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wem kommt er zugute? Wird er überhaupt betrachtet, gefeiert, zelebriert oder ignoriert?

      Nach Betrachtung der Systemstruktur und der Systemprozesse kommen noch vier typisch systemische Perspektiven hinzu. Befinden sich die verschiedenen Kraftfelder in einem System in einer Balance? Dies kann man sich beispielsweise am System zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften ansehen. Mal kann einer Erfolge vorweisen, mal muss er Rückschläge eingestehen. Sie verhandeln so lange, bis für beide Systeme die Balance stimmt. Man kann für lebende Systeme eine Gleichgewichtstendenz annehmen, die aus ihrem Streben nach Selbsterhalt folgt (»Homöostaseprinzip«). Organisationssysteme, zu denen man eine auf Rechtsgrundlagen beruhende Wirtschaft zählen kann, können widerstreitende Impulse, Interessen- und Zielrichtungen unter einem Dach vereinen (Simon 2007).

      Interessant ist auch zu beobachten, in wieweit sich gleichartige Prinzipien in verschiedenen Teilsystemen wiederholen. Dies nennt man Rekursivität. Wenn in einem Wirtschaftssystem gleichermaßen transparente wie an anderer Stelle korrupte Prinzipien gelten, ist die Rekursivität niedrig. Auch die relativ geringe Ausprägung demokratischer Prinzipien in der Wirtschaft im Gegensatz zur Macht des Geldes – beispielsweise bei gerichtlichen Auseinandersetzungen – ist eine Einschränkung von Rekursivität. Sind die Prinzipien in verschiedenen Teilsystemen eines Systems ähnlich, sind die Vorhersagbarkeit besser und die Transaktionskosten geringer. Stafford Beer hat diese Sichtweise in seiner »viable systems theory« zuerst beschrieben (Beer 1994). Ein Beispiel sind auch Steuergesetze. Sie können rein klientelbezogen, etwa bei der Mehrwertsteuersonderregelung durch die schwarz-gelbe Regierung für das Hotel- und Gaststättengewerbe in 2009, formuliert sein oder generell für alle gelten.

      Und dann noch die Frage: Wie reagieren Wirtschaftssysteme an ihren äußeren Grenzlinien? Wie also koppeln Teilsysteme an andere an oder grenzen sich von ihnen ab? Für menschliche Arbeitskräfte gibt es Einwanderungsbedingungen, für Kapital hat man noch keine Auffanglager gegründet, so resümiert Fritz Simon in seiner »systemischen Wirtschaftstheorie«. Diese »Äußere Pulsation« ist ein Beispiel für Offenheit oder Geschlossenheit des Systems.

      Die »Innere Pulsation« betrachtet, wie sich in einem System Subsysteme entsprechend den technologischen und gesellschaftlichen Herausforderungen entwickeln. Beispielsweise ändert sich die Nahversorgung in vielen entwickelten Ländern. Kleine Lebensmittelläden in Fußwegnähe, die den täglichen Bedarf decken, verschwinden und es entstehen nur mit dem Auto erreichbare Einkaufszentren.

      Die Pulsationen, das heißt die Dynamiken an den Grenzlinien von Systemen, sind im Zeitalter der Globalisierung für wirtschaftliche Systeme von hoher Bedeutung. Pulsation ist dann optimal, wenn angemessene Offenheit, Durchlässigkeit und kooperative Beziehungsgestaltung an äußeren und inneren Grenzlinien vorliegt. Nicht wünschenswert sind völlige Durchlässigkeit oder auch Abschottung gegen äußere Impulse.

      Insgesamt gibt es in der Betrachtung von Systemen eine Sehnsucht der Menschen, das Komplexe möglichst zu vereinfachen. Nicht wenige wirtschaftstheoretische Ansätze erliegen aber auch gerade hier der Versuchung einfacher – oder zu einfacher – Lösungen. Manchmal wird aber erst durch die Erfassung der Komplexität die Wirklichkeit erfahrbar. Die systemische Perspektive ist eine frei gewählte Aufmerksamkeitsrichtung. Dieses Buch ist eine Einladung zu einer systemischen Sichtweise auf die Wirtschaft.

      Die erste Anwendung der systemischen Wirtschaftsanalyse gilt der Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2008. Systemisch auf die Wirtschaft zu schauen, bedeutet ihre Dynamiken zu erkennen. Die grundlegende systemische Perspektive ist die Aufmerksamkeit. Nicht zuletzt durch den Einfluss der Lobbyisten gab gerade diese Krise ein interessantes Beispiel für die Verschiebung der Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit ist das wichtigste Steuerungsprinzip in Humansystemen.

      Im Laufe der Finanzkrise ist es den Akteuren gelungen, die Aufmerksamkeit zu verschieben. Aus einer von den Banken verursachten Finanzkrise wurde immer mehr eine Staatsschuldenkrise. In einem schleichenden Prozess wurden der Staat und die Gemeinwesen, die unbeabsichtigt in die Retterrolle geraten waren, zur Krisenursache (»Staatsverschuldung«) erklärt. Aus dem Retter wurde das Opfer. Die Gläubiger und die Eigner der Finanzinstitute wurden nicht zur Kasse gebeten. Angefangen hatte allerdings alles mit dem Fehlverhalten der Banken. Die Staaten und überstaatlichen Institutionen kamen unfreiwillig in die Rolle eines mächtigen Wirtschaftsakteurs.

