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er diese verdrängt hatte und weil er sich an sie nicht mehr erinnerte. Nur noch die Ängste waren da, nicht mehr das, was sie ausgelöst hatte. Der Sohn wurde mit diesen Ängsten groß und übernahm sie unwillentlich und unbewusst, selbstverständlich. Als der Vater dem Sohn von seinen Kindheitserfahrungen erzählte, fand dieser nicht nur Erklärungen für seine Ängste, sondern auch dafür, warum er trotz einer pazifistischen Grundeinstellung jahrelang Bücher über den Zweiten Weltkrieg verschlungen und eine Zeitlang sogar Militaria gesammelt hatte. Als das Schweigen durchbrochen war, waren die Ängste nicht weg, verloren aber einen Teil ihrer Kraft. Anteile ungelebten Lebens bekamen so eine Chance, gelebt zu werden.

      Solche und ähnliche Erfahrungen weckten unser Interesse. Wir lernten von unseren Klientinnen und Klienten, dass traumatische Erfahrungen offenbar an die nächste Generation weitergegeben wurden. Die Weitergabe erfolgte offenbar umso intensiver und umso nachhaltiger, je mehr darüber geschwiegen wurde. Oft wurde gar nicht darüber geredet, manchmal wurde über traumatische Ereignisse erzählt, aber emotional geschwiegen. Die Botschaften des Schweigens entfalteten über Atmosphären, Tabus und viele andere Aspekte, die wir in diesem Buch vorstellen, ihre Kraft in der nächsten Generation.

      Das machte uns neugierig und wir gingen auf Entdeckungsreise – auch bei uns selbst, in unseren eigenen Biografien.

      Wir begannen, Fachliteratur zu studieren, und sichteten Berichte und Analysen von transgenerativer Traumaweitergabe bei Kindern und Enkeln von Holocaust-Überlebenden. In Deutschland war die Literatur sehr spärlich (siehe Literaturverzeichnis), das Thema der Folgen des Zweiten Weltkrieges für die erste und auch für die nächste Generation war jahrzehntelang in der Forschung und Publizistik ebenso verdrängt worden, wie traumatische Ereignisse von den Betroffenen dissoziiert werden. In den letzten Jahren hat erfreulicherweise das Thema auch in anderen Publikationen seinen Platz gefunden, vor allem, was die Folgen kriegstraumatischer Erfahrungen für die nächste Generation anbetrifft (Kriegskinder, Kriegsenkel …). Die lesenswerten Bücher wie die von Sabine Bode oder Anne-Ev Ustorf beschränken sich dabei auf die Weitergabe von Kriegstraumata, während wir die transgenerative Weitergabe jeglicher Traumata, auch der aus sexueller Gewalt resultierenden, in den Blick nehmen. Diese Bücher wurden von Journalistinnen verfasst, die dankenswerterweise die Öffentlichkeit auf ein kaum beachtetes Thema aufmerksam machen wollten und wollen. Uns fehlten Untersuchungen aus therapeutischer Sicht, die für die therapeutische Praxis zu nutzen wären.

      Also begannen wir 2007 ein Forschungsprojekt. Wir werteten Therapieprozesse aus und führten 15 narrative Interviews mit Söhnen und Töchtern traumatisierter Menschen durch. Die interviewten Menschen wurden zufällig gefunden. Narrative Interviews sind Interviews, in denen Menschen aus dem Stehgreif, also ohne Struktur und ohne Vorbereitung, lediglich angeregt durch eine offene Fragestellung und konkretisierende Nachfrage über ihr Leben erzählen. Über Aushänge und Aufforderungen auf Veranstaltungen meldeten sich Personen, die mit uns Neugier und Interesse an dem Thema teilten und sich interviewen ließen.

      Wir merkten, dass die in dieser Forschungsarbeit gewonnenen Erkenntnisse unsere therapeutische Arbeit bereicherten, und begannen, auf Kompetenztagen und in Fortbildungen Zwischenergebnisse zu veröffentlichen. Zahl und vor allem Intensität der Rückmeldungen erstaunten uns. Viele Menschen fanden sich in den beschriebenen Themen und Erfahrungen wieder, viele Therapeutinnen und Therapeuten interessierten sich dafür. Wir begegneten Menschen, die als „Generation zwischen den Generationen“, wie es ein Mann ausdrückte, erschüttert waren beim Blick auf ihre Kinder, denen sie alles Glück dieser Welt gewünscht hatten und wünschen – und die dennoch das Empfinden haben, an der Teilhabe am „lebendigen Leben“ gehindert zu sein. Diesen Menschen eröffnete sich durch die Beschäftigung mit ihren eigenen transgenerativen Traumata und die Kraft, die Botschaften des Schweigens innewohnt, auch eine Tür zum Verständnis ihrer Kinder („Die doch eigentlich keinen Grund haben, sich zu beklagen, so gut, wie sie es hatten“).

      Diese Menschen, diese Eltern, berichteten, dass ihnen diese Sicht darüber hinaus geholfen habe, ein wenig Orientierung im Dschungel diffuser Schuldgefühle zu finden. Sie wollten sich in die Pflicht nehmen, mit ihren Kindern, v.a. ihren erwachsenen Kindern, zu sprechen, sich ihnen zu öffnen, und Verantwortung dafür übernehmen, das Schweigen zu brechen.

