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auf Angriffe, die man gerade von anderer Seite erfahren hat. […] Mit dem Alter ändern sich in allen Kulturen die Formen der Aggression: Die Häufigkeit körperlicher Angriffe nimmt ab zugunsten stärker ›sozialisierter‹ Formen wie Beleidigung und Balgereien. […] Bemerkenswert ist des Weiteren, dass in jeder Kultur die jüngeren Kinder und die altersgleichen weit mehr Aggression abbekommen als die älteren, zumal mit jüngerem Alter die Angegriffenen auch eher zur Aggression einladen, weil sie sich getroffen fühlen oder weinen. Lambert (1974) sieht darin eine Verschiebung auf wehrlosere Opfer.«17

      Jede Kultur hat bei allen Gemeinsamkeiten der kindlichen Aggressionsformen dann jedoch ihre eigenen Normen und Wertungen für aggressives Handeln. Sie legt fest, was erlaubt und was nicht erlaubt ist und wann und welche Aggressionen sogar erwünscht sind oder zumindest indirekt belohnt werden. Manches von diesen Normen findet ihren Niederschlag in den Strafgesetzbüchern. So wird z. B. Mord aus niedrigen Beweggründen schwer, Töten aus Notwehr dagegen gar nicht bestraft. Die meisten der Normen und Regeln werden aber einfach über Bekräftigungs- und Vorbildlernen internalisiert und zu ungeschriebenen Gesetzen.

      Wie unterschiedlich kulturelle Regeln und Normen in Bezug auf Aggressionen das individuelle aggressive Handeln prägen, durch welche Motive das aggressive Handeln verursacht werden kann und welche Motive der Betreffende selbst sich dann zuschreibt, möchte ich am Beispiel des aktuellen Terrors von islamistischen Fundamentalisten aufzeigen:

      Unter dem Titel »Blutige Taten, heilende Rache« beschäftigte sich der Autor Sudhir Kakar in der Wochenzeitung »Die Zeit« vom 18.8.2005 mit der Psychologie von islamistischen Terroristen. Sudhir Kakar schaut jenseits von medialen oder politischen Kurzsichtigkeiten sehr genau auf die Beweggründe von religiösen Fanatikern. Dabei postuliert er, dass die Gewalt von säkularen Terrorgruppen noch heute verblasse gegenüber den schrecklichen Bluttaten von religiösen Tätern. Dabei zeigt er auf, wie diese religiösen Täter durch die Botschaften fundamentalistischer Prediger geprägt werden.

      Diese Botschaften beginnen mit der Klage über den verlorenen Ruhm des Islam und die beklagenswerte Lage, in der sich Muslime heute befänden im Vergleich zum Glanz vergangener Zeiten. Auf die Beschreibung der Symptome folgt dann die Diagnose: Muslime hätten alles verloren – politische Autorität, Respekt, spirituellen und materiellen Reichtum – weil sie durch einen geschwächten oder abhanden gekommenen Glauben der moralischen Verkommenheit der modernen globalisierten Welt nicht genügend entgegenträten. Die Heilung bestehe also in einer Rückbesinnung auf die Scharia und die im Koran aufgestellten Glaubensgrundsätze.

      Die als düster und verachtenswert geschilderte Sicht der Gegenwart im Vergleich zur hell und glanzvoll erscheinenden Vergangenheit und möglichen Zukunft kennzeichnet das ideologische Fundament des islamischen Terroristen, der bereit ist, in den Tod zu gehen.

      Psychologisch gesehen ist der Fundamentalismus also für den Außenstehenden eine Krankheit, für den Insider der Weg zur Gesundung.

      Triebkraft des Dschihad ist keineswegs ein Mangel an Werten. Nur unterscheiden sich diese Werte von denjenigen, die die moderne Gesellschaft prägen. Einem Manifest des Gründers der ägyptischen Muslimbrüder zufolge sind Alkohol, Unzucht, Konsum und vulgäre Vergnügungen charakteristisch für spirituell und moralisch verdorbene Gesellschaften. Im Terrorismus gegen die »unreine, moralisch verdorbene« westliche Gesellschaft sieht der fundamentalistische Gewalttäter eine Chance, Heldentum und Idealismus auszudrücken im Dienste Gottes. Aufgrund der religiösen Motivation sieht er seinen Kampf als den Kampf des Guten gegen das Böse, den Kampf für Gott gegen Satan.

      Bei seinen Gewaltaktionen, die seiner Zuschreibung nach einzig Gott dienen, sieht er sich erhaben und nicht klein und ihn plagen auch keine Schuldgefühle, wenn er unschuldige Menschen in den Tod schickt. Dies gilt besonders für den Selbstmordattentäter. Er ist nicht zu vergleichen mit dem »normalen« Selbstmörder, der aus Verzweiflung, Hilflosigkeit oder Ohnmacht handelt. Solche persönlichen Gründe wären für den Selbstmordattentäter eine feige, gotteslästerliche Tat. Nach Kakar ist es auch ein Irrtum, wenn wir annehmen, die fundamentalistischen Attentäter kämen aus Verhältnissen von Armut, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Er beruft sich auf den Soziologen Scott Atran, der in seinem Buch Holy Terror. The Inside Story of Islamic Terror nachgewiesen hat, dass Terroristen meist besser ausgebildet sind und wirtschaftlich besser dastehen als der Großteil der Bevölkerung und dass z. B. laut eines saudischen Untersuchungsberichtes die meisten palästinensischen Selbstmordattentäter studiert haben und aus wohlhabenden und angesehenen Familien stammen.

