben vermögen. Sie aber zu suchen und um sie zu ringen, dafür sollte uns keine Mühe zu anstrengend sein. Dafür „sammle“ ich mich gern und bedenke das Buch des Versammlers.

       Nichts Neues?

      Unsere Tochter ist eine junge Frau, die, wie das für ihr Alter üblich ist, Freude hat an neuer Bekleidung. Weil es so mühsam ist, in der Stadt von Laden zu Laden zu laufen, wird im Internet bestellt. Unsere Tochter wohnt schon lange nicht mehr zu Hause, aber die Pakete kommen ins Elternhaus; wir sind ja immer da … Die Tochter packt aus, probiert an, zu klein, zu groß, die Farbe anders als auf der Bestellseite, der Stoff fühlt sich nicht gut an. Egal, zurück in den Karton. Und ich darf dann die Rücksendungen zur Post bringen.

      Natürlich passt das eine oder andere neue Teil doch und bereitet Freude. Aber wie lange ist ein neues Kleid neu? Wann ist der Reiz des Neuen verflogen? Die neue Tapete ist irgendwann auch alt. Wir suchen das Neue, weil wir die Abwechslung lieben: neue Speisen, neue Reiseziele, neue Filme. Wir wollen neue Leute kennenlernen.

      Zeitungen und Nachrichtensendungen leben von Neuigkeiten. Der amerikanische Literaturnobelpreisträger William Faulkner behauptet hingegen: „Es ereignet sich nichts Neues. Es sind immer dieselben alten Geschichten, die von immer neuen Menschen erlebt werden.“ Vielleicht ist er von sich aus auf diese Erkenntnis gekommen, doch neu ist sie nicht, denn schon Kohelet sagt das Gleiche:

      Was einmal gewesen ist, kommt immer wieder, und was einmal getan wurde, wird immer wieder getan. Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Gibt es eigentlich irgendetwas, von dem man sagen könnte: „So etwas gab es noch nie!“? Nein, alles gab es schon irgendwann einmal – in längst vergangenen Zeiten. Wir haben nur vergessen, was damals geschehen ist. Und in einigen Jahren wird man sich nicht mehr an das erinnern, was wir jetzt tun. (Prediger 1,9–11)

      Natürlich wiederholen sich Biografien. Von der Geburt bis zum Tod ist die Variationsbreite der Lebensläufe auf der Erde zwar unendlich groß, aber Parallelen gibt es dann doch. Kindheit,

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