Скачать книгу

Heidi besaß eine so perfekt eingerichtete Wohnung, dass neue Einrichtungsgegenstände ohnehin nur gestört hätten. Adrian hatte nur die Kaffeemaschine und ein gerahmtes Miles-Davis-Poster behalten, alle anderen Möbel waren bei Anita gelandet, doch deren neues Wohnzimmer war ziemlich klein, sodass man nun kaum auftreten konnte zwischen den zwei Sofas, drei Sesseln und den ganzen Bildern, die in ihrer alten Wohnung gehangen hatten und nun hier auf dem Boden standen, an die Wände gelehnt.

      Anita war klar, dass sie irgendwann einmal ausmisten musste, doch sie hatte erst Möbel für Lukas gekauft, das hatte Vorrang, schließlich hatte er alles mit in sein neues Zimmer bei Heidi genommen; dann hatte ihr Elan nur noch für ein paar neue Küchenmöbel und einen Kaffeevollautomaten gereicht.

      Im Schlafzimmer zog sie die Schublade ihres Nachttisches auf, in der sie vor ungefähr einem Jahr, kurz nach ihrer Trennung von Adrian, drei Kondome bereitgelegt hatte, die dort noch immer lagen. Sie nahm die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Der Notarzt und bedeckte die Kondome damit, dann schob sie die Schublade mit einer energischen Bewegung wieder zu. Erledigt.

      Im Zimmer ihres Sohnes gab es, im Gegensatz zu ihrem Wohnzimmer, überhaupt nichts aufzuräumen. Lukas hatte seinen Drehstuhl unter den Schreibtisch geschoben, die Maus lag genau in der Mitte des Mousepads mit dem Bild von Bart Simpson, das wiederum bündig mit der Tastatur abschloss. Sogar das Bett war gemacht, auf dem Nachttisch lag ein Stapel Karteikarten mit Englisch-Vokabeln. Anita schüttelte den Kopf. Lukas’ Zimmer war derart ordentlich, dass sie sich regelrecht über die halb volle Flasche Apfelschorle freute, die unter das Bett gerollt war, sonst hätte dieser Raum gar nicht mehr wie ein Kinderzimmer gewirkt, sondern nur noch wie ein Büro, das ihr vierzehnjähriger Sohn drei Tage in der Woche nutzte, bevor er einige Termine bei seinem Vater und dessen neuer Freundin wahrnahm.

      Auch bei Trennungen ohne Schlammschlacht traten zwangsläufig zwei Wohnungen in einen Wettbewerb um die Gunst des Kindes. Die Frage, wie Lukas dieses von Anita neu eingerichtete Zimmer gefiel, war zu einem Symbol dafür geworden, wie es mit der Trennung klappte. Sicher, der PC hatte mehr Arbeitsspeicher als sein alter, und der Monitor war zwei Zoll größer, doch die Gemütlichkeit eines Kinderzimmers mit all den im Laufe der Jahre angesammelten Dingen, vom ersten Teddy bis zum Harry-Potter-Poster, konnte sie nicht erzeugen. Und dennoch hatte es geklappt. Lukas war gern in seinem Zimmer. Anita und Adrian hatten die Trennung gut gemanagt, ein besseres Wort gab es dafür nicht.

      Als Lukas eine Viertelstunde nach Schulschluss noch nicht geklingelt hatte, sah sie aus dem Fenster, rückte ein Kissen zurecht, sah wieder aus dem Fenster und dann auf die Uhr. Sie freute sich auf ihren Sohn und fast ebenso sehr freute sie sich auf das, was er mitbrachte: Ein paar Tage ihres früheren Lebens, des Lebens als Frau mit Familie, in dem sie sich um einiges besser auskannte als in dem, was jetzt war.

      Wenig später öffnete Anita ihrem Sohn die Tür. Lukas hatte eine neue Frisur. Er trug sein Haar jetzt an den Seiten kurz und oben so lang, dass er es mit einem Seitenscheitel einmal quer über den Kopf kämmen konnte, genauso wie der Junge in dem Unfallwagen letzte Nacht. Dies war die erste Frisur, die sie nicht für ihren Sohn ausgesucht hatte, sein erster selbstbestimmter Haarschnitt, dachte sie und drückte Lukas derart fest an sich, dass seine Stimme ganz gedämpft klang, als er sagte:

      »Hallo, Mama.«

      Anita trat einen Schritt zurück.

      »Schicke Frisur.«

      »Es müsste nur oben noch ein bisschen länger sein. Eigentlich soll das bis hier rübergehen.« Lukas stellte den Rucksack im Flur ab und fuhr sich durch die Haare. Dann ging er in die Knie, wie sonst, um sich die Schuhe auszuziehen, doch heute hatte er nur einen kleinen Fleck auf dem leuchtenden Weiß der Turnschuhe entdeckt und wischte daran herum.