      Wir beschäftigen uns hier in diesem Buch mit der transgenerativen Traumaweitergabe generell. Es bezieht sich auf traumatische Erfahrungen jeder Art, ob im Krieg oder durch den Krieg, ob in der Familie oder durch den Terror in sozialen Beziehungen und beruflichem Umfeld, ob durch sexuelle Gewalt oder andere Ereignisse.

      Die Prozesse sowohl des Traumaerlebens als auch der transgenerativen Traumaweitergabe sind trotz unterschiedlicher Traumaereignisse sehr ähnlich, deswegen werden wir sie nicht gesondert behandeln oder unterscheiden und schon gar nicht gewichten. Die Differenzierungen je nach individueller Persönlichkeit und Verarbeitungsstrategien sind größer und weitaus bedeutsamer als mögliche Differenzierungen nach unterschiedlichen Traumaereignissen.

      Hier stellen wir nun die Ergebnisse dieses Forschungsprojektes vor. Es begann mit unserer Erschütterung über das Ausmaß an Leiden, das das Schweigen, das Verschweigen des Erlebens traumatischer Ereignisse in der nächsten Generation schafft, so wie wir es in unserer therapeutischen Praxis – zunächst vereinzelt – erfuhren. Als sich die Hinweise häuften, dass der transgenerative Aspekt der Traumaweitergabe und des Traumaerlebens für viele Menschen, die in der Therapie Hilfe suchen, von Bedeutung sein könnte, folgten wir mit Interesse und beteiligter Neugier diesen Spuren.

      Das Buch wendet sich vor allem an Therapeut/innen und andere Fachkräfte, die professionell mit Menschen arbeiten. Um für möglichst viele Fachleute einen größtmöglichen praktischen Nutzen zu erzielen, haben wir auf die Darlegung der wissenschaftlichen Methodik ebenso verzichtet wie auf ausführliche Zitate und Veröffentlichungshinweise im Text (dafür verweisen wir auf unsere Literaturliste). Die Interviews haben wir nummeriert, sie werden im Text als I 1, I 2 usw. gekennzeichnet. In Absprache mit den Interviewten haben wir manche Passagen leicht der Schriftsprache angeglichen. Es ist uns ein Anliegen, die Ergebnisse dieses Forschungsprojektes in einer gut lesbaren und verständlichen Sprache zu präsentieren. Die Forschung soll der Praxis dienen und damit Therapeutinnen und Therapeuten Anregungen geben, die Hilfsmöglichkeiten für Klientinnen und Klienten zu erweitern.

      Wenn dieses Buch auch außerhalb therapeutischer Fachkreise seine interessierte Leserschaft finden würde, wäre das eine besondere Freude für uns.

      Wer sich mit der Weitergabe traumatischer Erfahrungen beschäftigt, kommt leicht in Versuchung, die traumatischen Erfahrungen der ersten Generation auszubreiten. Dies ist in gewissem Maße notwendig, um zu verstehen, welche traumatischen Ereignisse welches Traumaerleben zur Folge haben, wie dies nachwirkt und wie dies in die Erlebenswelten der nächsten Generation hinübergreifen kann. Und damit Therapeutinnen und Therapeuten die transgenerative Weitergabe traumatischen Geschehens überhaupt in Erwägung ziehen, müssen sie über einige Kenntnisse der Verbreitung und Qualität traumatischer Erfahrungen der ersten Generation verfügen. Wir wollen aber die Informationen über die Erfahrungen der ersten traumatisierten Generation, deren Erlebensfolgen an die zweite Generation weitergegeben werden, möglichst knapp halten, um ein Eintauchen der Leserinnen und Leser in allzu viele Erschütterungen zu vermeiden.

      Wenn wir in diesem Werk von „zweiter Generation“ sprechen, so sind damit die Menschen gemeint, die an den Folgen nicht unmittelbar selbst erlebter Traumata leiden. Wir meinen die Menschen, die die verschwiegenen, emotional verdrängten oder dissoziierten Traumata der vorherigen Generation übernommen haben. Die Zuordnung zur zweiten Generation sagt also nichts über das Alter der Betroffenen und Betreffenden aus (sie können ebenso 12 wie 60 Jahre alt sein oder jedes andere Alter haben). Die Kategorien „erste“ und „zweite“ Generation haben keine historische, sondern eine subjektive Dimension. Die Angehörigen der zweiten Generation sind diejenigen, aus deren Sicht und individueller Lebensgeschichte heraus wir die Generation definieren. Sie sind in diesem Forschungszusammenhang im Rahmen dieses Forschungsprojekts die Klientinnen und Klienten, mit denen wir therapeutisch arbeiten und die wir interviewt haben.

      Auch wenn wir in diesem Buch die Begriffe „erste“ und „zweite“ Generation unhistorisch benutzen, hat die transgenerative Traumaweitergabe doch eine historische und gesellschaftliche Dimension. Die Beschäftigung

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