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Deutschland und Österreich waren nach 1945 traumatisierte Gesellschaften. Zwei von drei Menschen der Kriegsgenerationen erlebten in diesen Jahren traumatisierende Erfahrungen, die Hälfte von ihnen mehrmals. Dies auch als Kinder, ja Kleinkinder, dies sowohl als unmittelbar Betroffene als auch als Zeugen, was genauso traumatisieren kann, wie wenn man unmittelbar Opfer wurde. Und 1945 waren die traumatischen Ereignisse nicht vorbei. Vertreibungen, Vergewaltigungen und Flucht gingen weiter bis 1947/48. Viele Kriegsgefangene kamen erst Anfang der 1950er Jahre zurück.

      Der Hungerwinter 1946/47 wirkte auf viele Kinder und Erwachsene ebenfalls traumatisch. Hinzu kamen in den Folgejahren die Flüchtlinge aus der ehemaligen DDR, die auch oft traumatische Erfahrungen hinter sich bringen mussten. Zählt man die zahlreichen zusätzlichen Erfahrungen sexueller und anderer Gewalt hinzu, kann man für die folgenden Jahrzehnte von einer großen Mehrheit der Bevölkerung ausgehen, die traumatische Erfahrungen durchlebt hat.

      Wir möchten an dieser Stelle auf das Buch „Wo geht’s denn hier nach Königsberg?“ verweisen, das die Traumata und Leiden der Kriegsgeneration und deren Folgen beschreibt.

      Wenn mehrere Generationen in einem Haushalt zusammenlebten, was in den 1950er und 1960er Jahren noch häufig der Fall war, ballte sich das Schweigen der Väter und Mütter, Omas und Opas, Onkel und Tanten manchmal in einer Konzentration zusammen, die heute nur noch schwer vorstellbar sein mag.

      Diese Atmosphäre und die Verbreitung traumatischer Erfahrungen hatten individuelle Auswirkungen ebenso wie gesellschaftliche. Das gesellschaftliche Schweigen unterstützte das individuelle und umgekehrt: Das individuelle Schweigen über die traumatischen Erfahrungen und die damit verbundenen Gefühle wurde zu einem gesellschaftlichen.

      Wir wissen, dass die meisten Opfer traumatischer Erfahrungen schweigen. Also können wir annehmen, dass die Mehrheit der heutigen Bevölkerung aufgrund dieser historischen Konstellation des Zusammentreffens „alltäglicher“ Traumata und Kriegstraumata von einer transgenerativen Traumaweitergabe betroffen ist. Somit auch die Mehrheit der Klient/innen. Das macht die Beschäftigung mit diesem Thema therapeutisch wie gesellschaftlich bedeutsam.

      Wir werden uns am Anfang dieses Buches mit einigen „Basics“ beschäftigen. Wer über die transgenerative Weitergabe etwas lernen möchte, muss wissen, was ein Trauma ist, muss zwischen Traumaereignis und Traumaerleben unterscheiden können und einiges mehr. Dies ist das Thema des zweiten Kapitels. Im dritten Kapitel werden wir uns dann damit auseinandersetzen, wie und warum viele Angehörige der zweiten Generation ähnliche Symptome wie traumatisierte Menschen der ersten Generation haben.

      Im daran anschließenden Kapitel stellen wir das wichtigste Ergebnis unserer Untersuchungen vor: die vier Leeren – Leiden, ohne zu wissen, warum. In den Abschnitten danach folgen Darstellungen der Auswirkungen transgenerativer Traumaweitergabe auf die Entwicklung der Identität und der Bindungsfähigkeit, schließlich Beschreibungen vielfältiger weiterer Erscheinungsformen, wie traumatische Erfahrungen an die nächste Generation weitergegeben werden und wie sie sich bei Angehörigen der zweiten Generation zeigen.

      Schließlich erzählen wir davon, welche Hinweise und Indikationen es in der Therapie nach unseren Erfahrungen geben kann, die darauf hindeuten, dass eine transgenerative Traumaweitergabe die Symptome, unter denen Patient/innen und Klient/innen leiden, beeinflussen. Und dann, last not least, folgt das Kapitel: Was hilft?

      Auf keinen Fall wollen wir hier den Eindruck erwecken, als sei die transgenerative Weitergabe von Traumata die einzig zentrale Quelle von Leiden generell. Sie ist ein, allerdings oft entscheidender Aspekt von tiefem Leid, der sich häufig den traumatischen Erfahrungen unserer Klienten und Klientinnen, den Erfahrungen von Ohnmacht und Gewalt in all ihren Ausprägungen, hinzugesellt. Wir wollen auch nicht den Eindruck erwecken, dass es nicht auch das Gegenteil des Schweigens gibt, z.B. das Überschütten kleiner Kinder mit grausamen Kriegserinnerungen und Erfahrungen sexueller Gewalt, die dadurch überfordert und belastet werden. Doch um diesen Aspekt geht es in diesem Buch nicht, wir stellen ihn beiseite, um uns ganz dem Schweigen und seinen Auswirkungen zu widmen.

