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die Freiheit nehmen, sich nicht überlegen zu müssen, ob sie sich auf die Beziehung, den Prozess der kreativen Anpassung, die Feld-Theorie-Perspektive oder die Ko-Kreation von Symptomen konzentrieren »sollte«. Diese Konzepte der gestalttherapeutischen Theorie sind die wertvollsten Leitlinien für GestalttherapeutInnen. Wenn wir sie jedoch verpflichtend und starr einsetzen, werden auch sie zu integrierten Introjekten. Wir können sie einen Augenblick lang ausklammern, um die Vorteile der symptomatischen Perspektive zu nutzen.

      Die TherapeutIn kann bewusst eine symptomatische Perspektive einnehmen, um sich auf die Störungen und dysfunktionalen Aspekte in der Funktionsweise der PatientIn zu konzentrieren. Der Vorteil eines solchen Ansatzes ist, dass die TherapeutIn ein klares und deutliches Bild von den riskanten und einschränkenden Merkmalen bekommt, die das Leiden der PatientIn kennzeichnen (z. B. suizidale Tendenzen, abhängiges Verhalten, Traumatisierung). Metaphorisch gesagt erhält die TherapeutIn ein grundlegendes Bild des Gebiets, das sie mit der PatientIn bereisen wird. Es ist eine Landkarte, die die gefährlichen Schluchten und Sümpfe und andere Fallen beschreibt, mit denen man dort rechnen muss. Wie die Reise vonstatten geht und welche Ausrüstung dafür nötig ist, hängt vom jeweiligen Gebiet ab. Aus diesem Grund bietet diese Perspektive große Vorteile bei der Ersterhebung (siehe z. B. Brownell 2010a; Joyce / Sills 2006), beim »Kartieren« einer kritischen Situation (z. B. Trauma oder Alkoholabhängigkeit) oder bei der Beobachtung eines Risikos (siehe auch Kapitel 17, Einschätzung des Suizidrisikos).

      Die TherapeutIn richtet ihr Augenmerk bewusst auf die Beobachtung von Symptomen.17 Aus der individualistischen Sicht der symptomatischen Perspektive beobachtet die TherapeutIn die individuelle Persönlichkeitsstruktur und die Kausalität in der Funktionsweise der PatientIn: Was hat zur Entstehung eines Symptoms geführt oder dazu beigetragen (Ätiogenese) und wie haben sich die Symptome entwickelt (Pathogenese)? Die TherapeutIn diagnostiziert die Symptome möglichst exakt und sucht kritisch und gründlich nach den Elementen, die für die PatientIn nicht auf gesunde Weise funktionieren. Dabei wendet sie ihr Wissen von der allgemeinen medizinischen Psychopathologie und von theoretischen Modellen des Gestaltansatzes (und möglicherweise von anderen psychotherapeutischen Systemen) an, um die Probleme der PatientIn zu erfassen und zu benennen. Sie formuliert Arbeitshypothesen, wie die Probleme entstanden sind und wie sie aufrechterhalten werden.

      Das Risiko liegt hier in der möglichen Annahme der TherapeutIn, sich das einzige und endgültige Bild vom Leiden der PatientIn gemacht zu haben. Sie muss sich der Subjektivität und der Grenzen ihrer »Symptom«-Diagnose bewusst sein und ihre Gedanken auch durch den Dialog mit der PatientIn validieren. Folgende Fragen an die PatientIn könnten den Interventionen der TherapeutIn zugrunde liegen: »Was macht Ihnen am meisten Sorgen?«, »Welche Diagnosen haben Sie in der Vergangenheit erhalten und was denken Sie darüber?«, »Warum, meinen Sie, haben Sie diese Probleme? Wie verstehen Sie die Situation?«

      Alice beginnt eine Therapie, weil sie sich Sorgen macht, dass sie möglicherweise alkoholabhängig ist. Im Dialog mit dem Therapeuten wird klar, dass Alice Alkohol trinkt, wenn sie große Anspannung und Angst verspürt. Wenn die Anspannung nicht so groß ist, schafft sie es auch mehrere Wochen ohne Alkohol. Alices Anspannung ist im letzten halben Jahr stetig gestiegen. Sie hat Angst, dass etwas Schlimmes mit ihrer geistigen Gesundheit passiert. Es gibt Momente, in denen sie schreckliche Angst davor hat, verrückt zu werden. Sie fürchtet, es könnte der Anfang einer psychotischen Erkrankung sein.

      Der Therapeut akzeptiert die Perspektive, aus der die PatientIn ihr Leiden betrachtet, um ein Arbeitsbündnis mit ihr zu schließen. Er nimmt freiwillig die symptomatische Perspektive ein (es ist ihm bewusst, dass es sich dabei nur um eine von vielen möglichen Perspektiven handelt), weil es die Perspektive ist, die die PatientIn im Moment einnimmt. Durch eine Einschätzung des Leidens bekommt der Therapeut auch die Orientierung, die er braucht, um die spezifische Art von Unterstützung zu ermitteln, die die PatientIn braucht.

