Скачать книгу

einander angenähert.

      Grundlegend ist Dissoziation, sowohl in der Chemie als auch (neuro)biologisch und psychologisch, ein Vorgang in einem Spektrum. Die Psychologie betreffend gibt es Modelle verschiedener Spektren, die je als Dissoziation bezeichnet werden, aber unterschiedlicher Natur sind. Allerdings kommen meist mehrere bei Traumatisierung vor, jedoch das der strukturellen Dissoziation ausschließlich als Folge von Traumata.

       5.1 „Alltags-Dissoziation“

      In Spektren gibt es immer zwei Extreme, die nicht unbedingt klar definiert sein müssen, und ganz viel zwischendrin, ohne dass es immer klar zu trennen ist. Es gibt verschiedenste Formen, deren verschiedenes Auftreten ich unten ausführe. An einem Ende des ersten Spektrums gibt es „normale“ bzw. „nicht pathologische“ Formen der Dissoziation, die in allen Menschen ablaufen. Doch auch in diesem Spektrum gibt es Bereiche, die wir als „krankhaft“ bezeichnen, am anderen Ende eben.

      Nicht pathologisch sind z. B. intensive Tagträume oder andere Verluste der Aufmerksamkeit, während derer alles per „Autopilot“ abläuft und du danach nicht weißt, was und wie du konkret gehandelt hast. So auch das „Versinken im Moment“, beispielsweise im Spiel, wie es Kinder so gut können, und den Rest der Welt „vergessen“ bzw. abspalten. Von außen wirkst du zwar nicht verändert, du befindest dich nur in einem anderen Bewusstseinszustand: Du bist nicht bewusstlos oder hast auch nicht unbedingt die Augen geschlossen, als wärst du eingeschlafen. Vielleicht kennst du dies von Wegen, die du regelmäßig gehst oder fährst. Auf einmal bist du zu Hause und hast gar nicht wahrgenommen, dass du weitergegangen oder -gefahren bist, weil du in Gedanken versunken warst, wobei diese Gedanken nach dem „Aufwachen“ im Hier-und-Jetzt meist auch nicht mehr klar greifbar sind. Ein Kind, das sorglos im Spiel versunken war, fragt dann: „Waas? Ist es schon vorbei? Neeein. Ich habe doch gerade erst angefangen.“ – Genau so fühlt es sich an, weil die Zeit „zwischendrin“ quasi nicht zählt. Ähnlich ist es auch, wenn du beispielsweise eine monotone Aufgabe verrichten musst oder einer Vorlesung zuhörst, für die dir das Interesse oder die Konzentration oder auch beides fehlt. Es passiert, ohne dass du es bemerkst, dann erwachst du aus deiner Langeweile-Müdigkeits-Trance und wunderst dich, dass die Vorlesung schon vorbei ist. Oder du hast morgens in die Luft gestarrt, warst noch nicht ganz im Tag angekommen, und erschrickst heftig, wenn du die Uhr siehst, weil es plötzlich so spät geworden ist. – Genau wie die Kinder verlässt auch dich, als erwachsene Person, in solchen Zuständen das Zeitgefühl. Das ist eine gute Art, um zwischendurch abzuschalten, und auch, um sich auf Wesentliches konzentrieren zu können, also Unwichtiges zu dissoziieren, damit die Energie für das, was wir benötigen, genutzt wird. Ein entscheidender Unterschied zur Dissoziation als Reaktion auf ein Trauma ist hier, dass dabei der Parasympathikus kein Hypoaraousal, welches den Organismus auf den Tod vorbereitet, herstellen muss. Sondern, aus einem grundlegend bestehenden Sicherheitsgefühl heraus, das Erregungsniveau sehr niedrig ist. Du befindest dich hierbei eben nicht in einer Gefahrensituation, sondern eher gegenteilig in einem fokussierten, auf der Schwelle zum Unterbewusstsein, oder entspannten, meditativen oder auch „dösigen“ Zustand.

      Auch das Gefühl, in einer unechten Welt zu leben, in Irrealität, dass alles, was wir empfinden, nicht stimmt, dass es uns in dieser Welt eigentlich gar nicht gibt, ist ein Abspalten des Hier-und-Jetzt, weil es nicht auszuhalten ist, da zu sein. Das ist die sogenannte Derealisation. Für mich war das eine Zeitlang, oder ist es in Überforderungssituationen immer noch, „normal“, während „echte“ und sehr intensive Empfindungen eher außergewöhnlich sind.

