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verliert, woraus die Fehlhaltungen entstehen. Nach der christlichen Lehre werden die Fehlhaltungen als die „Sieben Todsünden“ benannt. Um der Zahl des Enneagramms zu entsprechen, mussten zwei hinzugefügt werden: die Angst und die Täuschung.44 „Ichazo verfolgte die Vorstellungen über die neun göttlichen Eigenschaften von der mittelalterlichen Literatur – u. a. Chausers Canterbury Tales und Dantes Purgatorio – bis zu den Wüstenvätern des vierten Jahrhunderts, von denen der Begriff der Sieben Todsünden stammt, und zum antiken Griechenland zurück.“45

      In der weiteren Entwicklung des Enneagramms spielte Claudio Naranjo eine große Rolle. Naranjo ergänzte sein Wissen über die modernen Persönlichkeitstypen mit dem des Enneagramms und entwickelte daraus die Typenlehre des Enneagramms. Der Chilene benutzte sein psychiatrisches Wissen und ergänzte damit die Entwürfe Ichazos zu einer vollständigen Form.46 „Seit den grundlegenden Arbeiten Ichazos und Naranjos haben viele Menschen, unter anderem die Autoren [Riso/Hudson] das Enneagramm weiterentwickelt und an ihm viele neue Facetten entdeckt.“47 Besonders die Ordensleute der Gesellschaft Jesu, die Jesuiten, spielten eine große Rolle in der Entwicklung und Nutzung des Enneagramms: Zu nennen ist hier vor allem Don Richard Riso, der selber Jesuit und von ihnen geprägt war. Eine seiner Beiträge ist die Feststellung der Entwicklungsstufen.48 Über die Arbeit Naranjos und ihre Verbindung mit der ‚jesuitischen Tradition’ schreibt Johannes Bartels:

      Es war der chilenische Psychiater Claudio Naranjo, der im Anschluss an das Arica-Training in Chile ab 1971 die ersten Enneagramm-Kurse auf nordamerikanischem Boden veranstaltete. Einer der Teilnehmer war der Jesuit Robert Ochs. Ochs, der in dieser Lehre Elemente der Wüstenväter-Tradition der kapitalen Leidenschaften wiedererkannte, sah darin eine Möglichkeit, die christliche Lehre der Heiligung zu konkretisieren. Er übersetzte Naranjos Lehre in die Sprache jesuitischer Theologie und begann im selben Jahr, das Enneagramm im Rahmen seiner Lehrtätigkeit an der Loyola-Universität in Chicago zu vermitteln.49

      In seiner Würdigung der Leistung der Jesuiten nennt Bartels die Veröffentlichung des Werkes („Das wahre Selbst entdecken – eine Einführung in das Enneagramm 1984“) des Jesuitenpater Patrick O’Leary, der Dominikanerin Maria Beesing und von Pater Robert J. Nogosek von der Kongregation vom Heiligen Kreuz. Nach Bartels leistet die Arbeit der drei Autoren einen zweifachen Beitrag zum Enneagramm: Als Erstes zu nennen ist die erstmalige schriftliche Fixierung des Enneagramms, in der einige wichtige Aspekte des Enneagramms enthalten waren, u.a. die Triaden-Theorie, die Zentral- und Seitenpunkte und die Pfeiltheorie.50 Ein zweiter Beitrag ist der Versuch der Autoren, das Enneagramm, das seiner Geschichte nach nicht nur christliche Eigenschaften hat, sondern sein Wissen von anderen Quellen speist, theologisch ‚akzeptabel’ zu machen. In ihrer Arbeit mit dem Enneagramm, und besonders in ihrem Buch „Das Enneagramm, die 9 Gesichter der Seele“, haben auch Rohr/Ebert das Enneagramm im Licht des christlichen Glaubens dargestellt und neu interpretiert. Sie benutzen in diesem Zusammenhang den Begriff der „Taufe51 des Enneagramms. Dies beinhaltet die Betrachtung des Enneagramms nicht im Sinne eines Selbsthilfeinstruments wie bei Gurdjieff oder Ichazo, und auch nicht wie in vielen Enneagramm-Büchern, die das Enneagramm als eine Technik darstellen, die das Bewusstsein steigert, sondern als Weg der Selbstbeobachtung oder Selbstreflexion, der dem Menschen seine ‚Erlösungsbedürftigkeit’ und Angewiesenheit auf die Gnade Gottes bewusst macht.52 In diesem Sinne fasst Bartels zusammen: „Durch seine ‚Taufe’ hat sich das Enneagramm zugleich vom esoterischen Heilsweg zum sünden- und bußtheologischen Instrument der Selbsterkenntnis gewandelt.“53

       1.2. Einordnung in die christliche Tradition

      Obwohl das Enneagramm der Persönlichkeitstypen eine ‚Entwicklung’ unserer Zeit ist, liegen seine Wurzeln in einer Vergangenheit, die als ‚bruchstückhaft’ gesehen werden darf.

