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Leni Behrendt nimmt längst den Rang eines Klassikers der Gegenwart ein. Mit großem Einfühlungsvermögen charakterisiert sie Land und Leute. Über allem steht die Liebe. Leni Behrendt entwickelt Frauenschicksale, wie sie eindrucksvoller nicht gestaltet werden können.
Der Frühling hatte seine Vorboten ausgeschickt, die nun emsig bemüht waren, die winterlichen Attribute hinwegzuschaffen. Der Regen schwemmte den Schnee fort, machte das Eis so mürbe, daß es barst, von dem hochquellenden Wasser überflutet und abgespült wurde. Der Sturm hingegen ging noch radikaler vor. Der brauste dahin und nahm alles mit, was nicht niet- und nagelfest war. Das Großreinemachen in der Natur hatte begonnen. Für diese war das eine Wohltat, aber weniger für die Menschen, die es über sich ergehen lassen mußten. Der Schirm bot gegen den peitschenden Regen nur wenig Schutz, und von den Wettermänteln rieselte das kalte Naß in die Schuhe hinein. Die Erfahrung machte auch das weibliche Wesen, das sich auf dem Fußweg, parallel zur Chaussee, durch Regen und Sturm kämpfte. Den Kopf vermummte eine Kapuze, den Körper ein Cape, das an der einen Seite einen Auswuchs zeigte. Wahrlich kein Vergnügen, so dahinzutappen, dazu noch auf einem glitschigen Weg. Wie gut hatten es dagegen die beiden Insassen des kostspieligen Wagens, der soeben von der Chaussee in eine Allee abbog! Da die Bäume kahl waren, konnte man hindurchlugen auf einen Zaun mit zementiertem Sockel, der von einem kunstvoll geschmiedeten Tor unterbrochen wurde, das sich nun für den Wagen öffnete und sich hinter ihm wieder schloß. Die Fußgängerin jedoch bog in den nächsten Querweg ein, der zu einem Staketenzaun führte, der ein Grundstück umfriedete. Mittendrin stand ein Haus, das mit seinem weißen Anstrich und den grünen Fensterläden einen schmucken Eindruck machte. Die Fußgängerin öffnete die Pforte, über die sich ein Bogen spannte. Jetzt war er kahl, da die Rosen noch eingedeckt waren. Von der Pforte führte ein Fliesenweg zur Haustür, in der die Besitzerin des Hauses stand, zu deren kleinem hageren Körper das volle Mopsgesicht so gar nicht passen wollte. Und doch wirkte dieses Gesicht so, daß man sich davon sofort angezogen fühlte. Hauptsächlich von den grau-blauen Augen, die so lustig zwinkerten, aber auch kühl und spöttisch blicken konnten. Das dunkle Haar war glatt zurückgekämmt, die Kleidung schlicht, aber gut.

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Julius Erdmann hat die Mühlenwerke von seinem Vater übernommen, hat den Betrieb weiter ausgebaut und ihn zu einem großen, blühenden, ertragreichen Unternehmen gemacht. Da ihm eigene Kinder versagt blieben, nahm er Benno und Renate Nieritz, die verwaisten Kinder seines Freundes, an Kindes Statt an. Renate ist ihm eine gute, liebevolle Tochter geworden, doch mit Benno, den er als seinen Erben und Nachfolger ansieht, erlebt Erdmann schwere Enttäuschungen. Die Windmühle, die schon auf dem Mühlenberg klapperte, bevor unten im Tal die Erdmannschen Mühlenwerke entstanden, ist noch immer in Betrieb, doch das alte Müllerehepaar Frank lebt recht kümmerlich und bescheiden. Jürgen, der einzige Sohn, ist der Stolz und die Hoffnung der beiden alten Leute. Als Jürgen nach langer Abwesenheit in die Heimat zurückkehrt, trifft er