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Die Polizeibeamten, welche damals die Anzeige der Familie aufnahmen, erinnern sich an den Vorfall.

      Nur ein Jahr nach dem Ende der ersten Tortur setzt sich der Alptraum in Moussas Leben fort. Die Männer des IS suchen regelmäßig die Dörfer auf. Man kommt auch in sein Elternhaus, führt Gespräche, sieht sich um. Man wird auf ihn aufmerksam.

      Eines Morgens erscheinen die Männer des IS erneut, diesmal vermummt. Unter Androhung von Waffengewalt holen sie ihn aus dem Haus und nehmen ihn mit. Den Ort, an den er jetzt gebracht wird, kennt er bereits. Diesmal vergewaltigen sie ihn nicht, sie agieren jetzt über andere Wege, die sind weitaus folgenreicher. Sie werfen ihm schließlich vor, er sei ein Ungläubiger, habe den Propheten beleidigt. Dann werfen sie ihm eine Kapuze über und verschleppen ihn in das jüngst eröffnete IS-Gefängnis der Region.

      Weitere 80 Tage verbringt Moussa in einer Zelle mit neun anderen Gefangenen. Nunmehr erscheinen die Peiniger täglich und schlagen ihn und die anderen Häftlinge mit Gummischläuchen, auch wenn Moussa stets beteuert, die ihm vorgeworfenen Verfehlungen nie begangen zu haben.

      Der Höhepunkt der Tortur wird noch folgen. Mehrere Männer holen ihn aus der Zelle, stellen sich vor ihm auf, nachdem sie ihm eine Augenbinde umgebunden haben. Das Geräusch einer durchladenden Feuerwaffe wird Moussa ab diesem Zeitpunkt nie mehr vergessen. Einer der Männer hantiert mehrfach mit der Waffe, hält sie ihm an den Kopf und drückt mehrfach ab. Dabei habe er immer wieder sagen müssen, dass er den Propheten nicht beleidigt habe. Später erinnert sich Moussa nicht mehr an die Anzahl der einzelnen Durchgänge.

      Und dann ist die Tortur plötzlich zu Ende, sie lassen ihn frei und jagen ihn davon. Da befindet sich Syrien bereits mitten im Bürgerkrieg.

      Zurückgekehrt in das häusliche Milieu, folgt nun der dritte Teil der seelischen Folter. Die Bombenangriffe haben auch Raqua erreicht. Jahre später berichtet Moussa dem Gutachter, die Bomber der Allianz des Präsidenten von Syrien hätten zu diesem Zeitpunkt tagsüber und auch über Nacht Angriffe geflogen, er habe schätzungsweise vor seiner Flucht über 70 Angriffe erlebt, aber eher und wahrscheinlicher seien es doch mindestens 100 Angriffe gewesen, er habe nicht mehr zählen können.

      Der Kontakt mit dem Tod wird alltäglich. Fliegerangriffe auf der einen Seite, Selbstjustiz durch den IS auf der anderen Seite. Öffentliche Enthauptungen gehören jetzt zum Alltag. Auch Moussa wird gezwungen, den Szenarien beizuwohnen.

      An seinem 17. Geburtstag kann er dann vorübergehend durchatmen. Ein Onkel der Familie bietet ihm Obhut und eine Arbeitsstelle auf seinem Hof an. Er könne dort eine Ausbildung zum Traktormechaniker beginnen. Der Onkel erkennt die schwierige Situation und die bedrängte Stellung des Jungen in der Familie. Er holt ihn aus diesen Strukturen heraus und ermöglicht ihm einen Neuanfang. Jedoch nur kurzzeitig, denn die Milizen vor Ort erreichen nach wenigen Wochen auch dieses Gehöft. Wieder hört er die Drohungen, sieht die Männer, fängt an zu zittern, schreit und verbirgt sich im Haus, später außerhalb des Hofes.

      Nachdem die Schikanen der Milizen nicht enden, trifft die gesamte Familie nun den Entschluss, Syrien zu verlassen.

      Man entwirft zeitnah Pläne, Argumente werden abgewogen, überhastet werden Entscheidungen getroffen, die Flucht steht bevor.

      In der Nacht überqueren sie die syrische Grenze, alles verläuft ohne Zwischenfälle. In den Morgenstunden kommen sie in der Türkei an. Sie sind nicht die einzigen, die dort ihre Anliegen vertreten wollen. Nach weiteren drei Wochen auf türkischem Gebiet steht fest, dass sie dort ihr Glück nicht finden werden. Seilschaften, die sich mittlerweile bildeten, offenbaren, dass man mit einem Führer, so auch die andere Bezeichnung für Schleuser, ein Boot bekommen könne, griechische Inseln seien erreichbar. Auch diese Überfahrt gelingt, sogleich sondiert man weitere Möglichkeiten, gelangt auf das Festland, mit dem Landbus nach Athen.

      In Athen treffen die Familienmitglieder die Entscheidung, soweit eben möglich, nach Westeuropa weiterreisen zu wollen. Als sie – wiederum in den Nachtstunden – die weitere Route antreten, ahnen sie nur unscharf, dass ihnen weitere Unannehmlichkeiten drohen. Diese folgen sodann in Bulgarien. Dort werden sie getrennt, die Beamten kontrollieren sie, sperren sie über Nacht in verschiedene Zellen. Wiederum wird Moussa von den alten Bildern eingeholt. Nicht genug dessen, auch die Folter tritt wieder in Moussas Leben.