      Ebert beschreibt seinen Aufsatz in der internationalen amerikanischen Enneagramm-Zeitschrift „Enneagram Monthly“ (März 1996) unter dem Titel „Are the Origins of the Enneagram Christian at all?“ wie seine ‚Suche’ nach einer christlichen Quelle des Enneagramms eine Antwort zum Teil in Evagrios Pontikos’ Schriften findet. Unabhängig von ihm sei auch Lynn Quirolo zur gleichen Feststellung gelangt. Ihr Aufsatz erschien in der gleichen Zeitschrift in zwei Teilen unter dem Titel ‚Pythagoras, Gurdjieff and the Enneagram‘.54 In Eberts deutscher Version des Artikels, der im Rundbrief55 der ÖAE (Ökumenischer Arbeitkreis Enneagramm e.V.) unter dem Titel „Hat das Enneagramm doch christliche Wurzeln?“ erschien, schreibt er:

      In keiner anderen schriftlichen Quelle finden sich Einsichten, die so frappierend nah am Enneagramm sind, wie in den Schriften des Evagrios, […]. Könnte er so etwas wie der eigentliche ‚Erfinder’ des Enneagramms sein? Ich bin jedenfalls überzeugt, dass die Übereinstimmungen zwischen ihm und dem Enneagramm nicht bloß zufällig sind.56

      Weiter vergleicht er die Lehre Evagrios’ mit den grundlegenden Enneagramm-Kenntnissen, besonders denen der Leidenschaften (Hauptsünden) und Tugenden und sogar denen der Zahlen und Symbole. Aufgrund dieser Nähe von Evagrios’ Lehre zum Enneagramm sind Rohr/Ebert von den christlichen Wurzeln des Enneagramm überzeug.t: „Wir sind inzwischen überzeugt, dass das Enneagramm nicht aus mittelalterlichen islamisch-sufistischen Quellen stammt, sondern im Wesentlichen auf den christlichen Wüstenmönch Evagrius Ponticus (gestorben 399) zurückgeht.“57 Rohr/Eberts Aussage könnte dazu verleiten, zu behaupten, dass die christlichen Wurzeln des Enneagramms ‚primär’ auf Evagrios festgelegt werden können. Aber in ihrer Aussage wird der Begriff ‚im Wesentlichen’ im Sinne von ‚bedeutend’ verwendet. Vorausgesetzt, dass Evagrios’ Beitrag darin besteht, die Lehre der Leidenschaften und Tugenden verschriftlicht und systematisch kategorisiert zu haben, ist Rohr/Eberts Schlußfolgerung richtig. Denn dieses Wissen stammt nicht von ihm, sondern – wie er immer wieder betont hat – von den ‚Vätern’, die vor ihm kamen.58

       1.3. Mönchtum (Wüstenväter und -mütter)

      Damit die Lehre des Evagrios für die heutige Zeit als relevant erachtet werden kann, ist es notwendig, seine Lehre mit den Umständen, in denen er gelebt hat, in Verbindung zu bringen. Im gleichen Sinne sieht der Benediktinermönch und Autor etlicher spiritueller Bücher, Pater Anselm Grün, das Zeugnis der Wüstenväter und -mütter als etwas Wertvolles für die heutige Zeit an. In seinem Büchlein „Der Umgang mit dem Bösen“ schildert er das Phänomen des Bösen am Beispiel des altkirchlichen Umgangs mit dem Thema. Grün sieht besonders die Lehre des Evagrios (und anderer Mönchsväter und -mütter) über die Leidenschaften und den Umgang mit ihnen als eine große Hilfe für das geistliche Leben jeder Person an. Nach ihm gelten die Erfahrungen, welche die Männer und Frauen in der Wüste gemacht haben, als beispielhafte Wegweiser für uns. Denn aus diesen Erfahrungen können wir unsere eigenen Erfahrungen neu interpretieren und daraus Kraft schöpfen, um den Kampf mit den Mächten unserer Zeit, die uns herausfordern, innerlich belasten und krank machen, aufzunehmen.59

       1.4. Evagrios Pontikos

      Evagrios wurde im Jahr 346 n. Chr. in der kleinen pontischen Stadt Ibora geboren, im Norden der heutigen Türkei. Er stammte aus einer religiösen Familie. Sein Vater war Presbyter. Das Amt des Vaters wird jedoch von verschiedenen Autoren unterschiedlich angegeben, zum Beispiel als Chorbischof oder Chorepiscopus, Landbischof. Gewiss ist, dass er im kirchlichen Dienst tätig war und durch Basilius60 dem Großen dazu kam.61 Über Evagrios’ Jugendjahre und Ausbildung ist wenig bekannt. „Denkbar ist, dass er im kappadokischen Caesarea studierte, das für seine Schulen bekannt war.“62 Von den bekannten Daten sind es die „großen Kappadokier“ (vor allem Basilius, der ihn zum Lektor weihte, und Gregor von Nazianz, dem er sich nach Basilius’ Tod anschloss und von dem er mit 34 Jahren zum Diakon geweiht wurde), die den größten Einfluss auf ihn hatten.63

      Sein

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