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ein schwarzbrauner Koloss raste sie durch den weißen Schnee, bis sie in ihm versank. Sie verwickelte sich in den Kleidern, stürzte, erhob sich mit erstaunlicher Hurtigkeit, lief weiter, noch wusste sie nicht, wohin, aber es war ihr, als liefen die Füße schon selbst zu einem Ziel, das ihr Kopf noch nicht kannte. Die Dämmerung fiel schneller, als die Flocken, die ersten gelben Lichter erglommen, die spärlichen Menschen, die aus den Häusern traten, um die Fensterläden zu schließen, drehten die Köpfe nach Deborah und sahen ihr lange nach, obwohl sie froren. Deborah lief in die Richtung des Friedhofs. Als sie das hölzerne kleine Gitter erreichte, fiel sie noch einmal nieder. Sie raffte sich auf, die Tür wollte nicht weichen, Schnee hatte sie festgeklemmt, Deborah rannte mit den Schultern gegen das Gitter. Jetzt war sie drinnen. Der Wind heulte über die Gräber. Toter als sonst schienen heute die Toten. Aus der Dämmerung wuchs schnell die Nacht, schwarz, schwarz und durchleuchtet vom Schnee. Vor einem der ersten Grabsteine in der ersten Reihe ließ sich Deborah nieder. Mit klammen Fäusten befreite sie ihn vom Schnee, als wollte sie sich vergewissern, dass ihre Stimme leichter zu dem Toten dringen würde, wenn die dämpfende Schicht zwischen ihrem Gebet und dem Ohr des Seligen fortgeräumt wäre. Und dann brach ein Schrei aus Deborah, der klang wie aus einem Horn, in dem ein menschliches Herz eingebaut ist. Diesen Schrei hörte man im ganzen Städtchen, aber man vergaß ihn sofort. Denn die Stille, die hinter ihm folgte, wurde nicht mehr gehört. Nur ein leises Wimmern stieß Deborah in kurzen Abständen hervor, ein leises mütterliches Wimmern, das die Nacht verschlang, das der Schnee begrub und das nur die Toten vernahmen.

      IV

      Nicht weit von den Kluczy´sker Verwandten Mendel Singers lebte Kapturak, ein Mann ohne Alter, ohne Familie, ohne Freunde, flink und vielbeschäftigt und mit den Behörden vertraut. Seine Hilfe zu erreichen bemühte sich Deborah. Von den siebzig Rubeln, die Kapturak einforderte, ehe er sich mit seinen Klienten in Verbindung setzte, besaß sie erst knapp fünfundzwanzig, geheim erspart in den langen Jahren der Mühsal, im haltbaren Lederbeutel aufbewahrt unter einem Dielenbrett, das ihr allein vertraut war. Jeden Freitag hob sie es sachte auf, wenn sie den Fußboden scheuerte. Ihrer mütterlichen Hoffnung erschien die Differenz von fünfundvierzig Rubeln geringer als die Summe, die sie bereits besaß. Denn zu dieser addierte sie die Jahre, in denen sich das Geld angehäuft hatte, die Entbehrungen, denen jeder halbe Rubel seine Dauer verdankte, und die vielen stillen und heißen Freuden des Nachzählens.

      Vergeblich versuchte ihr Mendel Singer die Unzugänglichkeit Kapturaks zu schildern, sein hartes Herz und seinen hungrigen Beutel. »Was willst du, Deborah«, sagte Mendel Singer, »die Armen sind ohnmächtig, Gott wirft ihnen keine goldenen Steine vom Himmel, in der Lotterie gewinnen sie nicht, und ihr Los müssen sie in Ergebenheit tragen. Dem einen gibt Er und dem andern nimmt Er. Ich weiß nicht, wofür Er uns straft, zuerst mit dem kranken Menuchim und jetzt mit den gesunden Kindern. Ach, dem Armen geht es schlecht, wenn er gesündigt hat, und wenn er krank ist, geht es ihm schlecht. Man soll sein Schicksal tragen! Lass die Söhne einrücken, sie werden nicht verkommen! Gegen den Willen des Himmels gibt es keine Gewalt. ›Von ihm donnert es und blitzt es, er wölbt sich über die ganze Erde, vor ihm kann man nicht davonlaufen‹ – so steht es geschrieben.«

      Deborah aber antwortete, die Hand in die Hüfte gestemmt, über den Bund rostiger Schlüssel: »Der Mensch muss sich zu helfen suchen, und Gott wird ihm helfen. So steht es geschrieben, Mendel! Immer weißt du die falschen Sätze auswendig. Viele tausend Sätze sind geschrieben worden, die überflüssigen merkst du dir alle! Du bist so töricht geworden, weil du Kinder unterrichtest! Du gibst ihnen dein bisschen Verstand, und sie lassen bei dir ihre ganze Dummheit. Ein Lehrer bist du, Mendel, ein Lehrer!«

