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Verhalten gegenüber Kindern und Schutzbefohlenen ist keine Besonderheit der katholischen Kirche, sondern ein Problem der ganzen Gesellschaft. Und es gibt weder in der Gesellschaft noch in der Kirche eine einheitliche Sichtweise, sondern große kulturelle Unterschiede, welches Verhalten angemessen ist und welches nicht. In unserem mitteleuropäischen Kulturraum gab es in der Kirche – holzschnittartig dargestellt – diese Entwicklung:

      Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) schien von außen betrachtet relativ klar, wie ein zölibatär lebender Seelsorger sich zu verhalten hatte, was er tun durfte und was als unschicklich galt. Während in der bürgerlichen Gesellschaft mit Ende des Ersten Weltkrieges die Stände abgeschafft wurden und es in der Folge keine ständisch gegliederte Gesellschaft mehr gab, galt dies in der Kirche lange Zeit noch nicht. Es gab den »Laien-Stand« und den »Geistlichen Stand«, wobei nicht immer klar der »Ordensstand« als Lebensform und der »Priester-Stand« als Stand der Amtsinhaber unterschieden wurden. Augenfälliges Kennzeichen der Zugehörigkeit war eine eigene Standeskleidung, an der man sogleich erkannte, zu welchem Stand jemand gehörte. Der Schleier der katholischen Nonnen, der Priesterkragen der Pfarrer und der Habit der Mönche waren eben nicht Funktions-, sondern Standeskleidungen. Vielleicht kann man sie mit dem Personalausweis vergleichen; daran kann ich sehen, wer jemand ist.

      Mit der Zugehörigkeit zum »Geistlichen Stand« waren bestimmte Verhaltensvorschriften und Umgangsformen verbunden. Die Klausur im Kloster schützte die Mönche oder Nonnen vor unerwünschten Eindringlingen in den klösterlichen Innenbereich. Bei einem Besuch im Noviziat eines Männerordens durfte der Vater die Innenräume des Hauses betreten, die Mutter musste im Sprechzimmer warten. Undenkbar, dass ein Priester in ein öffentliches Schwimmbad oder gar in die Sauna gegangen wäre, was etwa Jugendseelsorger gelegentlich in Konflikte brachte. Besuche von Priesteramtskandidaten »zu Hause« bei den Eltern wurden nur bei besonderen Gelegenheiten erlaubt. Und nicht wenige Priester dieser Generation berichten, dass diese Erlaubnis vom Leiter des Priesterseminars vielleicht zur Teilnahme an der Beerdigung der Mutter, nicht aber zur Mitfeier bei der Hochzeit der Schwester gewährt wurde. Die Klosterpforte wurde mit Einbruch der Dunkelheit verschlossen. Einen Schlüssel hatten der Vater Abt und der Bruder Pförtner. Undenkbar, am Abend noch mit einem Mitbruder auf ein Bier in die Dorfkneipe zu ziehen!

      Aber da auch Priester und Ordensleute Freizeit und Erholung benötigen, schaffte man für sie eigene Residuen und Biotope. So nannten die Seminaristen einer deutschen Diözese das dem Priesterseminar angeschlossene und nur von ihnen benutzbare Freibad das »Zöli–Bad«. Diese Beschreibung mag ein wenig plakativ sein, doch trifft sie die Realität der damaligen Zeit. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil und besonders in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts gab es in der Kirche einen großen Nachholbedarf und den Wunsch, im Lebensstil und Verhalten Anschluss zu finden an die Moderne, und dies durchaus mit Billigung und Gutheißung und nicht selten mit Ermutigung der kirchlichen Vorgesetzten. So gab damals Papst Paul VI. den Ordensgemeinschaften die Erlaubnis, nach Abwägung von Pro und Contra in eigener Verantwortung die Klausur in den Klöstern zu lockern.

      In der Seelsorge entdeckten Priester und Ordensleute die Wichtigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen und die Bedeutung der Beziehung als Hauptmedium der Seelsorge. Nichtdirektive Beratung, die den anderen Menschen wertschätzt und ohne Bedingungen annimmt, avancierte zum Königsweg von Seelsorgegesprächen schlechthin. Priester und Ordensleute nahmen an »gruppendynamischen Laboratorien« teil. Sie entdeckten ihre eigenen ungelebten Seiten, die Bedeutung biographischer Zusammenhänge für ihre Lebenswahl und die Faszination echter menschlicher Begegnungen. Es herrschte nicht selten eine fast pubertär-euphorische Aufbruchstimmung. Und wie das in der Pubertät so geht, unterschätzten viele die Eigendynamik menschlicher Begegnungen und überschätzten ihre eigenen Fähigkeiten, sie angemessen zu gestalten.

      Pointiert gesagt: So wie das Ordenshaus mit Chorgebet und klösterlicher Lebensordnung als Hort von Regeln und Ge- und Verboten erlebt und als lebenseinschränkend erfahren wurde, so war das Bildungshaus mit Sensitivity- und Encounter-Gruppen, Gruppendynamik und Gestalttherapie der Hort von Freiheit und neuen Erfahrungen, auch von kalkulierten oder in Kauf genommenen Grenzerweiterungen und -überschreitungen. »Ich habe hier Gefühle entdeckt, von denen ich gar nicht wusste, dass es sie gibt, geschweige dass ich sie habe«, sagte ein Priester nach einem fünftägigen Selbsterfahrungsseminar.