      Und noch ein Hinweis: Wir beschäftigen uns in diesem Buch ausschließlich mit der transgenerativen Weitergabe von Opfer-Erfahrungen. Auch Täter und Täterinnen schweigen und auch dies hat Auswirkungen auf die nächste Generation. Wir beschränken uns in diesem Buch darauf, wie Opfer traumatischer Erfahrungen diese unbewusst weitergeben, welche Auswirkungen dies hat und was dagegen hilft. Den Täteraspekt zu untersuchen und darzustellen, hätte den Rahmen unseres Forschungsprojektes, unserer Kraft und dieses Buches gesprengt.

      Wir hoffen, Sie mit diesem Buch neugierig auf das Thema zu machen, neugierig darauf, gemeinsam mit Ihren Klient/innen und Patient/innen auf die Suche zu gehen.

      2 Was Therapeut/innen über Traumata wissen müssen

      Trauma heißt Wunde. Das Wort stammt aus dem Altgriechischen und wurde ursprünglich in der Medizin als Begriff für schwere körperliche Verletzungen mit schockartigen Folgen eingeführt. In der Psychologie und Psychotherapie wurde die Bezeichnung schließlich auf schwere seelische Verletzungen erweitert.

      Um zu verstehen, wie Traumata in die nächste Generation weitergegeben werden, müssen wir wissen, was ein Trauma ist und welche Folgen es haben kann.

      Wir wollen die Grundlagen, die für ein Traumaverständnis notwendig sind, hier vorstellen und verweisen auf ausführliche Darstellungen in der Literatur, z.B. Herman 1994/2007, Fischer/Riedesser 2004, Frick-Baer 2009. Dabei ist uns wichtig, unser Traumaverständnis möglichst klar zu definieren. Es gibt gelegentlich Tendenzen, den Traumabegriff inflationär zu benutzen und auf jedes belastende Ereignis anzuwenden. Daran wollen wir uns nicht beteiligen, weil damit der Traumabegriff seinen Wert in Diagnostik und Therapie verliert bzw. zumindest verlieren kann. In diesem Buch geht es nicht darum, was Eltern oder Elternteile allgemein an Belastungen, Kränkungen oder Störungen an ihre Kinder weitergeben, sondern um einen Teil davon, einen bestimmten Aspekt, nämlich das Trauma und dessen transgenerative Weitergabe.

      Begrifflich hat es sich dabei für uns als sinnvoll herausgestellt, verschiedene Aspekte zu unterscheiden, die in der Sammelbezeichnung „Trauma“ enthalten sind. Diese sind:

      » das Traumaereignis,

      » das Traumaerleben, also die Art und Weise, wie ein Mensch sich und seine Welt vor, während und unmittelbar nach dem Traumaereignis erlebt,

      » die Traumabewältigung, also die Art und Weise, wie der Mensch kurz- und langfristig sein Traumaerleben bewältigt,

      » die Traumafolgen, also die Folgen des Traumaerlebens und der Traumabewältigung.

      Betrachten wir diese vier Aspekte genauer.

      Jedes Trauma beginnt mit einem Traumaereignis. Traumaereignisse können sehr unterschiedlich sein. Menschen kämpfen als Soldaten im Krieg oder werden als Zivilisten bombardiert, andere werden überfallen, ausgeraubt oder vergewaltigt. Kinder und Jugendliche werden sexuell missbraucht, andere erleben einen Tsunami, ein Erdbeben oder einen Verkehrsunfall. Ein Lokführer überfährt einen Selbstmörder mit seinem Zug, ein anderer sieht zu, wie ein Mensch ertrinkt, ohne dass er helfen kann. So unterschiedlich die Ereignisse sein können, die ein Trauma hervorrufen, so ist ihnen doch gemeinsam, dass die beteiligten Menschen sich durch dieses Ereignis existenziell bedroht und erschüttert fühlen. Das Ereignis macht noch kein Trauma aus, sondern die Qualität des Erlebens eines Ereignisses. Traumaereignisse sind Ereignisse, die Menschen als existenziell bedrohlich erleben und durch die sie in ihren Grundfesten erschüttert werden.

      Zum Traumaereignis gehört allerdings auch die Zeit unmittelbar danach – nach der Vergewaltigung, nach dem Unfall, nach dem Unglück. Wir haben in unseren Therapien immer wieder erfahren, dass die „Zeit danach“ zum Traumaereignis hinzuzuzählen ist. Zur Zeit laufende Studien haben dies bestätigt (Frick-Baer i.V.). Die Art und Weise, wie der Beteiligte an einem schweren Verkehrsunfall unmittelbar danach behandelt wird, kann das Erleben abmildern oder vertiefen. Ob ein Kind nach der Erfahrung eines sexuellen Missbrauchs beschämt, beschuldigt oder im Folgenden allein gelassen wird oder ob es Halt, Parteilichkeit und Trost erfährt, bestimmt das Erleben und die Bewältigungsmöglichkeit des Traumas im wesentlichen Maße.

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