dort seinen Kindheitsfreund Norbert Haller und dessen Schwester Rosmarie wieder. Die Harmlosigkeit der Kinderzeit ist dahin, zu verschieden haben sich die äußeren Lebensbedingungen und auch die einzelnen Charaktere entwickelt. Eines Tages scheint die Sonne wieder über dem Mühlengrund, und Vater Erdmann hat die Gewißheit, daß er sein Lebenswerk einmal in treue, zuverlässige Hände legen wird. «Hallo, Wilhelm Frank, haben Sie denn noch nicht genug an Ihrer anstrengenden Tagesarbeit, müssen Sie denn auch noch die Abendstunden mit Arbeit ausfüllen?» rief Julius Erdmann, der Besitzer der großen Mühlenwerke im Mühlengrunde, seinem Obermüller zu. Der alte Mann, der vor der Windmühle stand, deren mächtige Flügel sich lustig im Wind drehten, brachte mit einem Handgriff das laute Geklapper zum Schweigen, nahm die Pfeife aus dem Munde und ging seinem Brotherrn, der in Begleitung seiner Pflegetochter war, entgegen. «Die Armen brauchen ihr Brotmehl, Herr Erdmann», entgegnete der Müller in seiner bedächtigen Art. «Was Sie Arbeit nennen, das ist für mich Erholung. Wenn meine Mühle nicht mehr klappern soll, dann mag ich auch nicht mehr länger leben. Ich bin unter dem Geklapper geboren und will auch unter ihm sterben, wie es Vater und Großvater vergönnt gewesen ist.» «Sie verstehen mich falsch, lieber Frank», erwiderte Herr Erdmann hastig, «ich will Ihnen bestimmt keine Vorschriften machen. Ich fürchte nur, daß Sie sich zu sehr ausnutzen lassen und daß alle die, für die Sie Ihre Feierstunden opfern, nicht so bedürftig sind.» Sein Blick ging an der Mühle hoch, die so trutzig und frei dastand, so schmuck und ansehnlich wirkte wie kaum eine zweite ihrer Art.

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Leichtfüßig eilte ein junges Mädchen die Treppen des Mietshauses hinauf, machte im zweiten Stock halt und drückte den Finger dreimal auf den Klingelknopf an der Etagentür. Diese wurde gleich darauf von einem rundlichen Wesen geöffnet, das nach einem prüfenden Blick in das strahlende Mädchengesicht den Mund zu breitem Lachen verzog. «Gratuliere, Herzchen, gratuliere! Das ist aber mal eine Freude!» Der Ansicht waren auch die drei Menschen, die hinzukamen. Der Papa, ein stattlicher Herr mit frischem Gesicht, graumeliertem Stutzhaar und scharfblickenden Jägeraugen unter buschigen Brauen. Die Mama, groß, vollschlank, mit rosigem Gesicht, blauen Augen und blondem Kraushaar. Omilein, schon ein wenig verhutzelt, aber immer noch fidel und flink wie ein Wiesel. Sie alle gratulierten nun auch ihrem Liebling. Freudig erregt betrat man das Wohnzimmer, wo der Kaffeetisch gedeckt war. Ein Gedeck umgab ein Kränzlein von Schneeglöckchen, und auf der Torte prangten in Zuckerguß die Worte: Wir gratulieren unserer Geraldine. «Wie feierlich», lachte sie, die wohl den Vornamen Geraldine führte, aber für gewöhnlich Dina genannt wurde. «Und wie voreilig der Glückwunsch auf dem Meisterbackwerk. Wenn ich nun durch das Examen gerasselt wäre, was dann?» «Das kann doch unserem Goldkind nicht passieren», prahlte Fräulein Johanna Weller, die als langjährige Angestellte Familienzugehörigkeit besaß und für sie das liebe gute Hannchen war. «Das kann doch die Prüfung nur mit Auszeichnung bestanden haben.» «Da muß ich dich aber enttäuschen, du eitles Hannchen. Mir genügt die Note ›gut‹ vollkommen.»