      Mendel Singer war nicht eitel auf seinen Verstand und auf seinen Beruf. Dennoch wurmten ihn die Reden Deborahs, ihre Vorwürfe zernagten langsam seine Gutmütigkeit, und in seinem Herzen züngelten bereits die weißen Stichflämmchen der Empörung. Er wandte sich ab, um das Angesicht seiner Frau nicht länger anzusehn. Es war ihm, als kannte er es schon lange, weit länger als seit der Hochzeit, seit der Kindheit vielleicht. Lange Jahre war es ihm gleich erschienen, wie am Tage seiner Heirat. Er hatte nicht gesehen, wie das Fleisch abbröckelte von den Wangen, schöngetünchter Mörtel von einer Wand, wie die Haut sich um die Nase spannte, um desto lockerer unter dem Kinn zu zerflattern, wie die Lider sich runzelten zu Netzen über den Augen und wie deren Schwärze ermattete zu einem kühlen und nüchternen Braun, kühl, verständig und hoffnungslos. Eines Tages, er erinnerte sich nicht, wann es gewesen sein konnte (vielleicht war es auch an jenem Morgen geschehen, an dem er selbst geschlafen und nur eines seiner Augen Deborah vor dem Spiegel überrascht hatte), eines Tages also war die Erkenntnis über ihn gekommen. Es war wie eine zweite, eine wiederholte Ehe, diesmal mit der Hässlichkeit, mit der Bitterkeit, mit dem fortschreitenden Alter seiner Frau. Näher empfand er sie zwar, beinahe ihm einverleibt, untrennbar und auf ewig, aber unerträglich, quälend und ein bisschen auch gehasst. Sie war aus einem Weib, mit dem man sich nur in der Finsternis verbindet, gleichsam eine Krankheit geworden, mit der man Tag und Nacht verbunden ist, die einem ganz angehört, die man nicht mehr mit der Welt zu teilen braucht und an deren treuer Feindschaft man zugrunde geht. Gewiss, er war nur ein Lehrer! Auch sein Vater war ein Lehrer gewesen, sein Großvater auch. Er selbst konnte eben nichts anderes sein. Man griff also sein Dasein an, wenn man seinen Beruf tadelte, man versuchte ihn auszulöschen aus der Liste der Welt. Dagegen wehrte sich Mendel Singer.

      Eigentlich freute er sich, dass Deborah wegfuhr. Jetzt schon, während sie die Vorbereitungen zur Abreise traf, war das Haus leer, Jonas und Schemarjah trieben sich in den Gassen herum, Mirjam saß bei den Nachbarn oder ging spazieren. Zu Hause, um die Stunde des Mittags, bevor die Schüler wiederkamen, blieben nur Mendel und Menuchim. Mendel aß eine Graupensuppe, die er selbst gekocht hatte, und ließ in seinem irdenen Teller einen erheblichen Rest für Menuchim übrig. Er schob den Riegel vor, damit der Kleine nicht vor die Tür krieche, wie es seine Art war. Dann ging der Vater in die Ecke, hob das Kind hoch, setzte es auf seine Knie und begann es zu füttern.

      Er liebte diese stillen Stunden. Er blieb gern allein mit seinem Sohn. Ja, manchmal überlegte er, ob es nicht besser wäre, wenn sie überhaupt zusammenblieben, ohne Mutter, ohne Geschwister. Nachdem Menuchim Löffel um Löffel die Graupensuppe verschluckt hatte, setzte ihn der Vater auf den Tisch, blieb hart vor ihm sitzen und vertiefte sich mit zärtlicher Neugier in das breite blassgelbe Angesicht mit den vielen Runzeln auf der Stirn, den vielfach gefältelten Augenlidern und dem schlaffen Doppelkinn. Er bemühte sich, zu erraten, was in diesem breiten Schädel vorgehn mochte, durch die Augen wie durch Fenster in das Gehirn hineinzusehen und durch ein bald leises, bald lautes Sprechen dem stumpfen Knaben irgendein Zeichen zu entlocken. Er nannte zehnmal hintereinander Menuchims Namen, mit langsamen Lippen zeichnete er die Laute in die Luft, damit Menuchim sie erblickte, wenn er sie schon nicht hören konnte. Aber Menuchim regte sich nicht. Dann ergriff Mendel seinen Löffel, schlug damit gegen ein Teeglas, und sofort wandte Menuchim den Kopf, und ein kleines Lichtlein flammte in seinen großen, grauen, hervorquellenden Augen auf. Mendel klingelte weiter, begann ein Liedchen zu singen und mit dem Löffel an das Glas den Takt zu läuten, und Menuchim offenbarte eine deutliche Unruhe, wendete den großen Kopf mit einiger Mühe und baumelte mit den Beinen. »Mama, Mama!« rief er dazwischen. Mendel stand auf, holte das schwarze Buch der Bibel, hielt die erste Seite aufgeschlagen vor Menuchims Angesicht und intonierte in der Melodie, in der er seine Schüler zu unterrichten pflegte, den ersten Satz: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.« Er wartete einen Augenblick, in der Hoffnung, dass Menuchim die Worte nachsprechen würde. Aber Menuchim regte sich nicht. Nur in seinen Augen stand noch das lauschende Licht. Da legte Mendel das Buch weg, blickte seinen Sohn traurig an und fuhr in dem monotonen Singsang fort:

      »Hör mich, Menuchim, ich bin allein! Deine Brüder sind groß und fremd geworden, sie gehn zu den Soldaten. Deine Mutter ist ein Weib, was kann ich von ihr verlangen. Du bist mein jüngster Sohn, meine letzte und jüngste Hoffnung habe ich in dich gepflanzt. Warum schweigst du, Menuchim? Du bist mein wirklicher Sohn! Sieh her, Menuchim, und wiederhole die Worte: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde …«

      Mendel wartete noch einen Augenblick. Menuchim rührte sich nicht. Da klingelte Mendel wieder mit dem Löffel an das Glas. Menuchim drehte sich um, und Mendel ergriff wie mit beiden Händen den Moment der Wachheit und sang wieder: »Hör mich, Menuchim! Ich bin alt, du bleibst mir allein von allen Kindern,

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