      »Die Schuhe sind auch neu, oder?«

      »Am Samstag gekauft. Ich wollte unbedingt die in weiß mit dem Swoosh in orange, da mussten Heidi und ich ganz schön nach suchen.«

      »Lass uns auch mal wieder was einkaufen gehen«, sagte Anita.

      »Ja, klar«, meinte Lukas. »Aber ich dachte, du gehst nicht so gern shoppen.«

      »Doch, natürlich. Wie kommst du denn darauf? Ich habe nur nicht immer Zeit. Aber jetzt habe ich eh ein paar Tage frei.«

      »Wie lief eigentlich dein Nachtdienst?«

      »Das war echt wild. Wir mussten einen jungen Typen aus einem BMW schneiden, der ist voll gegen einen dieser Pfeiler von der U-Bahn am Schlesischen Tor geknallt.«

      »Schneiden?«

      »Das Auto aufschneiden.«

      »Krass«, sagte Lukas und folgte ihr in die Küche. Er setzte sich ihr gegenüber an den Küchentisch und lächelte sie an, als sie ihm eine Flasche Apfelschorle zuschob.

      »Erst haben wir die Beifahrertür abgeschnitten. Dann wollten wir eigentlich das Dach abmachen und ihn ganz vorsichtig rausheben, doch da haben wir gemerkt, er hat eine riesige intraabdominelle Blutung! Da haben wir ihn einfach über die Beifahrerseite rausgezerrt und sind wie die Blöden ab in’s Unfallkrankenhaus nach Marzahn.«

      Anita wusste, dass ihr Sohn sie trotz dieser Fachworte verstand. Seit er klein war, hatten sie zu fast jedem Tischgespräch zwischen Anita und ihrem Ex-Mann gehört, Worte wie intraabdominell waren quasi Familienmitglieder. Sie wusste, wie spannend Lukas diese Geschichten fand und freute sich, in seinem Blick auch jetzt diese kindliche Begeisterung für alles Medizinische zu sehen, die sie seit Jahren mit ihren Geschichten in ihm auslöste:

      »Nun mach es nicht so spannend, Mama. Hat es geklappt? Hat er überlebt?«

      »Ja«, sagte Anita und hielt ihrem Sohn die offene rechte Hand hin. Lukas zögerte einen kurzen Moment, dann klatschte er mit seiner Hand in ihre, wie es Sportler derselben Mannschaft bei einem Erfolg taten und sagte:

      »Genial.«

      »Was wollen wir denn essen?«, fragte Anita. Sie wollte nicht von ihrer normalen Routine abweichen. Alles sollte laufen wie immer in den letzten Monaten: Sie würde Lukas das Telefon geben. Die besten Lieferdienste waren gespeichert, die Bestellnummern seiner Lieblingsgerichte kannte Lukas inzwischen auswendig. Sie würde den Tisch decken, und wenn der Lieferservice klingelte, würde sie Lukas mit ihrem Portemonnaie zur Tür schicken, ihm einschärfen, zehn Prozent Trinkgeld zu geben und währenddessen die Soja-Sauce oder den Pizzaschneider holen, je nachdem. Nach dem Essen würde Lukas Klavier üben, den Computer anschalten, Hausaufgaben machen und dabei mit seinen Freunden chatten. Irgendwann würde sie mit einem Stück Kuchen in sein Zimmer kommen, sie würden ein bisschen reden. So sollte es weitergehen. Wie geplant.

      »Pizza? Vietnamesisch? Steak?«

      »Kann ich gleich zu Matthäus?«, fragte Lukas. Anita sah auf das Telefon in ihrer Hand. »Weil, das haben wir uns so gedacht, er hat einen neuen Computer, gerade erst gekauft. Da wollen wir ein paar Sachen installieren.«

      »Willst du nicht erst was essen?«

      »Wir holen uns einen Döner.«

      Anita steckte das Telefon wieder ein. Natürlich konnte Lukas zu Matthäus. Anita kannte die Eltern, die Mutter arbeitete im Finanzministerium, der Mann im Entwicklungshilfeministerium. Langweilige Leute, aber Langweiligsein war nun wirklich der letzte Grund, aus dem man seinem Sohn den Umgang mit einer Familie verbieten konnte.

      »Ich könnte dann auch bei Matthäus schlafen, er hat schon gefragt, wäre echt toll, wenn das ginge. Außerdem ist seine Mutter gut in Mathe, die kann uns für die Klausur am Freitag helfen.«

      Anita wollte erst antworten, dass auch sie gut in Mathe sei, hielt sich jedoch zurück und sagte stattdessen:

      »Und seine Eltern haben wirklich nichts dagegen?«

      »Nein«, antwortete Lukas, zwar nicht so gehetzt, dass es unhöflich klang, aber doch eilig genug, damit seine Mutter mitbekam, dass er ihr genau das eben bereits gesagt hatte.

      »Natürlich kannst du das. Spricht absolut nichts dagegen«, sagte Anita und brachte Lukas mit einem merkwürdigen Gefühl der Enttäuschung zur Tür. Doch dann sah er sich auf dem

Скачать книгу