      Diese gebildeten und materiell gut gestellten Muslime sind mit ihrer Geschichte meist wohlvertraut. Sie fühlen sich angesprochen von Darstellungen alten islamischen Glanzes, nehmen die marginale Bedeutung moderner islamischer Staaten sehr stark wahr und sind empfänglich für Gefühle kollektiver Demütigung. Sie reagieren weitaus empfindlicher als andere Muslime, wenn der Westen von der Rückständigkeit muslimischer Gesellschaften redet und seine eigene Überlegenheit herausstellt. Dank seiner Bildung und Herkunft nimmt der islamische Terrorist die Unterdrückung in seiner eigenen Gesellschaft und in der modernen Welt insgesamt stärker wahr.

      Diese Antriebskräfte, die aus den Gefühlen von Erniedrigung, Demütigung und Vergeltungsbedürfnissen entstehen, sind in der muslimischen Welt nicht überall gleich stark. Arabische Gesellschaften, in denen Ehre und Ehrverlust eine große Rolle spielen, reagieren viel sensibler auf empfundene Demütigungen und narzisstische Kränkungen als muslimische Gesellschaften, in denen diese Ehrstrukturen nicht so stark ausgeprägt sind.

      Analysieren wir diese Ausführungen noch genauer, dann sind die Motive für die Selbstmordattentate zum einen Rachemotive für Erniedrigung und Demütigung und zum anderen Selbstwertmotive, weil durch die Terrorhandlungen versucht wird, den eigenen Selbstwert und die eigene Ehre zu erhöhen und die Ehre der Gruppe wieder herzustellen. Neben diesen beiden Bedürfnissen sind die Motive für fundamentalistischen Terror allgemein immer fixierte Ideale-Bedürfnisse (das bedeutet, die eigenen Ideale werden in selbstgerechter Hybris allen anderen verordnet), verbunden mit fixierten Machtbedürfnissen (das heißt, die eigenen Ziele werden mit Gewalt und Unterwerfung verfolgt).

      In einem Punkt allerdings irrt Sudhir Kakar in seinen Ausführungen. Nämlich wenn er schreibt, dass säkularer Terror angesichts religiöser Bluttaten verblassen würde. Wenn wir nur in die jüngste Geschichte schauen, dann denke ich, kann diese Aussage nicht aufrecht erhalten werden. Es war sicher ein unbeschreiblich grausamer und tödlicher Terror, den Deutschland während des Nationalsozialismus veranstaltete. Es war ein mörderischer und blutrünstiger Terror, den die Pol-Pot-Anhänger in ihrem Land verbreiteten. Es war ein mörderischer und tödlicher Terror und Genozid, den die Türken gegen ihre armenische Bevölkerung betrieben. Es war ein grausamer und tödlicher Terror, den die Klu-Klux-Klan-Mitglieder (alles »ehrbare Bürger« mit »moralischen« Begründungen ihres Handelns) unter der schwarzen Bevölkerung der amerikanischen Südstaaten anrichtete. Es war und ist ein unvorstellbarer Terror und blutrünstiges Morden bis zum Genozid in verschiedenen afrikanischen Staaten im Gange. Und so weiter und so weiter. Die entsprechende Aufzählung wäre schon endlos, ohne die »offiziellen Kriege« zwischen Staaten oder Völkern.

      Aggression bzw. aggressives Verhalten wird schon in den ältesten menschlichen Schriften beschrieben. Es steht immer im Dienste anderer Motive. Als Beispiel gehe ich kurz auf das Gilgamesch-Epos ein (die ausführliche Analyse findet sich im Kapitel Ein Blick Jahrtausende zurück): Im Gilgamesch-Epos finden wir aggressives Handeln aus den unterschiedlichsten Motiven: Es beginnt damit, dass die Bürger von Uruk sich über das aggressive Verhalten ihres Königs bei den Göttern beklagen. Daraufhin schicken die Götter einen an Kraft ebenbürtigen Gegenspieler, Enkidu. Als dieser von der Stärke Gilgameschs hört, will er sich sogleich im Kampf mit ihm messen (Aggression im Dienste des Selbstwertbedürfnisses). Gilgamesch weist aggressiv das Liebeswerben der Göttin Ischtar zurück (Aggression im Dienste der eigenen Sicherheit). Sie schickt daraufhin den Himmelsstier, der Gilgamesch töten soll (Aggression im Dienste des Rachebedürfnisses). Gilgamesch besiegt und tötet den Himmelsstier. (Aggression zur Verteidigung, also Sicherheitsmotiv). Gilgamesch und Enkidu sind inzwischen unzertrennliche Freunde und wollen nun gegen »das Böse« in den Kampf ziehen (Gerechtigkeits-Motiv). Als Inkarnation des Bösen

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