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Endlich machte der Mai seinem Namen Ehre, war so, wie man ihn sich wünschte. Er hatte es auch nicht leicht gehabt, die gestrengen Herren, die in diesem Jahr besonders hartnäckig ihr eisiges Zepter schwangen, zu verdrängen. Doch nun hatte er es geschafft und schien sich verschwenden zu wollen in Sonnenschein und Blütenpracht. Und da das Wetter die Stimmung der Menschen zu beeinträchtigen pflegt, so war es kein Wunder, daß diejenigen, die Graf Schwartze-Lauritz in sein Haus geladen hatte, von Herzen fröhlich waren. Die Feste dort erfreuten sich großer Beliebtheit, denn der hochgeschätzte Hausherr verstand es, seinen Gästen immer etwas Besonderes zu bieten. So hatte man es allgemein bedauert, daß dieses gastliche Haus plötzlich der Geselligkeit seine Pforten verschloß, und zwar nachdem man die Herrin des Hauses zu Grabe getragen hatte. Seitdem hielt der tieftrauernde Gatte sich allen Vergnügungen fern. Eineinhalb Jahre dauerte es, bis der Mann sich auf seine Vaterpflichten besann und am Geburtstag der Tochter ein Fest veranstaltete, was er nicht einmal bei deren Verlobung getan hatte. Ganz still war diese begangen worden. Was die äußeren Verhältnisse betraf, fand man die Verlobung der schönen und vornehmen Komteß Britta mit dem feudalsten und einflußreichsten Mann der weitesten Umgebung ganz in Ordnung. Der große Besitz des Fürsten Rodland grenzte an den des Grafen Schwartze-Lauritz, dessen Erbin sein einziges Kind nach seinem Tode werden würde. «Da kommt wieder Geld zu Geld», meinten viele wehmü­tig– und: «Wenn das nur ein gutes Ende nimmt», orakelten andere. Der hoheitsvolle, strengdenkende Jobst Rodland und das verzogene Sprühteufelchen Britta Schwartze-Lauritz – na, das dürfte wohl keine gute Ehe geben. Einer mußte sich da wohl ändern, wenn es nicht zum Bruch kommen sollte. Würde es Britta sein? Ziemlich unwahrscheinlich. Und der Fürst? Noch unwahrscheinlicher.

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Abendfriede lag über Uthersbrünn. Den großen Gutshof, auf dem eben noch reges Leben geherrscht, hatten die Arbeiter verlassen, um in den Ställen das Vieh zu versorgen. Ab und zu klang Lachen gedämpft durch die Türen, ein Zeichen, daß man bei der Arbeit recht vergnügt war. Nun, dazu hatte man auch allen Grund; denn es arbeitete sich gut unter dem Befehl der Herrin von Uthersbrünn. Obgleich es März war, stellte sich immer noch Frost ein. Von den Dachrinnen hingen dicke Eiszapfen, die im funkelnden Licht der untergehenden Sonne wie herrliche Diamanten gleißten. Der Schnee glitzerte an manchen Stellen wie grober Zucker, und doch lag schon ein Frühlingsahnen in der Luft. Gerade als die Turmuhr des Herrenhauses zu sechs dumpftönenden Schlägen ausholte, klangen die Glocken der kleinen Schloßkapelle, die ein wenig abseits des Gutes auf einer Anhöhe stand, melodisch in das dumpfe Getön. Hellklingend läuteten sie den Abend ein. Noch waren die Töne nicht verklungen, als eine Seitentür des Hauses geöffnet wurde und ein Mädchen hinaustrat. Entzückt blieben die blauen Augen an dem rotglühenden Sonnenball haften, der durch die kahlen Äste der Parkbäume hindurchleuchtete. Gleichzeitig vernahm das Ohr die Glockenklänge, und es war dem Mädchen wohl kaum bewußt, daß es die Hände über der Brust faltete wie in stillem Gebet. Erst als der letzte Glockenton verhallt war, schritt die schlanke Gestalt ohne Eile den Parkweg entlang. Der Schnee knackte unter den leichten Füßen wie sprödes Glas. Der Abendwind fuhr sacht durch die Bäume und schlug die gefrorenen Äste zusammen, daß es ein Klingen gab wie bei einer Äolsharfe, so lieblich und zart. Am Horizont loderte es wie ein Flammenmeer. Die Augen des jungen Mädchens strahlten vor Lebensfreude, der rote Mund lachte. Das Lachen wurde hörbar, als es den Mann entdeckte, der an der Parkmauer stand und mißmutig umherschaute. «Nanu, Achim, du machst ja ein Gesicht, als wäre dir die Petersilie verhagelt», neckte sie ihn, der nun auf sie zutrat.

