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Ausbildungs- oder Studienplatzwahl, Berufseintritt oder Familiengründung; die Mehrzahl der Migranten sind folglich Jugendliche und junge Erwachsene.

      Ein Großteil der weltweiten Bewegungen findet nicht deshalb statt, weil Menschen im Elend leben und dem zu entfliehen suchen. Unzählige Forschungsergebnisse machen vielmehr deutlich, dass Armut und Not die Handlungsmacht von Menschen beschränkt, Migration behindert oder sogar verhindert. Ein großer Teil der Menschen in den ärmsten und armen Gesellschaften der Welt kann keine Bewegung über größere und große Distanzen absolvieren, weil Migrationsprojekte immer kostspielig sind.

      Darüber hinaus sind elementare Ressourcen vieler Menschen lokal gebunden, sodass die Möglichkeiten einer (zumal dauerhaften) Abwanderung vielfach eher gering bleiben: Das gilt für Bodenbesitz ebenso wie für Qualifikationen oder Bildungsabschlüsse, die nur im Herkunftsland anerkannt werden. Hinzu treten soziale Bindungen vor Ort: Sind die persönlichen Netzwerke eines Menschen vornehmlich lokal verankert, ist eine Migration unwahrscheinlich. Weltweit betrachtet, ist der Umfang der translokalen verwandtschaftlich-bekanntschaftlichen Netzwerke gering und damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass räumliche Bewegungen stattfinden.

      2017 gab es nach Angaben der UN weltweit 258 Millionen Menschen, die seit mehr als einem Jahr in einem Staat lebten, in dem sie nicht geboren worden waren. Das mag als viel erscheinen, entsprach aber nur einem Anteil von 3,4 Prozent der Weltbevölkerung.

      Entwicklungszusammenarbeit kann das Ziel verfolgen, Notlagen zu beseitigen, die Gesundheitsversorgung zu verbessern, den Bildungssektor zu stärken, die wirtschaftliche Produktion zu erhöhen, internationale Wettbewerbsfähigkeit herzustellen und Rechtssicherheit zu verbessern. Aber sie wird nicht substantiell dazu beitragen können, dass Menschen die Vorstellung verlieren, andernorts gäbe es für sie Chancen, die sie durch Bewegungen im Raum für sich erschließen können. Wäre Migration ein soziales Phänomen, das nur aus der Not geboren ist, gäbe es nicht die umfangreichen Bewegungen zwischen den Staaten des reichen globalen Nordens der Welt.

      Die Fokussierung vieler Debatten um globale Fluchtbewegungen auf die „Bekämpfung von Flucht- und Migrationsursachen“ könnte mithin die Entwicklung von Ideen und Maßnahmen be- oder verhindern, Schutzregime zu verbessern. Und sie könnte Entwicklungszusammenarbeit, noch stärker als es ohnehin schon gilt, auf die Interessen ausschließlich der „Geberländer“ ausrichten. Ein erfolgversprechendes globales Zukunftskonzept wäre das nicht.

      LITERATUR

      Oltmer, Jochen, Globale Migration. Geschichte und Gegenwart, München32016.

      Ders., Migration. Geschichte und Zukunft der Gegenwart, Darmstadt 2017.

       Migration als Zeichen der Zeit

      Die Replik von Regina Polak auf Jochen Oltmer

      Wie würde wohl ein/e Migrationsforscher/in aus dem arabischen oder afrikanischen Raum die Politik der EU im Kontext von Migration und Flucht beschreiben? Jochen Oltmer deutet den Ausfall der Migrant/innenperspektive in seinem Beitrag selbst an: Diskutiert wird die Thematik über, selten mit Migrant/innen. Auch die Bekämpfung der Fluchtursachen konzentriert sich auf die Interessen der „Geberländer“. So könnte man denn – wenn man etwas Kontroversielles in seiner exzellenten migrationsforscherischen Analyse suchen wollte – nachfragen, ob denn nicht auch in seinem Beitrag der von ihm zu Recht kritisierte „hermetische“ Charakter dominiert. Er ist aus der (Vogel)Perspektive der Mehrheitsgesellschaften der Aufnahmeländer geschrieben. Auch wenn Oltmer mit der Forderung nach der Optimierung der Schutzregime und seiner Kritik an unzulänglichen Deutungen der Fluchtursachen an die Migrant/innenperspektive erinnert, erfahren wir doch wenig, was die Flucht- und Emigrationsländer selbst als tatsächlich hilfreich von Europa erwarten würden. Deren Positionen strukturell und institutionalisiert in den Aushandlungsprozess miteinzubeziehen, ist für mich die zentrale Schlussfolgerung aus Oltmers Beitrag. Für eine/n Österreicher/in ist dies freilich derzeit eine naive Utopie: Die aktuelle österreichische Regierung bekämpft eher Flüchtlinge als Fluchtursachen.

