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Die neue Medizin der Emotionen. David Servan-Schreiber
Читать онлайн.Название Die neue Medizin der Emotionen
Год выпуска 0
isbn 9783956140846
Автор произведения David Servan-Schreiber
Жанр Сделай Сам
Издательство Bookwire
Was ist wichtiger: Fühlen oder Denken?
Dem gegenüber kontrolliert das kognitive Gehirn die bewusste Aufmerksamkeit sowie die Fähigkeit, die gefühlsmäßigen Reaktionen zu dämpfen, ehe sie alle anderen überlagern. Diese Steuerung der Gefühle durch das kognitive Denken bewahrt uns vor einer möglichen Tyrannei der Gefühle und einem Leben, das ganz und gar von Instinkten und Reflexen bestimmt wäre. Eine an der Universität Stanford durchgeführte Untersuchung, die mit der Bilderwelt des Gehirns arbeitete, veranschaulicht die Bedeutung des kortikalen Gehirns sehr deutlich. Wenn sich Studenten aufwühlende Bilder ansehen – verstümmelte Leichen oder entstellte Gesichter beispielsweise –, reagiert ihr emotionales Gehirn sofort. Versuchen sie jedoch bewusst, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, so sieht man, wie die kortikalen Bereiche die Bilder ihres aktivierten Gehirns verdrängen und die Aktivität des emotionalen Gehirns blockieren.13
Die Kontrolle von Gefühlen durch das Denken ist jedoch eine zweischneidige Angelegenheit: Kommt sie allzu oft zum Zug, verliert man möglicherweise die Fähigkeit, die Hilferufe des emotionalen Gehirns zu hören. Auf die Folgen einer solchen Unterdrückung von Gefühlen trifft man häufig bei Personen, die als Kinder gelernt haben, dass Gefühle nicht zulässig sind. Typisches Beispiel dafür ist zweifelsohne die Männern so häufig eingetrichterte strenge Ermahnung: »Ein Junge weint nicht!«
Eine übertriebene Kontrolle der Gefühle kann daher zu Unempfindlichkeit führen. Doch ein Gehirn, das emotionaler Information verbietet, einen Einfluss auszuüben, verursacht andere Probleme. Einerseits fällt es einem schwer, Entscheidungen zu treffen, wenn man keine Vorliebe für etwas hat, keine »innere Stimme«, die aus dem Herzen oder dem Bauch kommt, jenen Körperpartien, die ein »irrationales Echo« von Gefühlen auslösen. Aus diesem Grund verzetteln zu »mathematische« Intellektuelle – häufig Männer – sich gern in endlosem Abwägen, wenn es darum geht, sich beispielsweise zwischen zwei Automarken oder auch nur zwei Fotoapparaten zu entscheiden. In den schlimmsten Fällen – denken Sie etwa an das berühmte Beispiel von Phineas Gage im 19. Jahrhundert14 oder an den von Eslinger und Damasio beschriebenen Patienten E.V.R.15 – hindert eine Hirnverletzung den Denkapparat daran, eine gefühlsmäßige Abneigung zur Kenntnis zu nehmen. Nehmen wir den Fall von E.V.R. Der Buchhalter mit einem IQ von 130 – was ihn in die Sparte »überdurchschnittlich intelligent« platzierte – war ein geschätztes Mitglied seiner Gemeinde. Seit vielen Jahren war er verheiratet, hatte mehrere Kinder, ging regelmäßig in die Kirche und führte ein äußerst geregeltes Leben. Eines Tages musste er sich einer Gehirnoperation unterziehen, bei der sein Denk- und Wahrnehmungsapparat von seinem emotionalen Gehirn »abgekoppelt« wurde. Von einem Tag auf den anderen war er nicht mehr in der Lage, auch nur die banalste Entscheidung zu fällen. Für ihn ergab nichts einen »Sinn«. Merkwürdigerweise bewiesen Intelligenztests – die ja ausschließlich die abstrakte Intelligenz messen – einen nach wie vor bei weitem überdurchschnittlichen IQ. Dennoch, E.V.R. wusste nicht mehr, was er den lieben langen Tag mit sich anfangen sollte, da er keinerlei wirkliche, »aus dem Bauch kommende« Vorliebe für die eine oder die andere Möglichkeit hatte; alle Entscheidungen verloren sich in endlosen Detailüberlegungen. Schließlich verlor er seinen Arbeitsplatz, seine Ehe ging in die Brüche, und er ließ sich auf eine Reihe zweifelhafter Affären ein, die sein ganzes Geld verschlangen. Da er keinerlei Gefühle als Richtschnur für seine Entscheidungen hatte, geriet sein Leben völlig aus den Fugen, obwohl seine Intelligenz unbeeinträchtigt blieb.