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Es war ein festfundiertes Unternehmen, das große Bankhaus Rauter & Söhne. Der Großvater des jetzigen Inhabers hatte es gegründet und zu Wohlstand gebracht, der sich im Laufe der Jahrzehnte durch Tüchtigkeit der Nachfahren und die stattliche Mitgift der Rauter-Frauen so gesteigert hatte, daß der Urenkel sich nun einen reichen Mann nennen konnte. Er war ein echter Rauter, der wie auch sein jetzt neun Monate altes Söhnchen den traditionellen Vornamen Justus Balthasar trug. Eben betrat er das Wohngemach, in dem sich augenblicklich niemand befand. Er setzte sich in einen tiefen Sessel vor dem Kamin, dem eine mollige Wärme entströmte. Gedämpft klang ein krähendes Kinderstimmchen zu ihm hin, dazwischen helles Frauenlachen, das dem Mann im Sessel das Herz warm werden ließ. Seine Hella, ja, das war schon ein liebes Ehegespons! Immer vergnügt und guter Dinge, immer zum Lachen bereit, unkompliziert und verträglich. Lächelnd sah er ihr entgegen, als sie jetzt eintrat, rundlich, rosig, frisch wie das blühende Leben. «Just, du bist schon zu Hause?» wunderte sie sich gleich der jungen Schwägerin Sidonie Rauter, die hinter ihr sichtbar wurde, schlank und biegsam, mit Haaren wie dunkel glitzernder Bernstein und Augen, in denen sich des Himmels Bläue verfangen zu haben schien. Sie nahmen beide Platz, und Hella fragte neugierig: «Wie war es in Thormanshöfen, was wollte der Baron überhaupt von dir?» «Mir sagen, daß er nun endgültig kapituliert, weil er am ersten April die hohen Zinsen nicht zahlen kann. Es war scheußlich, ich kam mir beinahe wie ein Henker vor. Also, Schwesterchen, bereite dich langsam auf die Würde einer Rittergutsbesitzerin vor.» «Kein erhebendes Gefühl», brummte sie. «Am liebsten möchte ich dem armen Kerl den ganzen Krempel schenken, der allein nur durch die Schuld seines liederlichen Vaters wie ein Bettler von Haus und Hof gehen muß. Was wird er nun anfangen?» "Als Verwalter auf Thormanshöfen bleiben.

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In der Hauptgeschäftsstraße einer Großstadt zählte ein Geschäft für Kunstgewerbe zu den vornehmsten und teuersten. Die Kunden ließen sich gern beraten von der Inhaberin, einer gewandten Dame mit verbindlichem Lächeln und liebenswürdiger, zuvorkommender Art. Nur, daß sich diese Attribute allein auf die Kunden bezogen; bei den Angestellten schlug die aalglatte Geschäftsfrau ganz andere Töne an. Hauptsächlich der Nichte gegenüber, bei der sie sich das ungestraft leisten konnte. O ja, das gerissene Fräulein Lucinde Mentel wußte schon, was sie tat, als sie ihrer älteren Schwester eindringlich zuredete, die Tochter nicht Chemikerin werden zu lassen, wie diese es gern gewollt, sondern sie nach der mittleren Reife vom Lyzeum zu nehmen und auf die Kunstgewerbeschule zu schicken. Das bestach die Frau Mama natürlich. Und als dann gar noch der Gatte starb, behauptete die «arme Witwe», von der Pension, die der Landgerichtsrat ihr hinterließ, ein so teures Studium für die Tochter nicht bezahlen zu können. So besuchte denn das einzige Kind dieser egoistischen Mutter die Kunstgewerbeschule und, da die liebe Tante es für vorteilhaft hielt, auch noch Abendkurse für Buchführung, Stenographie und Schreibmaschine. Daß das zarte Geschöpf sich bei dieser doppelten Lehre überanstrengte, wurde weder von Mutter noch Tante bemerkt. Ersterer konnte es nicht schnell genug gehen, die Tochter von der Tasche zu kriegen, und letzterer ging es darum, in der gefügigen Nichte so schnell wie möglich eine Arbeitskraft zu bekommen, mit der sie nach Willkür verfahren konnte. Das geschah dann noch rascher, als die gerissene Lucinde erhoffte. Denn bevor noch Swidgart Friesen die Kunstgewerbeschule absolviert hatte, starb ihre Mutter. Abends klagte sie über heftige Kopfschmerzen, ging zeitig zu Bett – wo die Tochter sie am Morgen tot auffand. Ein Gehirnschlag hatte dem Leben der Endvierzigerin ein rasches Ende gesetzt. Woher sollte die junge Swidgart nun das Geld nehmen, um ihre Lehre, die noch länger als ein halbes Jahr währte, zu bezahlen? Womit den Lebensunterhalt bestreiten? Antwort darauf wußte die gute Tante Lucinde, die als Vormund der Nichte Bestimmungsrecht besaß. Sie ließ die gesamte Wohnungseinrichtung versteigern und bestritt von dem Erlös, der ja so kärglich war, wie sie dem lebensunerfahrenen Mädchen weismachte, dessen Ausgaben. Kost und Logis erhielt das liebe Kind natürlich von ihr gratis; dafür mußte es allerdings im Geschäft mithelfen, bevor es noch die Prüfung abgelegt hatte.