      Was in der Theorie gerne vergessen wird, ist, das die praktischen Auswirkungen für uns mehr sind, als Nebel und Fremdgefühl. Für uns kommt es durch die empfundene Distanz und den nebligen Schwindel auch zu Fehlwahrnehmung, diesbezüglich in Form von Fehleinschätzungen. Wir wissen also nicht, wie schwer etwas ist, und heben es dann entweder mit zu viel Schwung an oder brauchen einen zweiten Versuch mit mehr Kraft. Ähnlich ist es mit Abständen, bspw. dem zwischen Bein und Tischkante, oder die Höhe von Treppenstufen, was zu einem Vor-sich-hin-Stolpern führen kann. Ich weiß, dass manche von uns eine Zeitlang nicht einschätzen konnten, wie hoch sie die Füße ziehen müssen, damit diese beim Laufen nicht über den Boden schlurfen. Das Schlurfen haben wir aber auch nicht mitbekommen, sodass ein Lehrer damals immer wieder raunte: „Jetzt heb doch mal deine Füße richtig an.“ – Was? Meine Füße? Das sind nicht meine. Das sieht nur so aus. Wenn wir also im Außen kaum etwas wahrnehmen, oder das wenige als surreal, oder auch im Tunnelblick auf etwas schauen, und es nichts mehr gibt, alles irgendwie ganz weit weg ist, dann ist das das andere Ende des Spektrums. Denn es ist vielleicht noch mit Humor zu nehmen, wenn eine Person aus Müdigkeit Löcher in die Luft starrt, ohne mitzubekommen, dass Witze über sie gemacht werden. Es kann aber „pathologisch“ werden, wenn dies mehrere Stunden am Tag und über längere Zeit der Fall ist oder, wie in unserem Fall, ein solcher Zustand nicht einfach so „aufgelöst“ werden kann. Wenn wir nicht mit: „Hey, guten Morgen“ rausgeholt werden können, aber auch nicht mit Eispackungen oder einfacher Ansprache, und am wenigsten von allein. Derealisation oder Depersonalisierung sind Phänomene, die neben den Traumafolgen in verschiedenen Krankheitsbildern (u. a. Angststörungen, Depressionen, Suchterkrankungen) auftreten und nicht zwangsläufig mit einem Trauma zu tun haben. Auch können sich dissoziative Symptome körperlich äußern bspw. in Bewegungsstörungen und Krampfanfällen, die von außen einem Grand mal gleichen. So ist zunächst nicht leicht zu unterscheiden, ob sie traumabedingter dissoziativer Natur sind oder nicht. Im Falle von dissoziierten Persönlichkeitsanteilen, also einer komplexen/ausgeprägten dissoziativen Störung, nicht „nur“ einzelnen dissoziativen Symptomen, leiden dann aber nur einzelne Anteile, wenn sie draußen sind, unter dieser Symptomatik, andere nicht.

       5.2 Dissoziation im Trauma

      Auch in einer traumatischen Situation ist Dissoziation eine normale Reaktion unseres Organismus, der tut, was er tun soll, um Unerträgliches zu ertragen. Die Aktivierung des Parasympathikus hat auch biologisch praktische Folgen, wenn bspw. bei einer Verletzung der Blutverlust reduziert wird, indem Blutdruck und Puls sinken. Es gibt verschiedene (Arbeits-)Modelle, um Strukturen und Komplexität von Dissoziation zu unterscheiden. Das wohl bekannteste ist das der Strukturellen Dissoziation auf Grundlage oder in Kombination mit der „Janetian psychology of action“: Das Abspalten von „action systems“, also Persönlichkeitsanteilen, in drei Stufen (primäre, sekundäre, tertiäre Dissoziation). Dieses Modell beschreibt quasi unsere Zerbröselung als Persönlichkeits-System, welche in Kap. 3 mehr beschrieben ist.

      Zunächst zu den verschiedenen Möglichkeiten, Elemente zu trennen. Wenn wir uns an Dinge „erinnern“ (die Anführungszeichen, weil es für mich kein Erinnern ist, da mir die Inhalte ja zunächst neu sind, obwohl Flashbacks meist „Wiedererinnern“ genannt werden), kann es geschehen, dass wir zwar brutale Bilder sehen, wir aber keinerlei Gefühle dazu empfinden. Wenn also solche Bilder ins Bewusstsein kommen und es einfach noch keine Verbindung zwischen diesen Elementen gibt, ist die Emotion noch weiter/tiefer/stärker dissoziiert. Die Emotion wird von einem anderen Anteil getragen, der uns zunächst nicht oder eben nicht automatisch gleichzeitig zugänglich ist. Möglich, dass dieser Anteil nur Empfindung trägt und ein anderer die sachliche Erinnerung dazu, oder dass dieses Material einfach nur Schritt für Schritt integriert werden kann. Beobachtbares ist also vom Gefühlsleben getrennt, wodurch die Erinnerungen so fremd oder surreal sind. Ebenso können körperliche Schmerzen von Beobachtung abgespalten sein oder Gefühle von ihrer Bewertung.

      Diese Abspaltungen finden nur statt, weil ein Erlebnis zu überwältigend ist, als dass wir ausreichende andere Bewältigungsmöglichkeiten hätten, um damit umzugehen. Eine Fragmentierung (siehe unten) ist, weil die erfolgreiche Integration ja blockiert ist, für das Überleben aber sehr sinnvoll. Wenn uns nämlich schon kleine Teile reichen, um Lebensgefahr zu erkennen, können wir umso schneller reagieren. Und wenn wir bei Wiederholungen einzelne Instanzen bilden, die jeweils für eine Alarmreaktion ausgebildet werden, können wir extrem schnell und effektiv handeln – was alles unbewusst passiert. Das Ausbilden von Mustern passiert immer und bei allen,

Скачать книгу