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durch den jüdischen Friedhof mindestens ebenso wie die eisige Kälte. Letztendlich geht es am Ende immer um einen selbst. Könnte ich mit so einem Jenseits leben? Der Glaube daran fällt mir ehrlicherweise nicht leicht. Wenn ich die ganze Zeit nachdenken muss, ob das, was ich gerade tue, gut oder schlecht ist und welche Auswirkungen es im Jenseits auf mich haben könnte, dann stehe ich gedanklich sozusagen schon mit einem Bein im Grab. Manchmal passiert das im Judentum ja wortwörtlich.

      Gegen das Vergessen

       Besuch im ehemaligen KZ Mauthausen

      Ich möchte die Formulierung »göttliche Fügung« nicht leichtfertig verwenden, aber es ist erstaunlich, wie Ereignisse zueinander passen. Ausgerechnet gestern hatte der Oberrabbiner in seiner Torastunde Antisemitismus als Thema gewählt, als wollte er mich auf meinen heutigen Tag so gut wie möglich vorbereiten, den Besuch in der Gedächtnisstätte KZ Mauthausen.

      Viel Schnee liegt in Mauthausen, als ich die Erinnerungsstraße zum Parkplatz hochfahre. Ich habe Angst vor dem, was mich in den nächsten zwei Stunden erwartet. Ich fürchte mich, mit diesem dunklen Kapitel österreichischer Geschichte konfrontiert zu werden. Ich war nie mit der Schule hier oder in einer ähnlichen Gedenkstätte, aber nun hole ich dieses Versäumnis nach. Im Eingangsbereich wartet Daniel Tscholl, ein langhaariger und bärtiger Mühlviertler, der mich in den nächsten zwei Stunden durch das ehemalige Konzentrationslager führen wird.

      Daniel und ich gehen zunächst den verschneiten Weg entlang, der außerhalb an den Gebäuden vorbeiführt. Nach 200 Metern bleiben wir stehen, Daniel öffnet seine hellbraune Umhängetasche und holt Fotos und Pläne aus den Jahren des Zweiten Weltkriegs heraus. Anhand dieser Unterlagen veranschaulicht Daniel eindrucksvoll, dass Mauthausen kein abgeschotteter Ort war, über den die Außenwelt nichts wusste. Zu Beginn verübten die Nazis in Mauthausen ihre Verbrechen tatsächlich hinter versteckten Mauern, aber schon bald haben sie diese nach außen geöffnet. Daniel erklärt mir das am Beispiel der Fußballmannschaft. 1943 wurde mitten im KZ ein Fußballplatz erbaut und die Mannschaft Mauthausen hat hier in der Oberösterreichischen Landesliga gespielt. Hunderte Fans sind jeden zweiten Sonntag vom Dorf raufgekommen, um bei Würstel und Bier die »beste Mannschaft, die Mauthausen je hatte«, wie ein Zeitzeuge von damals sagt, anzufeuern, während wenige Meter hinter dem Platz die KZ-Insassen im Krankenlager verstorben sind. Nichts war versteckt, das alles war gut sichtbar. Von der Tribüne aus hatte man einen guten Einblick auf das Krankenlager. Daniel zeigt mir auf der Karte, wo sich die Nebenlager in Gusen befunden haben. Mittlerweile sieht man davon schon lange nichts mehr, seit den 1950er Jahren wurden hier Wohnsiedlungen errichtet. Das führt mich zur Frage, ob ich an einem Ort wohnen würde, wo einst KZ-Gebäude standen. Daniel erzählt mir allerdings, dass ein KZ-Überlebender meinte, er findet es richtig schön, dass dort, wo einst so schreckliche Sachen passiert sind, heute Kinder spielen.

      Wir gehen weiter Richtung Steinbruch, der ein Grund dafür war, genau hier ein KZ zu errichten. Die Steinbrüche in Mauthausen und in Gusen befanden sich im Eigentum der Gemeinde Wien, daher hat der Steinbruch in Mauthausen auch den Namen »Wiener Graben«. Unmittelbar nach der im März 1938 erfolgten Besetzung Österreichs durch deutsche Truppen gab es eine Besichtigung dieser Steinbrüche von hohen SS-Leuten, an der Spitze Heinrich Himmler.

      Bereits im August 1938 wurden die ersten 300 Häftlinge aus dem KZ Dachau nach Mauthausen übersiedelt. Daniel holt nun ein Foto heraus, das die Nazis von der sogenannten Todesstiege gemacht haben. Es ist ein Beispiel der schmutzigen Nazi-PR. Ich sehe Menschen, die scheinbar schwere Lasten schleppen, aber alles scheint in Ordnung zu sein, niemand liegt am Boden, niemand wird misshandelt. Die traurige Wahrheit ist eine andere. Durchschnittlich elf Stunden dauerte der Arbeitstag, der im Sommer um 4:45 Uhr und im Winter um 5:15 Uhr begann. 4.600 Häftlinge wurden, wenn sie keine Kraft mehr hatten, auf der Todesstiege erschossen, erschlagen oder ertränkt, weitere 2.300 Häftlinge wurden unter der kalten Dusche zu Tode gequält und gefoltert. Der erste jüdische Häftling kam am 29. September 1939 aus dem Konzentrationslager Dachau ins KZ Mauthausen. Bis März 1944 sind in das KZ Mauthausen/Gusen aus allen europäischen Staaten zunächst jene jüdischen Häftlinge eingeliefert worden, die von der Geheimen Staatspolizei angeblich wegen eines politischen Delikts »in Schutzhaft« genommen wurden. In Summe waren das 3.000 Häftlinge, von denen nur drei überlebten. Im Zuge der Eichmann-Aktion »Endlösung der Judenfrage« wurden vom April 1944 bis Mai 1945 22.942 namentlich erfasste jüdische Kinder, Frauen und Männer und etwa 10.000 namentlich nicht erfasste vorwiegend Budapester Juden ins KZ Mauthausen gebracht. Insgesamt haben bis zur Befreiung in den ersten Maitagen 1945 durch die US-Armee mindestens 103.000 Menschen aus allen europäischen Staaten im KZ Mauthausen und seinen Nebenlagern auf grausame Weise ihr Leben verloren. (Quelle: Mauthausen Komitee, Zirkusgasse 3/5/1, 1020 Wien)