      Seit 2008 hängt nun die Wirtschaft gefühlt am seidenen Faden. Sie erscheint wie in einem großen Feldforschungslabor mit immer neuen Ereignissen. Was früher undenkbar war, etwa ständiges Fluten der Geldmärkte mit großer Liquidität, wird weltweit entgegen der vorher herrschenden volkswirtschaftlichen Lehrmeinung dauerhaft praktiziert. Gleichzeitig ist Unsicherheit ein beherrschendes Thema. Drohende Zusammenbrüche von Wirtschaftsakteuren und skandalöse Rechtsvergehen (Libor-Absprachen, Bilanzfälschungen, Veruntreuung von Anlagegeldern) reihen sich im Rhythmus weniger Monate aneinander. Es waren Wirtschaftsszenarien, die bis dahin kaum jemand für möglich gehalten hatte: Eine der größten Banken der Welt, die Lehman Brothers Bank, geht Pleite und die Auswirkungen werden sofort überall auf der Welt spürbar. Sogar die deutschen Spargelder scheinen in Gefahr. Nur durch das beherzte Eingreifen von Bundeskanzlerin und Finanzminister und deren – allerdings uneinlösbares Versprechen – die Spareinlagen seien sicher, wird Schlimmeres vermieden. Die Lehman-Pleite löste einen Beinahe-Zusammenbruch des Bankensystems und damit des Wirtschaftssystems aus. So nah am Crash war man seit den dreißiger Jahren nicht mehr.

      Die Volkswirtschaften reagierten mit der Verstaatlichung großer Teile ihrer Bankenindustrie. An dieser Stelle tauschten Staat und private Unternehmen ihre Rollen. Rollen sind die zweite systemische Dynamik und sind nach der Aufmerksamkeit eine grundlegende und wesentliche Perspektive in jedem System. In der Wirtschaft ist entscheidend, wer über wirtschaftliche Güter verfügt. Es geht um Fragen wie: Gibt es Privateigentum? Wie ist die Eigentümerrolle genau ausgestaltet (»Sozialverpflichtung des Eigentums«)? Im heute immer noch laufenden Feldexperiment »Bewältigung der Finanzkrise« trat der Staat plötzlich in die Eigentümerrolle wichtiger großer Banken wie der Commerzbank, nahm aber die Managementrolle nicht wahr. Die beließ man bei den Bankern. So entstand eine Vergesellschaftung des Risikos ohne wirkliche Übernahme der Verfügungsgewalt. Die Staaten fühlten sich aber verpflichtet, die Banken aufzufangen. TINA (»There Is No Alternative«) hieß das Aufmerksamkeitslenkungsprinzip. Die Banken wurden für die Aufrechterhaltung des gesamten Systems gleichermaßen als notwendig wie für unfähig erklärt. Sie waren unfähig, sich selbst zu heilen. Andererseits hieß es, sie seien »systemrelevant«. Der Begriff »systemrelevant« kam auf, weil man zu diesem Zeitpunkt Angst hatte, sich Wirtschaft anders vorzustellen.

      Auch entgegen der bis kurz vorher herrschenden wirtschaftswissenschaftlichen Lehre des Neoliberalismus wurden riesige Konjunkturprogramme zur Rettung der Wirtschaft eingesetzt. Ein Beispiel war die »Abwrackprämie« für Autos eines bestimmten Alters. Der Staat unterstützte die Haushalte und Unternehmen in ihrer Rolle als Nachfrager im Wirtschaftskreislauf. Zudem kauften die Zentralbanken in ungeahntem Ausmaß eigene Staatsanleihen auf, um diesen Markt zu stabilisieren und Liquidität in die Wirtschaft zu pumpen. Früher hat man das »Geld drucken« genannt. Die Programme kosten sehr viel Geld und haben die Durchschnittsverschuldung in Europa von 70 auf 100 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) erhöht. Festzuhalten bleibt, dass der Staat in dieser Situation von seiner Rolle als Rahmengeber und Normengestalter zu einem aktiven Teilnehmer in der Finanzindustrie wurde.

      Die systemische Analyse schaut auch auf die Beziehungen in einem System. Die Beziehungen zwischen den Entscheidern in Politik, Finanzwirtschaft, Realwirtschaft und der Öffentlichkeit schienen sich zu wandeln. Das Vertrauen, eine Grundlage für Beziehungen, ist in wirtschaftliche Institutionen deutlich geschwunden.

      Insbesondere die Finanzwirtschaft stand in der bisherigen Form in Frage. Zudem gab es kaum Manager und Entscheider, von denen Aussagen zu hören waren, sie hätten falsch entschieden oder es täte ihnen irgendetwas leid. Man verfuhr im Sinne von Helmut Kohls Maxime, der einmal gesagt haben soll: Wir machen keine Fehler, aber es gibt manchmal Fehleinschätzungen. Eine

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