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3: Ebstorfer Weltkarte, Ausschnitt: unter der stark vergrößerten Insel Reichenau (im Wasser-Kreis mit drei Klosterzellen) entlang des Rheins Worms, Mainz (an der Mainmündung) und Koblenz; die Stadtvignetten stehen auf dem Kopf.

      Ausgerechnet durch diese sakralen Zentren, an denen die kirchliche und weltliche Ordnung dargestellt, begründet und durchgesetzt wurde, führt die Legende den Lebensweg des Pilatus. Rom selbst, das Haupt des ganzen Reiches, ist Schauplatz für seinen Selbstmord, die einzige Sünde, die Gott nicht vergeben konnte. Ein tiefer Zwiespalt der christlichen Kaiseridee wird damit sichtbar: Einerseits Heilsinstrument und Gottesstaat, war das römische Reich andererseits doch irdisches Menschenwerk. Auch hierzu liefert die Symbolik des in Mainz begangenen Brudermords den Schlüssel: Gemäß der Lehre des Kirchenvaters Augustin war der Brudermord Zeichen für die Heillosigkeit aller weltlichen Herrschaft, die nicht auf den Geboten Gottes gründete. Kain, der seinen Bruder Abel erschlug, war der erste Bürger des irdischen Staates, jener verruchten „Civitas terrena“, die Augustin der von metaphysischer Gerechtigkeit gelenkten „Civitas Dei“, der Gemeinschaft der Frommen, gegenüberstellte. Wer nur nach den Gütern dieser Welt strebte, so glaubte Augustin, war zu einem friedlichen Zusammenleben mit anderen unfähig, was am Ende zur Zerstörung jeder staatlichen Ordnung führen müsse. Auch Rom war auf einem Brudermord begründet worden und den Gesetzen des irdischen Staates unterworfen. Er lebte weiter in jenen Menschen, die wie Pilatus Stolz und Machtstreben gegenüber Gott den Vorrang gaben.14

      Ein Gelehrter des 13. Jahrhunderts sagt über Pilatus, er habe sich mehr gescheut, seine Herrschaft (principatum) zu verlieren, als den obersten Herrscher zu verurteilen, durch den alle Fürsten regieren (per quem omnesprincipes imperant15). Diesen paradoxen Gedanken entfaltet die Legende in einer weltumspannenden Symbolsprache, in der sich wilde Phantasie und philosophische Tiefe untrennbar verschlingen. In dieser Welt ist die Mainzer Abstammung des Pilatus wahr.

       II. Sage

      Zu den Kennzeichen der Legende gehören besonders in ihrer frühen Fassung die über den gesamten Text verteilten, aus heutiger Sicht oft abenteuerlichen Deutungen der Eigennamen. Selbst der Name des Pilatus wird diesem Verfahren unterzogen und als Zusammensetzung aus „Pila“ und „Atus“ erklärt. In gewisser Weise ist die gesamte Kindheitsgeschichte des Pilatus aus dem Motiv der Namengebung entwickelt – aber auch durch sie beglaubigt. Denn was den heutigen Leser wie eine naive Volksetymologie anmutet, hat für ein mittelalterliches Publikum durchaus Plausibilität: Es entsprach dem damals noch verbreiteten germanischen Brauch, aus dem Namenbestand der väterlichen und mütterlichen Verwandtschaft eines Kindes durch eine sogenannte Sippenkombination den neuen Namen zu bilden. Sehr bald wird deshalb auch der Königsname „Tyrus“ aus der Überlieferung verdrängt, indem der Großvater aus der Namenfindung ausscheidet und bereits Pilatus’ Vater Atus heißt. Auf diese Weise sind tatsächlich beide Sippen, die väterliche und die mütterliche, im Namen des Protagonisten vereinigt.16

      Schon eine noch im 12. Jahrhundert entstandene Versbearbeitung17 der Legende überträgt diese Methode von der genealogischen auf die geographische Herkunft des Pilatus:

       Urbs fuit insignis, veteres hanc constituere;

       Moganus atque Cia fumen rivusque dedere

       Nomen et inde fuit primum Moguncia dicta

      Nomine composito; non est assercio ficta.

      (v. 23–26)

      „Es war eine berühmte Stadt, die Altvorderen haben sie erbaut. Moganus und Cia, Fluss und Bach, gaben ihr den Namen, und so wurde sie mit zusammengesetztem Namen ursprünglich Moguncia genannt. Das ist keine Erfindung!“

      Die Erklärung des Stadtnamens Moguncia aus dem Zusammenfluss der beiden Gewässer Main (Moganus) und Zaybach – er ist mit dem „rivus Cya“ gemeint - erlaubt zugleich einen Rückblick auf die Entstehung der Stadt. Viele Stadtchroniken arbeiten mit solchen ätiologisch ausgerichteten Etymologien. Im Mittelalter galt diese Form der sprachlichen Analyse als rhetorisches Verfahren zur Wahrheitsermittlung. Mit seiner Hilfe öffnet sich die Pilatuslegende ansatzweise einer anderen, benachbarten Gattung historiographischer Literatur: der Gründungssage.