      „Weltvergessen“, „geschichtsblind“ und „kontextarm“ ist auch der Migrationsdiskurs hierzulande und in weiten Teilen Europas. Die Forderungen, die Oltmer implizit formuliert – nach den Gründen für die höchst heterogenen Positionierungen gegenüber Zuwanderung zu fragen – sind Schlüsselfragen, die unbedingt interdisziplinär erforscht und öffentlich wie politisch breit diskutiert werden müssen.

       BIBELTHEOLOGISCHE PERSPEKTIVE

      Als Theologin finde ich es dabei höchst spannend, was eine bibeltheologische Perspektive zu diesen Fragestellungen in die Debatte einbringen kann. Selbstverständlich kann man aus dem biblischen Befund keine unmittelbaren Lösungen für die Aushandlungsprozesse rund um eine zeitgerechte globale Migrationspolitik ableiten, zu anders und komplex sind in einer globalisierten Welt die situativen Kontexte. Dafür benötigen Theolog/innen die Kooperation mit Migrationsforschern wie Jochen Oltmer. Aber im Unterschied zu Ansätzen wie dem seinen verfügen biblisch fundierte Migrationstheologien über die Möglichkeit ethischer und politischer Kriteriologien. Viele der normativen Konzeptionen, die (quasi unausgewiesen im Hintergrund) den Bewertungen Oltmers zugrunde liegen – wie das Rechtflüchtender Menschen auf Würde und Schutz, die Forderung nach einer universal-ethischen Perspektive, die Verpflichtung zur Erforschung und dem Ringen um ein differenziertes Verständnis der historischen, soziopolitischen, sozioökonomischen und soziokulturellen Ursachen für Flucht und Migration – sind auch Normen biblischer Migrationshermeneutik.

      Nicht nur das: Diese Normen wurden von Deportierten, in Sklaverei, Fremdherrschaft und Exil bzw. Diaspora lebenden Flüchtlingen und Migrant/innen den eigenen Erfahrungen als Fremde, gleichsam ex negativo, abgerungen, um fortan solche Katastrophen zu vermeiden. Gegen die „Weltvergessenheit“, die man auch als Tribalismus bezeichnen könnte, entwickeln biblische Migrant/innen die Idee der Einheit der Menschheit, zu der alle Völker ebenso gehören wie die sogenannten „Fremden“; gegen die „Geschichtsblindheit“ die Verpflichtung zur Erinnerung, v. a. an Gewalt, Leid und Tod; und gegen die „Kontextarmut“ werden im Zeichen von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit schrittweise religiöse und soziale Gesetze entwickelt, die Maß an den Ärmsten nehmen. Migration hängt – säkular gesprochen – immer eng mit Fragen nach sozialer Gerechtigkeit, Identität und Zugehörigkeit sowie Sinnstiftung zusammen. Die Migrationserfahrungen als zentrales Element wesentlicher Texte im Alten Testament werden also zum Lernort von Glaube und Politik. Sie belegen, wie unverzichtbar die Perspektive von Migrant/innen ist. Diese wissen selbst am besten, was sie brauchen.

      Gleichwohl ist die Situation heute weitaus schwieriger. Oltmer macht eindrücklich deutlich, dass Menschen gerade nicht aus Armut fliehen, sondern von der Vorstellung getrieben sind, „andernorts gäbe es Chancen für sie“.

      Theologisch könnte man dies die berechtigte Sehnsucht nach dem guten, dem besseren Leben nennen, das sich durchaus auch materiell konkretisieren darf und muss. Aber ganz so idyllisch ist die Lage dann doch nicht. Der britisch-indische Essayist Pankaj Mishra zeigt in seinem Buch „Das Zeitalter des Zorns“ (4. Auflage, 2017), dass weltweit Millionen junger Menschen gleichsam „infiziert“ von den Ideen und (nicht nur geistigen) Werten des Westens „mehr Sehnsüchte und Träume von Freiheit, mehr Unzufriedenheit mit politischen Systemen und Wünsche nach Demokratie, mehr Nachfrage und Ansprüche nach materiellen Statussymbolen haben, als sich im Zeitalter der Freiheit und des globalen Unternehmertums legitim und verantwortet verwirklichen lassen“. Dies aber produziert nicht nur Hunderte Millionen zur Überflüssigkeit Verdammte, sondern auch eine umfassende und apokalyptische Empörung, „wie wir sie hier im Westen noch nie erlebt haben“. Mishra fordert daher ein wahrhaft verändertes Denken über das Ich und die Welt.

       IN DER MIGRATIONSPOLITIK DOMINIERT DIE NÜTZLICHKEIT

      Dies aber ist eine Rückfrage an Europa mit seinen derzeitigen praktischen Monopolen auf Freiheit, Demokratie und Wohlstand. Eine überaus schmerzhafte Rückfrage, die zu Umkehr auffordert. Solch ethische Schlussfolgerungen kann ein sozialwissenschaftlich und historisch orientierter Migrationsforscher schwer formulieren. Er müsste die Prinzipien seiner politischen Ethik ausweisen. Sie schlummern

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