Bei Leuten mit intaktem Gehirn kann allerdings schon eine Neigung zur Unterdrückung von Gefühlen massive Auswirkungen auf die Gesundheit haben. Durch eine Trennung von Denk- und Gefühlsapparat können wir die Fähigkeit verlieren, die kleinen Alarmsignale unseres limbischen Systems wahrzunehmen. Ständig finden wir tausend Gründe, nicht aus einer Ehe oder einem Beruf auszubrechen, unter denen wir in Wirklichkeit leiden, weil wir tagtäglich unseren innersten Werten Gewalt antun. Doch die Verzweiflung verschwindet keinesfalls dadurch, dass wir vor der ihr zu Grunde liegenden Bedrängnis die Augen verschließen. Da der Körper das wichtigste Betätigungsfeld des emotionalen Gehirns ist, äußert diese ausweglose Situation sich in körperlichen Problemen. Die Symptome sind die klassischen Stresskrankheiten: unerklärliche Müdigkeit, Bluthochdruck, Erkältungen, Herzkrankheiten, Magen-/Darmbeschwerden und Hautprobleme. Forscher in Berkeley sind sogar der Ansicht, nicht die emotionalen Gefühle als solche, sondern ihre Unterdrückung durch das Denken belaste unser Herz und unsere Arterien.16
»FLOW« UND DAS LÄCHELN DES BUDDHA
Um harmonisch mit anderen Menschen zusammenzuleben, gilt es, ein Gleichgewicht zwischen unseren unmittelbaren emotionalen – instinktiven – und den rationalen Reaktionen, die auf lange Sicht soziale Bindungen aufrechterhalten, zu erlangen und zu bewahren. Die emotionale Intelligenz findet dann am angemessensten ihren Ausdruck, wenn die beiden Hirnsysteme, das kortikale und das limbische, ständig zusammenarbeiten. In diesem Zustand gestalten und realisieren sich die Gedanken, die Entscheidungen, die Gesten auf ganz natürliche Weise und laufen ab, ohne dass wir dem besondere Aufmerksamkeit schenken. Wir wissen jederzeit, welche Wahl wir treffen müssen, und verfolgen unsere Ziele ohne Angestrengtheit, in einem Zustand natürlicher Konzentration, da wir entsprechend unseren Werten handeln. Und diesen Zustand des Wohlbefindens streben wir ständig an: die sichtbare und vollkommene Harmonie zwischen dem emotionalen Gehirn, das die Energie liefert und die Richtung vorgibt, und dem kognitiven Gehirn, das die Durchführung reguliert. Der große amerikanische Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi, der im Ungarn der Nachkriegswirren aufwuchs, widmete sein Leben dem Versuch, das Wesen des Wohlbefindens zu verstehen. Er nannte diesen Zustand »Flow«.17
Seltsamerweise gibt es ein sehr einfaches physiologisches Anzeichen dieser Harmonie der Gehirne, dessen biologische Grundlagen Darwin vor über einem Jahrhundert untersuchte: das Lächeln. Ein falsches Lächeln – zu dem man sich aus gesellschaftlichen Gründen zwingt – stimuliert lediglich die Jochbeinmuskeln im Gesicht, die, wenn man die Lippen schürzt, die Zähne entblößen. Im Gegensatz dazu mobilisiert ein »echtes« Lächeln zusätzlich die Muskeln um die Augen herum. Diese lassen sich nicht willentlich, mittels des kognitiven Gehirns, zusammenziehen. Der Befehl dazu muss aus den primitiven, tief liegenden limbischen Bereichen kommen. Deshalb lügen Augen nie: Die Kräuselung um sie herum zeigt, ob ein Lächeln echt oder falsch ist. An einem herzlichen, einem echten Lächeln merken wir intuitiv, ob unser Gesprächspartner sich in genau diesem Augenblick in einem Zustand der Harmonie zwischen dem, was er denkt, und dem, was er fühlt, zwischen Kognition und Emotion befindet. Das Gehirn verfügt über eine angeborene Neigung zum »Flow«. Das universellste Beispiel dafür ist das Lächeln Buddhas.
Ziel natürlicher Methoden, die ich in den folgenden Kapiteln vorstellen will, ist es, dies zu ermöglichen. Im Gegensatz zum IQ, der sich in Verlauf eines Lebens kaum höher entwickelt, kann man die emotionale Intelligenz in jedem Alter pflegen und weiterentwickeln. Es ist nie zu spät zu lernen, wie man besser mit seinen Gefühlen und mit seiner Beziehung zu den Mitmenschen umgeht. Der erste hier beschriebene Ansatz ist zweifelsohne der grundlegendste. Es geht darum, den Herzrhythmus zu optimieren, um dem Stress standzuhalten, die Angstgefühle unter Kontrolle zu bringen und die Vitalität, die in uns steckt, zu maximieren. Dies ist der erste Schlüssel zur emotionalen Intelligenz.
I Heute gibt es antipsychotische Medikamente, deren Auswirkungen ausgewogener sind und mit denen man Halluzinationen und Wahnvorstellungen unter Kontrolle bringen kann, ohne das Gefühlsleben der Patienten derart einzuschränken.
II Natürlich verschwanden gleichzeitig einige charakteristische Merkmale, etwa die Behaarung, das Gesicht mit vorspringenden Vorderzähnen sowie Kiefer und so fort.
3 HERZ UND
VERNUNFT
Adieu, sagte der Fuchs. Hier ist mein Geheimnis. Es ist ganz einfach: man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Antoine de Saint-Exupéry, Der Kleine