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"Herr Baron, hier ist ein Einschreibebrief." Hellersen, der arbeitend am Schreibtisch saß, nahm der alten Barbe den Brief ab und setzte seinen Namen auf den Zustellungsschein, mit dem die Alte wieder hinausging. Gleich­gültig öffnete er das Schreiben; doch schon bei den ersten Zeilen trat ein Ausdruck höchster Überraschung in sein Gesicht. Baron von Hellersen, Verwalter auf Rittergut Lorren, wird gebeten, nach Empfang dieses Schreibens unverweilt nach Waldwinkel zu kommen. Die Aufforderung geschieht auf ausdrücklichen Wunsch des Herrn Leopold von Hellersen, des Besitzers von Waldwinkel, der schwer erkrankt ist. Unten stand der schlecht leserliche Namenszug des Notars. Swen schüttelte zweifelnd den Kopf: Wenn dem Herrn Justizrat da nur nicht ein Irrtum unterlaufen war! Waldwinkel, das sagenumwobene. So konnte man es wohl nennen, weil viele davon sprachen, wenige es jedoch mit eigenen Augen erschaut hatten. Ein wundervoller Besitz sollte dieses Waldwinkel sein, zu dem noch einige Vorwerke und die Güter Jagen und Trollen gehörten. Es war der Stammsitz der Hellersen, der immer auf den erstgeborenen Sohn vererbt wurde. Das war im letzten Falle der verwachsene Leopold von Hellersen gewesen. Seinem jüngeren Bruder Ewald waren das naheliegende Rittergut Hirschhufen und die beiden Nebengüter Wallen und Lutzen als Erbteil zugefallen. Er hatte jedoch ein so verschwenderisches Leben geführt, daß sein Besitz unter den Hammer gekommen war. Sein Bruder Leopold hatte die Familiengüter ersteigert, weil er sie nicht in fremde Hände übergehen lassen wollte. Ewald erschoß sich, und seine Familie, die nun mittellos dastand, wurde von Leopold von Hellersen unterhalten. Er fühlte sich dazu verpflichtet, weil sie seine nächsten Anverwandten waren. Swen von Hellersen entstammte einer entfernten Seitenlinie. Er hatte Leopold von Hellersen nur einmal gesehen und ihn als unfreundlichen, stark verwachsenen und grundhäßlichen Mann in Erinnerung, der einsam auf seinem herrlichen Besitz lebte und nicht einmal seine nächsten Verwandten und Erben um sich duldete. Und da sollte der alte Herr ausgerechnet ihn, Swen, der so entfernt mit ihm verwandt war, daß er eigentlich nur den Namen mit ihm gemein hatte, zu sich rufen?