      Daniel und ich stehen mittlerweile in einer der damaligen Baracken und er erzählt vom täglichen Kampf um Brot, vom Leben auf engstem Raum, von den Quälereien der Kapos (KZ-Aufseher). Wir sprechen über den Verlust der menschlichen Würde, die dann selbst aus vielen guten Menschen Unmenschen machte. Die schwierigsten Orte im Memorial KZ Mauthausen stehen mir aber noch bevor: die ehemalige Gaskammer und die Verbrennungsöfen im Krematorium. Daniel zeigt mir das ehemalige Büro von SS-Hauptscharführer Martin Roth, der als Kommandoführer des Krematoriums hauptsächlich die Vergasungen durchführte und Listen darüber anfertigte. Nach jedem seiner Arbeitstage wusch er sich die Hände, fuhr in den Ort Mauthausen und aß mit seiner Familie zu Abend. Der Anblick der Verbrennungsöfen und der Duschhähne, verbunden mit dem Bewusstsein, was hier passiert ist, lässt mich verschämt zu Boden blicken. Ich merke, wie ich in manchen Momenten mit den Tränen kämpfe. Wir verlassen diese so traurigen Räume, es ist bitterkalt draußen. Was ist es nur für ein unsagbares Glück, dass ich Jahrzehnte später in einer warmen Winterjacke und Winterschuhen diesen Rückblick in die dunkle Vergangenheit machen kann und nicht selbst in ihr leben muss.

      Wie so viele, denen die Gnade der späten Geburt zuteilwurde, möchte ich mir nicht anmaßen, zu sagen, wie ich mich verhalten hätte. Ich bin einfach nur froh, dass ich mich dieser Frage nicht stellen musste. Und ich habe einen riesigen Respekt vor allen, die Kraft und Mut genug hatten, um Widerstand zu leisten, auch wenn viele davon diesen Mut mit dem Leben bezahlt haben. Wir Nachkommen müssen von dieser Geschichte lernen. Diese Erinnerungen hochzuhalten wird immer schwieriger, vor allem, da uns auch bald die letzten Zeitzeugen abhandenkommen werden. Ich war immer der Meinung, dass ein ähnlich schreckliches Regime wie jenes der Nazis nie wieder möglich sein würde, aber je älter ich werde und je mehr ich aktuelle Entwicklungen verfolge, umso mehr fühle ich mich an diese schreckliche Vergangenheit erinnert, umso unsicherer werde ich. Wie Daniel am Anfang sagte, es passierte nicht nur hier, an einem isolierten Ort, wo der Rest der Welt nichts davon mitbekam. Nein, die Nazis waren während des Zweiten Weltkriegs wohl selbst überrascht, dass all ihre Gräueltaten so reibungslos durchgingen.

      Beeindruckt, verwirrt und verstört steige ich ins Auto und fahre die Erinnerungsstraße zurück Richtung Autobahn. Die Gebäude des ehemaligen KZ Mauthausen verschwinden langsam im Rückspiegel, die Erinnerung an meinen Besuch wird bleiben. Viele Bilder werden mich in kommenden Nächten in meinen Träumen einholen.

      Ich war dann mal Jude

       Die Bilanz

      »Bahur Tov« heißt guter Junge. So heißt auch das koschere Lokal in der Taborstraße 19 im 2. Wiener Gemeindebezirk, in dem ich mein Finale als Jude mit meiner Freundin und meiner kleinen Tochter begehe. Bei einem Teller mit Gemüse, Salat und Humus sowie einem Hühnerspieß und einem gespritzten koscheren Wein ziehe ich Bilanz. Was bleibt? Was hat mich geprägt? Woran bin ich gescheitert? War ich ein guter Junge im Judentum?

      Vor allem freue ich mich, dass ich meinen Monat im Judentum durchgezogen habe. Das koschere Essen habe ich mit ein paar Kompromissen gut gemeistert. Daheim wurden Fleisch und Milch strikt getrennt, das eigens dafür angeschaffte Geschirr wurde nicht entweiht. Dafür hat vor allem Heidi gesorgt, das Thema koscheres Essen habe ich schleichend an sie abgegeben, ich hätte wahrscheinlich irgendwann den Überblick verloren. Ich habe auch kaum jemals zuvor einen Monat lang so wenig Fleisch gegessen wie in diesem. Da ich im Jänner viel unterwegs war, habe ich das Essen, das ich nicht daheim gegessen habe, vegetarisch gestaltet. So ging ich sicher, dass ich kein nicht

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