      Des Nachts betreten vermummte Beamte die Zelle, schlagen die Insassen mit Stöcken, peinigen sie, schreien sie an und formulieren Drohungen. Auch Moussa wird geschlagen. Sogleich zieht er sich in sich selbst zurück, geht an einen anderen, inneren Ort. Während der Schläge schützt er sich, auch vor sich selbst. Die Seele bekommt neue Risse, Moussa kapselt sich ab, geht in die innere Migration, die auf ihn niedergehenden Schläge fühlt er nur mehr äußerlich, das Innerste darf nicht zu Schaden kommen, irgendwann wird man aufhören, ihn zu schlagen.

      Bevor sie ihn ziehen lassen, nehmen sie noch seine Fingerabdrücke. Er weiß, was das bedeutet.

      Dennoch, die Route muss beendet werden. Die Familie findet er nicht mehr, Erkundigungen bleiben zwecklos, man jagt ihn mit anderen Gleichgesinnten davon, der Weg ist vorgezeichnet. Er muss ihn weitergehen.

      Anfang des Jahres 2019 gelangt Moussa, nach einer endlos scheinenden Odyssee, über Bulgarien, Kroatien und Österreich nach Deutschland. Geschlagen wurde er nicht mehr, aber Einsamkeit, Erschöpfung und Entbehrungen, Zweckgemeinschaften mit anderen Weggefährten prägen ihn auf lange Zeit.

      Die Aufnahmeeinrichtung verschluckt ihn, er ist jetzt registrierter Flüchtling. Neue Kontakte entstehen, Behördengänge und Ansprechpersonen wechseln einander ab. Er erfährt, dass Betreuungspersonen zur Verfügung stehen, bleibt empfänglich für neue Strukturen. Eine anhaltende Betäubung legt sich über ihn, dumpf und teilnahmslos verbringt er die ersten Wochen. Die Zukunft, so wie erträumt, in zahlreichen Facetten ausgemalt, sie bleibt unsichtbar. Hoffnung wird zum Fremdwort.

      Moussa gliedert sich ein, läuft mit, wartet ab, versteigt sich in seltsam anmutenden Tagträumen.

      Die bleierne Last der Vergangenheit will nicht weichen, die Ungewissheit lauert dunkel im Hintergrund. Lebensfreude will nicht mehr aufkommen.

      Die Betreuer werden auf ihn aufmerksam, er lässt sich kaum auflockern. Man empfiehlt ihm eine Vorstellung beim Arzt, der Psychiater komme wöchentlich in die Einrichtung. Moussa zweifelt, Ängste beschleichen ihn, die Sinnhaftigkeit erschließt sich ihm nicht.

      Dann sucht der dennoch die Sprechstunde auf, berichtet seine Geschichte, blickt anhaltend zu Boden, nur unscharf registriert er die Realität. Ob er medikamentöse Unterstützung benötige? Er weiß es nicht, stimmt den Empfehlungen des Arztes zu, verspricht wiederzukommen und zieht sich in sich zurück.

      Am Abend lärmen die Zimmernachbarn, Moussa findet keinen Schlaf. Er gesellt sich zu den Migranten des gleichen Hausflurs. Marihuana kreist in der Runde, dann ist es an ihm zuzustimmen oder abzulehnen. Er nimmt an, raucht mit, und plötzlich kommt sie doch noch über ihn, die große Ruhe, nach der er sich seit Wochen, eigentlich seit Monaten, sehnt. Er raucht mehrere Stunden und fällt dann in einen tiefen Schlaf.

      Am nächsten Abend die gleiche Prozedur, die gleiche Runde, man trifft sich. Migranten aus den Maghreb-Staaten, von der Elfenbeinküste, aus der Ukraine, Syrien, Irak und Bosnien. Grenzen spielen plötzlich keine Rolle mehr. Die Droge verbindet, beruhigt, gibt Hoffnung – vorerst.

      Nach weiteren Monaten hat sich die äußere Situation für Moussa kaum verändert. Moussas Innenleben bleibt kontrollierbar, die Seele revoltiert nicht mehr, der Cannabiskonsum gehört zu den Höhepunkten des Tages. Dass er nunmehr täglich konsumiert, seit jenem Abend auf gleichem Flur nicht mehr ohne die Drogen einschlafen kann, registriert er nicht. Termine nimmt er nicht mehr wahr, er lässt sich treiben.

      Die Mitkonsumenten nehmen ihn mit in das angrenzende Stadtgebiet. Der Alkoholkonsum kommt schleichend hinzu. Man unternimmt nächtliche Streifzüge, organisiert die Sicherstellung der Konsummengen. Noch läuft alles in kontrollierten Bahnen.

      Die Ruhe erweist sich als trügerisch, die zunehmende psychische Abhängigkeit von den Substanzen fordert ihren Tribut. Längst geht es nicht mehr allein um Cannabis. Auch Stimulantien wie Amphetamin und auch Kokain werden interessant. Längst gibt es kein Zurück mehr.

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