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"Schalk, alter scheinheiliger Schwerenöter, wirst du wohl!" drohte Graf Hellmarck seinem Dackel, der sich ein Vergnügen daraus machte, dem Stallburschen, der den Schnee von dem breiten Kiesweg fegte, mit bewundernswerter Ausdauer und unnachahmlichem Geschick an den Hosenboden zu springen und seine scharfen Zähne daran zu erproben. Langsam, die krummen Beine wie im Tanzschritt übereinandersetzend, begab er sich zu Herrchen, der ihm lachend die langen Ohren zauste, und sah ihm treuherzig in die Augen, wie der bravste, harmloseste Hund von der Welt. Er blieb auch sittsam an Herrchens Seite und sah so aufmerksam zu ihm auf, als verstände er jedes Wort der Unterredung, die Herrchen mit dem Förster hatte. Doch das nur scheinbar – denn in Wirklichkeit schielte er zu seinem Feind hin, dem er den Fußtritt, den er vor Wochen von ihm erhalten, immer noch nicht vergessen konnte. Darum ließ er keine Gelegenheit vorübergehen, sich für diese ihm angetane Schmach zu rächen. Und nun war eine wundervolle Gelegenheit dazu. Herrchen war bei ihm, und der schlaue Dackel wußte genau, daß niemand es wagen durfte, ihm etwas zuleide zu tun, wenn er auch noch so frech war. Außerdem konnte der Stallbursche auf seine Angriffe nicht so achten: unter den Augen des Herrn mußte seine Aufmerksamkeit der Arbeit gelten, die nicht eben leicht war. Denn tagelang hatte es ununterbrochen geschneit. Türme, Erker und Simse des feudalen, ehrwürdigen Schlosses Hohenwerth hatten blendend weiße Käppchen auf. Doch auf dem breiten Weg, der vom Schloß zu dem kunstvoll gearbeiteten schmiedeeisernen Tor führte, durch das man auf die schnurgerade Allee zu sehen vermochte, konnte der Schnee nicht geduldet werden, und es war Arbeit der Stallburschen, ihm zu Leibe zu gehen. Graf Hellmarck wandte sich wieder dem Förster zu, der genauso wie sein Herr über den gerissenen Schalk, der wegen seiner Streiche bekannt war, herzlich gelacht hatte. Der Förster setzte seinen Bericht fort, dem der Gebieter interessiert lauschte. Ruhig, lässig, stand der Graf vor dem Förster, der immer erregter wurde, je länger er sprach. «Ja, mein lieber Förster», entgegnete er mit seiner dunklen, herrischen Stimme, als der Förster seinen Bericht beendet hatte, «da nützt uns alle Empörung nichts. Herr Kose hat es leicht, unverschämt zu sein, er nützt eben meine Zwangslage aus. Jedenfalls bleibt keine andere Wahl – wir müssen das Holz für den Preis abgeben, so leid es mir tut.» Es zuckte in dem wetterharten Gesicht des Försters, und sein Herr legte ihm die Hand auf die Schulter.

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"Nur nicht so stürmisch, ich komme ja schon", brummte Jonas, als die Flurglocke schon zum zweitenmal anschlug. Dann stolzierte er mit gravitätischen Schritten nach dem schmalen, engen Korridor, öffnete die Tür und fuhr zurück. «Oh – der Herr…», stammelte er verwirrt, «ich bitte um Entschuldigung.» «Warum entschuldigst du dich denn?» fragte lachend der vor ihm stehende große blonde Mann. «Weil ich mir so viel Zeit mit dem Öffnen ließ, Herr.» «Ach so…», lachte der Besucher noch lustiger, trat in den Korridor und packte den Diener bei den Schultern. «Tag, Jonas, altes Haus, wo ist meine Mutter?» «Die Herrin hält ihr Kaffeestündchen.» «Ah, so…», meinte der Gast. Er durchmaß mit zwei Schritten den Korridor, klopfte an die letzte Tür und stand gleich darauf vor einer Dame, die an einem runden Tischchen saß und mit Behagen den geliebten braunen Trank schlürfte. «Mutti!» rief der große Junge mit verhaltenem Jubel, stand mit einem langen Schritt vor ihr, hob sie wie eine Feder empor und drückte sie an sein Herz. «Unband!» drohte die Mutter, als sie wieder auf ihrem Sessel saß. Helle Freude leuchtete ihr aus den Augen.