      Unterdessen herrscht im fachlichen Wissen und praktischen Verhalten nicht mehr so viel Unkenntnis, Unsicherheit und Verdrängung wie bis zur Aufdeckung der Missbrauchsfälle. Präventionskonzepte sind bzw. werden etabliert. In Seelsorgsbeziehungen achten Priester und Mitarbeiter auf Distanz. So ist die derzeitige Situation im deutschsprachigen Kulturraum gekennzeichnet durch Vorsicht und Wachsamkeit.

      Gewiss ist noch viel zu tun an weiterer Aufklärung, Genugtuung, vielleicht Versöhnung. Aber einiges ist auch erreicht worden. Seit die sexuellen Übergriffe auf Schutzbefohlene in kirchlichen Einrichtungen in Deutschland im Frühjahr 2010 öffentlich geworden sind, hat die katholische Kirche sich mit den Ursachen auseinandergesetzt. Sie hat sich bemüht, auf die Opfer zu hören und die vorherrschende Täterperspektive zu verlassen und die Realität ohne Scheuklappen zu sehen. Vermutlich wird es auch in Zukunft sexuelle Übergriffe gegenüber Kindern und Jugendlichen geben. Dass »das Übel sexueller Gewalt aus der Kirche ein für alle Mal ausgerottet wird«, wie es in den vergangenen Jahren gelegentlich gefordert wurde, ist wohl ein frommer Wunsch, der ebenso verständlich wie leider unrealistisch ist. Aber Opfer werden doch schneller Gehör und Hilfe finden. Überall da, wo Erwachsenen Kinder anvertraut sind – in Schulen und Sportvereinen, Jugendeinrichtungen und Pfarreien und auch in Familien –, beginnen folgende Veränderungen zu greifen:

      1. Klare Strukturen: Die Erfahrungen der Vergangenheit zeigen, dass das Aufdecken sexuell motivierter Übergriffe oftmals durch unklare Strukturen erschwert, wenn nicht verhindert wurde. Am Berliner Canisiuskolleg meldeten sich in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts Schüler beim damals amtierenden Rektor, um ihm von Übergriffen eines Lehrers zu berichten. Der Rektor, ein integrer Mann, der persönlich über alle Zweifel erhaben war, wies die Schüler mit der Bemerkung »ihr lügt« vor die Tür. Es war schlicht jenseits seines Vorstellungshorizontes, dass an seiner Schule so etwas wie sexuell motivierte Gewalt überhaupt denkbar wäre. Personenunabhängige Beschwerdestrukturen gab es damals nicht. Die Jugendlichen blieben allein.

      2. Geschulte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: Als junger Jesuit machte ich 1976–1977 ein pädagogisches Praktikum. Ein Jugendlicher zog mich ins Vertrauen und erzählte, der Pater X. habe »Sex mit einem Jungen gehabt«. Ich weiß noch genau, welchen Mut es mich kostete, als 24-Jähriger den betreffenden Mitbruder damit zu konfrontieren. Seiner Antwort »Da ist absolut nichts dran« habe ich geglaubt. Dass sexuelle Grenzverletzungen fast immer mit einer massiven Realitätsverleugnung verbunden sind, wusste ich damals noch nicht. Dass es im eigenen Orden überhaupt zu so massivem Fehlverhalten kam, war damals jenseits meines Vorstellungsvermögens. Mir war damals auch nicht klar, dass es sich hier um einen Hilferuf nach einer erlittenen Straftat handelte.

      Inzwischen werden angehende Seelsorger und Pädagogen geschult, hinzuschauen und die richtigen Fragen zu stellen. Solche Fortbildungen gehören zum Standard in der Ausbildung von Jugendseelsorgern und Pädagogen.

      3. Offene Kommunikation: Notwendig in Familie, Schule, Kinder- und Jugendarbeit, Kirche und Sportverein – überhaupt in allen Feldern, in denen Erwachsene mit Kindern und Jugendlichen in Abhängigkeitsbeziehungen zu tun haben – ist die direkte Auseinandersetzung mit dem Thema »sexueller Missbrauch«. Das bedeutet nicht nur eine akademische, sondern auch eine persönliche und erfahrungsbezogene Auseinandersetzung. Notwendig ist ein Klima offener Kommunikation.

      Das heißt nicht, dass alles und jedes mit jedem geteilt wird. Aber Tabu-Themen schaden der Kommunikation. Und wie soll jemand über seine Fragen und auch Verletzungen sprechen können, wenn die Möglichkeit sexueller Grenzüberschreitungen nicht thematisiert wird?

      4. Erprobte Präventionskonzepte: Inzwischen haben viele Schulen, Internate und Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit Präventionskonzepte erarbeitet. Es gibt in den Bistümern und Ordensgemeinschaften Ansprechpersonen bei Fällen von Verdacht auf sexuell motivierte Übergriffe, deren Namen und Kontaktdaten veröffentlicht und bekannt sind. Sie arbeiten unabhängig

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