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die für alle Menschen überall gelten. Diesen Gedanken werde ich im Zusammenhang mit der Frage, was ›Würde‹ bedeutet, wieder aufnehmen.

      Konflikte zwischen dem Eigenen und dem Fremden gibt es nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb von Kulturen. Dem diskriminierenden und verletzenden Verhalten der Einen gegenüber den Anderen können missverstandene oder missbrauchte Ansprüche zugrunde liegen. Freiheitsansprüche können missverstanden und missbraucht werden. Die freie Meinungsäußerung, die bei uns verfassungsrechtlich verbrieft ist, kann von den Einen den Anderen gegenüber missbraucht werden, etwa dann, wenn rassistische oder antisemitische Überzeugungen oder Unwahrheiten, Beleidigungen und Hass öffentlich geäußert werden. Es kommt darauf an, dieses Verhalten als Missbrauch der Meinungsfreiheit zu beschreiben und erkennbar zu machen. Die Beurteilung menschlichen Verhaltens setzt eine zuverlässige Beschreibung voraus. Vor Gericht ist dies eine Selbstverständlichkeit. Sie sollte auch für das moralische Urteil gelten. Erst sollten wir eine Anschauung von menschlichem Verhalten haben, dann können wir beurteilen, ob es richtig und gut oder schlecht und unmoralisch ist. Wir sollten ein Verhalten erst genau wahrnehmen und beschreiben und dann normieren. Rassismus, Antisemitismus und andere Diskriminierungen sind nicht immer leicht erkennbar.

      Die Maxime, erst zu beschreiben und dann zu normieren, mag ein Beispiel verständlich machen. Ein und dieselbe Situation kann als freundschaftlich-feste Umarmung oder als körperlicher Angriff wahrgenommen und entsprechend beschrieben werden. Wer Ersteres sieht, wird sich nicht bemühen zu helfen. Wer Letzteres sieht, versucht vielleicht, selbst zu helfen oder andere um Hilfe zu bitten. Nuancen unterschiedlicher Wahrnehmung können entscheidend für das Eine oder Andere sein. Dafür, dass wir ein Verhalten als bedrohlich oder freundschaftlich wahrnehmen, gibt es Anzeichen, aber keine zwingenden Kriterien. Es kommt, wie Wittgenstein erkennt, immer darauf an, als was wir etwas sehen (Philosophische Untersuchungen, S. 518 – 544). Dafür gibt es keine klaren und zwingenden Kriterien. Es gibt auch keine zwingenden Kriterien des richtigen Sprachgebrauchs, da jeder Sprachgebrauch auf paradoxe Weise mit einer Regel in Übereinstimmung gebracht werden kann. Deswegen ist ›der Regel folgen‹ eine Praxis, wie Wittgenstein sagt (Philosophische Untersuchungen, §§ 201, 201). Dafür gibt es keine Theorie (Vossenkuhl, 2017).

      Dabei ist das sprachliche Verhalten, wenn wir eine Sprache verstehen, leichter als das körperliche zu beschreiben, zumindest glauben wir dies, weil wir die Wörter und Sätze verstehen. So leicht, wie es scheint, ist es aber nicht. Eine Äußerung wie ›Frisch ist es hier‹ kann eine Aufforderung sein, die Fenster zu schließen, oder ein Lob der frischen Luft oder eine ironische Bemerkung. Dem Wortlaut, der lokutionären Bedeutung, sieht man das, was damit getan wird, die illokutionäre oder perlokutionäre Bedeutung, nicht an, wie J. L. Austin (How to Do Things with Words) einleuchtend und humorvoll beschreibt.

      Wenn wir dem methodischen Grundsatz ›Erst beschreiben, dann normieren‹ folgen, werden wir die Bezeichnung ›angewandte Ethik‹ verdreht und gedankenlos finden. Diese verbreitete Bezeichnung dreht das Verhältnis zwischen Beschreiben und Normieren bzw. zwischen Beschreiben und Begründen um, so als gäbe es erst eine Ethik und dann erst das ihr angemessene menschliche Verhalten. Die Ethik wäre eine Art Verhaltenskochbuch mit Moralrezepten. Natürlich sollen Gebote und Verpflichtungen eingehalten werden, wenn sie gelten. Wie und wann sie gelten, müssen wir selbst beurteilen. Nehmen wir das Gebot ›Halte deine Versprechen!‹. Es gilt zweifellos, aber nur dann, wenn jemand etwas versprochen hat, was auch versprochen und gehalten werden kann. Wenn er ihr die Ehe verspricht, aber schon mit ihr verheiratet ist, ist das Versprechen höchstens ein weinseliger Scherz, aber kein wirkliches Versprechen. Wir können nichts versprechen, was es schon gibt oder was wir nicht halten können.

      Das Gebot ›Du sollst nicht töten!‹ soll wohl immer gelten, außer in Notwehr oder im Krieg. Die seltenen Ausnahmen scheinen dafür zu sprechen, dass ein solches Gebot tatsächlich immer und überall gilt. Wir werden später sehen, dass dies zumindest fraglich ist, wenn es darum geht, Leben zu retten, und nicht jedes Leben gerettet werden kann. Es ist auch fraglich, wenn es um die Hilfe beim Suizid geht. Fragen dieser Art zeigen, dass ethische Gebote innerhalb von bestimmten Grenzen gelten. Die Sorge reicht aber über diese Grenzen hinaus.

