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wie z. B. »Ich weiß nicht, welcher Teufel mich da geritten hat, dass ich das getan habe« oder »Wie um Himmels Willen bin ich in diese Situation geraten?« führten dazu, dass sich immer mehr das Thema des freien Willens in meinen Wahrnehmungs-Vordergrund schob. Das hatte zur Folge, dass ich mich nun intensiv mit der neuesten Gehirnforschung und mit dem uralten Streitthema zwischen Deterministen und Verfechtern des freien Willens beschäftigte. Die Auseinandersetzung mit den neurobiologischen, philosophischen und psychologischen Erkenntnissen, mit der Literatur aus nicht-westlichen Kulturen und vor allem auch meine praktischen Erfahrungen aus Therapie und Coaching veränderten allmählich mein Menschenbild.

      So hat jeweils ein Thema ein neues generiert, und immer wieder entstand dadurch die Notwendigkeit und Lust, erst eine Unmenge von Literatur zum jeweiligen Thema zu lesen. Aus der Überlappung all dieser Themen und ihrem ständigen Überprüfen in der Praxis hat sich in mir allmählich ein sehr ganzheitliches Verständnis darüber herausgebildet, was Menschen im Innersten bewegt und wie sie von äußeren Kräften beeinflusst werden.

      Ich erkannte eine bisher völlig übersehene Bedeutung der psychischen Grundbedürfnisse. Bedürfnisse, abgesehen von den körperlichen, werden ja häufig mit der Assoziation von ›Bedürftigkeit‹ gedeutet. In vielen Philosophien und Religionen wird die Askese, also das Unterdrücken oder Befreien von Bedürfnissen als Tugend gesehen. Ich kann mich zwar dem Argument, dass durch Bedürfnislosigkeit (die es m. E. gar nicht gibt, denn auch das Ziel der Bedürfnislosigkeit ist durch ein Bedürfnis motiviert) ein größeres Ausmaß an Unabhängigkeit von Menschen und Situationen erreicht wird, nicht verschließen, aber ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass damit der eigentlichen Bedeutung der Bedürfnisse nicht Rechnung getragen wird. Das gleiche gilt für die Gefühle. Lange wurden sie als unwichtige und mitunter lästige Begleiterscheinungen des Lebens betrachtet, die man besser nicht beachtet oder unterdrückt und auf jeden Fall dem Verstand unterordnet.

      In Gegensatz dazu bin ich zu der Einsicht gelangt, dass sich die Potenziale des Menschen in Bedürfnissen (die sich wiederum in Interessen und Zielen spiegeln) ausdrücken und dass sich im Umgang mit den Bedürfnissen, den eigenen und denen der anderen, das Wesen des Menschen formt. Mir wurde dabei auch immer deutlicher, welche immens wichtige Rolle die Gefühle in diesem ganzen Zusammenhang spielen und dass sie der Schlüssel zum Verständnis unserer selbst sind. Mir wurde deutlich, dass auch der freie Wille, den wir seit der Aufklärung in unserem abendländischen Verständnis so selbstverständlich voraussetzen, ein Potenzial ist, das in uns angelegt ist, das sich im Grundbedürfnis nach Freiheit ausdrückt, dessen Entfaltung aber keineswegs selbstverständlich ist. Im Gegenteil, dieser Entfaltung stehen viele Hindernisse im Weg. Nicht nur die kulturelle und familiäre Sozialisation, vor allem auch die ständig ablaufenden unbewussten Beeinflussungen unseres Gehirns durch innere und äußere Kräfte machen die Entwicklung eines freien Willens zur größten Herausforderung des Menschseins.

      Um auf mein Eingangszitat zurückzukommen: Das Buch endlich fertig zu schreiben, ist mir nicht nur schwer gefallen. Es hat zwar zu viele Jahre in Anspruch genommen, aber es war auch eine ständige Quelle der Freude. Denn die Arbeit hat mich, abgesehen von meinem Schwerpunkt Psychologie, in Gebiete geführt, die mir völlig unbekannt waren, und die verschiedenartigste Literatur – von den ältesten Menschheitsgeschichten über Philosophien und Religionen bis zur neuesten Hirnforschung – war und ist eine tiefe Bereicherung, für die ich den jeweiligen Autoren unendlich dankbar bin.

      Dr. Evelin Kroschel-Lobodda München, im November 2014

      1. Die Suche nach dem Grund hinter dem Grund

       »Das Menschenherz ist gefährlicher als Berg und Wildbach und schwerer zu erkennen als der Himmel.

       Der Himmel hat doch wenigstens seine Jahres- und Tageszeiten; des Menschen Äußeres aber ist dicht verhängt, und sein eigentliches Wesen ist tief verborgen.«

       (Dschuang Dsi, Buch XXVII,15)

      Was bewegt uns, was bringt uns dazu, Bestimmtes zu tun und anderes zu unterlassen? Was erzeugt Gefühle von Angst, Zorn, Scham, Traurigkeit, Freude, Stolz, Zufriedenheit, Rachegefühle, Zuneigung, Liebe und was es sonst noch an unzähligen Gefühlen gibt? Warum geraten wir in bestimmte Situationen und warum handeln oder reagieren wir manchmal in unerklärlicher Weise?

      Bei der Frage nach dem »Warum« geht es nicht nur um unsere Motive, Leidenschaften, Interessen und Ziele und darum, wie sie unser Handeln bestimmen und unsere Persönlichkeit. Die Frage nach dem Warum wird manchmal einseitig verstanden im kausalen Sinn, d. h. rückwärtsgewandt. Sie beinhaltet jedoch immer auch das Wozu. Wenn wir unser Handeln hinterfragen nach dem Grund, dann bedeutet das immer: Warum und wozu? Wir Menschen handeln intentional, unser Handeln ist zielgerichtet - auch dann, wenn es nicht danach aussieht und wenn wir selbst nicht wissen, was das Ziel eigentlich ist. ›Warum‹ und ›Wozu‹ sind die zwei Seiten einer Münze.

      Bei der Frage nach dem ›Warum‹ geht es nicht nur um unsere Motive, Leidenschaften, Interessen und Ziele und darum, wie sie unser Handeln bestimmen und unsere Persönlichkeit formen. Es geht dabei auch um unser gesamtes Lebensschicksal, das von vielen Kräften aus verschiedenen Dimensionen unserer Psyche gesteuert wird, die uns meist nicht bewusst sind. Und wenn sie nicht bewusst sind, haben wir keinen Einfluss darauf. Es geht also darum, Einfluss zu gewinnen auf unser Leben und unser Schicksal, auf die Entwicklung unserer Persönlichkeit und auf die Entwicklung unserer Gemeinschaft, in der wir leben.

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