      Ganz andere Interessen hat eine etwa gleichaltrige mittelhochdeutsche Versdichtung über das Pilatusleben. Das nur fragmentarisch und anonym überlieferte Werk, allgemein um 1200 datiert18, stellt wohl die eigenwilligste Bearbeitung des Stoffes dar. Im Anschluss an die „Historia apocrypha“ ist hier der noch mit seinem alten Namen genannte Tyrus König ze Megenze (v. 178) und herrscht über ein Gebiet, das durch die drei Flüsse Mâse Moyn unde Rîn (v. 181) umgrenzt wird. Jagd und Sternkunde, Motive, die durch die Handlungsführung vorgegeben sind, erscheinen zugleich als Ausweis höfisch-adliger Lebensführung. Auch die Astronomie, die als Kunst der fursten unde frîen (v. 228) vorgestellt wird, wird sozial verortet: edele lûte wolgeborn hêten dî kunst ûz irkorn („auserkoren“, v. 229f).

      Stärker als in der „Historia“ ist der Akzent, der auf der Bedürftigkeit der Mutter liegt: Tief im Wald bewohnen Pila und ihr Vater Atus eine moosige Hütte, ein arm heimûte (v. 271). Von armûte in die wûstene getriben (v. 272f), bilden sie ein krank gesinde (v. 275). Der neugeborene Knabe selbst aber ist von ausnehmend edler Gestalt. Seine Schönheit verheißt ihm gar ein crône unde ein cunicrîche (v. 316f). Schon bald werden seine hohen Anlagen deutlich, die ihn zum Erwerb von zuht, […] prîs unde […] êre (v. 354f) befähigen. Die Darstellung der „Historia“ wird dabei nachdrücklich umakzentuiert: Pilatus ist es, der seinen Halbbruder an ritterlichen Tugenden und Erfolgen, an „Geschick und Gewandheit, an Schönheit und Anstand“ (v. 364f) überflügelt: mit grôzer unmâze ubirginc in sîn craft (v. 366f).

      Damit ist zugleich das geistliche Deutungsmuster des Brudermordes aufgegeben, das Verhältnis der Brüder völlig anders konzipiert. Neid, der in der lateinischen „Historia“ den Gottesfeind anstachelt, herrscht in der mittelhochdeutschen Dichtung auf beiden Seiten. Der eheliche Sohn neidet Pilatus seine ritterliche Überlegenheit, dieser jenem den gesellschaftlichen Status, denn der edlere erreicht viel mehr durh frûnt unde mâge (Freunde und Verwandte, v. 376f). Der legitime Königssohn stützt sein Ansehen auf das weit verzweigte Beziehungsnetz, das die vornehme Welt ihren Angehörigen zur Verfügung stellt, Pilatus dagegen kann nur auf seine persönliche Leistungskraft bauen. Im Streit der Brüder geht es also um nichts Geringeres als um die Legitimation der Ständeordnung: des quam (kam) an dî wâge disses tugint, ienisgebort (v. 378f). Tugendadel steht gegen den Vorrang der Geburt. Die Art und Weise, wie die Brüder schließlich ihren Konflikt austragen, spiegelt diesen Gegensatz: Bei einem gemeinsamen Ausritt greift der edele (v. 390) im Vertrauen auf sein großes Gefolge Pilatus an: der widerstand alleine den andren algemeine (v. 395f). Seine sterke (v. 394) trägt Pilatus den Sieg ein; unmut (v. 392) lässt ihn jede Rücksichtnahme vergessen: dem brudere er den lîb nam (v. 399).

      Seine Sympathie für den Helden behält der Erzähler im gesamten überlieferten Text bei, der mit der Unterwerfung der Pontier allerdings abbricht, bevor es zum Eingreifen des Pilatus in die biblische Geschichte kommt. Zentrale Bedeutung erhält dabei die mit geradezu programmatischem Nachdruck verkündete Idee des Tugendadels. Sie ist kennzeichnend für das in der volkssprachigen Epik des 12. Jahrhunderts allenthalben verbreitete Leitbild des Rittertums, das einem neuen Literaturpublikum aus Laien und Kriegern als kulturelles Orientierungsangebot dienen sollte. Im Falle des Pilatuslebens nimmt es eine besondere Färbung an: tugint stellt im Sprachgebrauch der Dichtung keine moralische Qualität, etwa im kirchlichen Sinne, dar, sondern bedeutet physische Überlegenheit, manheit (v. 391) und sterke. Indem Pilatus allein gegen die Übermacht der Anhänger seines Bruders siegreich bleibt, erweist er sich als der überlegene Kämpfer. Hinzu tritt allerdings auch höfische Vornehmheit, vôge (Geschick) und gwande (Gewandheit, v. 364). Damit deutet sich an, dass es nicht allein um das Ausspielen von Körperkraft geht, sondern außerdem um ästhetische Verfeinerung und Stilisierung des Auftretens, um Selbstdarstellung vor einem öffentlichen Forum. Dieses repräsentative Element verweist auf den Hof als Betätigungs- und Bewährungsfeld eines Rittertums,

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