      Eine Ethik ist kein Verhaltenskochbuch mit moralischen Rezepten. Pflichten gelten bedarfsorientiert in bestimmten raum-zeitlichen Zusammenhängen. Ihre allgemeine Geltung bedeutet nicht, dass sie immer gegenwärtig sind. Wir leben auch nicht gleichzeitig in allen möglichen Räumen und Zeiten. Es gibt keine allgemeine Gegenwart aller Gebote und Verbote. Wir müssen zuerst erkennen, um was es genau geht, erst dann können wir beurteilen, was zu tun ist, und welche Gebote oder Verbote gelten. Wenn wir wissen, welche Gebote und Verbote für welches Verhalten gelten und uns daran gewöhnt haben, diesen Zusammenhang zu erkennen, fällt es uns ohne langes Nachdenken leicht, moralisch zu handeln. Durch die Einübung jenes Zusammenhangs und die Gewöhnung daran kann das moralische Handeln zur sittlichen Normalität werden. Wir neigen dazu, die Einübung und Gewöhnung in ihrer Bedeutung für das moralische Handeln zu unterschätzen. Tatsächlich sind sie unersetzlich, nicht nur in der aristotelischen Tugendethik.

      Dem Grundsatz ›Erst beschreiben, dann normieren‹ folge ich, wenn ich in dieser Erzählung Verhalten beschreibe. Was ich meistens beschreibe, sind Probleme, aber auch theoretische Angebote unterschiedlicher Ethiken. Wenn ich Probleme des Lebens und Sterbens, etwa den Lebensschutz unter Bedingungen des Mangels an Möglichkeiten der Hilfe, beschreibe, argumentiere ich für die Normierung bestimmter Lösungen, nachdem ich Situationen des Mangels beschrieben habe. Den erzählerischen Duktus versuche ich beizubehalten. Es geht mir auch in diesen Zusammenhängen nicht darum, eine ethische Theorie zu entwickeln.

      Wenn es um theoretische ethische Fragen geht, nehme ich einen Ratgeber besonders ernst, Immanuel Kant (1724–1804). Dabei kann er weder mit Sitten noch mit Gefühlen etwas anfangen. Seine Ethik hat aber eine bestechende theoretische Gestalt. Sie begegnet uns in einer Reihe von Beispielen. Sein Kategorischer Imperativ macht aus den moralischen Räumen einen einzigen, strukturiert ihn theoretisch, lässt aber auch praktisch seine Grenzen erkennen. Es ist der Raum, in dem die Normen, die Kant ›Kategorische Imperative‹ nennt, aus rein theoretischen Gründen gelten sollten. Die Normen sind aber auch in seiner Theorie keine Konstruktionen, sondern existieren, bevor sie zu Normen werden, als Maximen. Der moralische Raum, der aus Kategorischen Imperativen besteht, existiert theoretisch und virtuell, soll aber in der moralischen Gesinnung und im Handeln praktisch werden.

      Maximen sind in Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten »subjektive Prinzipien des Wollens« (4, 400). Was er damit meint, sind Sitten, denen wir folgen, bevor wir dafür eine Moraltheorie haben. Sitten gibt es auch für Kant diesseits seiner Ethik. Wenn Sitten allgemein gelten und widerspruchsfrei gewollt werden können, eignen sie sich für Kategorische Imperative. Die moralische Qualität der Sitten ist aber Zweifeln ausgesetzt. Nur die guten Sitten eignen sich für allgemein geltende Kategorische Imperative.

      Die Sitten, die in den Augen der Menschen als ›gute Sitten‹ gelten, bilden in moralischen Räumen das, was ›Sittlichkeit‹ bedeutet. Die Sittlichkeit ist eine Sammlung von moralischen Grundsätzen, die zwar allgemein anerkannt, aber nicht begründet werden können. Weder für die Sitten noch für die Sittlichkeit gibt es Begründungen. Sie sind Teil der menschlichen Praxis, für die es auch keine Begründungen gibt. Es gibt Theorien, die versuchen, die vielfältigen Formen menschlicher Praxis zu analysieren. Sie begründen aber keine Praxis.

      Es ist höchste Zeit, an Hegels Überlegungen zur Sittlichkeit zu erinnern. In seiner frühen Schrift System der Sittlichkeit versteht er Sittlichkeit als Identität von Anschauung und Begriff (2002, 3). Sehr bildlich und anschaulich sagt er, dass die »leiblichen Augen« und die »Augen des Geistes« in der Sittlichkeit zusammenfallen (48). Auch ich denke, dass das Sittliche als Anschauung präsent ist, unterscheide die Anschauung aber von den Begriffen, deren Inhalt sie dann wird. In seiner Phänomenologie des Geistes versteht Hegel Sittlichkeit dann als dynamische Gegenwart des sittlichen Bewusstseins in der menschlichen Praxis. Das Sittliche ist nun primär ein geistiges Phänomen. Deswegen sagt er, der Geist sei »die sittliche Wirklichkeit« (1988, 288 f.). Diese Wirklichkeit ist nichts Theoretisches, sondern das, was wirklich geschieht, was Menschen tatsächlich tun, ohne dafür eine Anweisung oder einen Befehl zu haben. Sie folgen ihren Sitten, die

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