      Der Therapeut und Alice »kartieren« gemeinsam Alice’ aktuelle Schwierigkeiten. Angst, Anspannung und Sorge scheinen für sie die drängendsten Probleme zu sein. Der Therapeut erklärt Alice, dass in Zeiten extremer Angst oft die Sorge aufkommt, verrückt zu werden, dass dies jedoch nicht zu einer psychotischen Erkrankung führt. Sie finden gemeinsam heraus, dass das Trinken von Alkohol die Anspannung reduziert und für sie überlebbar macht. Alice beruhigt sich sichtlich, sie kann ihre Ängste bezüglich der Psychose beiseitelegen. Gemeinsam mit dem Therapeuten fokussiert sie sich mehr auf ihr Erleben von Anspannung und Angst. Sie erkunden, wann die Anspannung auftaucht, wann sie sich zur Panik auswächst. Gleichzeitig beleuchten sie, unter welchen Umständen sie nachlässt und was Alice dabei hilft, weniger Anspannung zu verspüren.

      3.6.2. Kontextuelle Perspektive: Fokus auf Rollen und Interaktionen

      Im Dialog mit dem Therapeuten bemerkt Alice, dass ihre Anspannung mit der großen Verantwortung zusammenhängt, die sie für die Dinge übernimmt, die sie nicht beeinflussen kann. Sie sitzt zum Beispiel in einem Bus und verkrampft sich, wenn sie sieht, wie ein Fahrradfahrer das grüne Licht an einer Kreuzung erwischt. Sie stellt sich sofort all die Komplikationen vor, die auf der Kreuzung möglicherweise auftreten könnten. Gleichermaßen übernimmt sie auch Verantwortung für die Mitglieder ihrer Familie (ob ihr Ehemann pünktlich zur Arbeit kommt, welche Noten ihrer Tochter in der Schule bekommt…). Alice ist überzeugt, dass diese Verantwortung Teil ihrer Rolle als Mutter ist. Sie kümmert sich um ihren Ehemann und ihre Tochter und sie helfen ihr nicht im Haushalt. Wenn sie alleine zuhause ist, wird die Anspannung größer und eskaliert in einer Panik. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen sie mit Freunden in eine Weinbar geht, wird die Anspannung jedoch geringer (der Alkohol hilft auch hier). Wenn sie mit ihren Freunden zusammen ist, schüttelt sie für eine Weile das Bild ab, wie eine Mutter sich benehmen sollte.

      Die Diagnose wird zu einem Pfad, auf dem die TherapeutIn die PatientIn begleitet und in dessen Verlauf das Erleben des Leidens erkannt, benannt und (mit-)geteilt wird. Das Erleben wird verortet und erhält eine Bedeutung. Von einer Definition, die mehr oder weniger unpassend und von außen zugewiesen erscheinen mag, z. B. »Panikattacke«, bewegen sich TherapeutIn und PatientIn auf eine gemeinsam erzählte Geschichte zu, durch die sich die Bedeutung und Relationalität eines erlebten Leidens herausbildet. In unserem Beispiel ändert der Therapeut freiwillig und bewusst den Fokus, als er die klinische Situation beobachtet. Er hilft der Patientin herauszufinden, in welchem Kontext ihre Schwierigkeiten auftreten. Der Therapeut verlässt die symptomatische Perspektive und betrachtet die Patientin und ihre Situation aus der kontextuellen Perspektive.18 Mit dieser Perspektive übernimmt der Therapeut eine systemische Sichtweise, die sich mit zirkulärer Kausalität beschäftigt. Die Symptome treten innerhalb von Systemen der Beziehungen auf, die die PatientIn zu anderen Menschen hat, wirken aber auch auf diese Systeme zurück. Eine Diagnose aus der kontextuellen Perspektive macht deutlich, wie die PatientIn in unterschiedlichen Systemen (der Ursprungsfamilie und der aktuellen Familie, dem Beruf usw.) in der Vergangenheit funktioniert hat und immer noch funktioniert. Sie bezeichnet die Rollen, die die Phänomenologie der PatientIn in ihren Beziehungen gespielt hat.

      Eine Erörterung der kontextuellen Perspektive mag GestalttherapeutInnen überflüssig vorkommen, da es doch eine Feldtheorie gibt. Es ist jedoch wichtig, die beiden voneinander zu unterscheiden, um von beiden profitieren zu können.19 Zwischen der Beschreibung einer »Interaktion zwischen einem Menschen und der Welt« und eines »interaktionellen Mensch-Welt-Ganzen« (Wollants 2008) gibt es einen Unterschied. Aus der kontextuellen Perspektive kommt PatientIn, TherapeutIn und »Symptomen« eine Rolle in einem System zu. Aus der Feld-Theorie-Perspektive sind sie jedoch Funktionen des Felds. Wenn wir sagen: »Die PatientIn projiziert ihre Angst auf mich«, beschreiben wir die Situation aus der kontextuellen Perspektive, wir konzentrieren uns auf einzelne Elemente, die in einem System interagieren. Solch eine Beschreibung kann hilfreich sein, weil sie dem Erleben der TherapeutIn Bedeutung verleiht. Dennoch muss die TherapeutIn im Hinterkopf behalten, dass es auch eine Feld-Theorie-Perspektive gibt, aus der projizierte Angst eine Funktion des Feldes ist, das im Hier und Jetzt ko-kreiert wird. Das Symptom, die PatientIn und die TherapeutIn sind Teile eines Prozesses, in dessen Verlauf sich diese drei Elemente gegenseitig definieren.

      Aus der kontextuellen Perspektive fragt die TherapeutIn: Welche Rolle spielt die Phänomenologie der PatientIn?

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